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E-Book

Aus Liebe loslassen

Das kurze Leben meines kleinen Sohnes

AutorMonica Wesolowska
VerlagPatmos Verlag
Erscheinungsjahr2014
Seitenanzahl190 Seiten
ISBN9783843604918
FormatePUB
KopierschutzWasserzeichen
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis15,99 EUR
Nur wenige Stunden nach der Geburt stellt sich heraus, dass der kleine Silvan eine schwere Hirnschädigung hat. Wird er je selbstständig schlucken, laufen oder ein Bewusstsein entwickeln? Die Eltern ringen mit ihrer Verzweiflung und ihrer Hoffnung für dieses Neugeborene. Was bedeutet es, ein Kind zu lieben, das nur mithilfe der Apparatemedizin am Leben gehalten wird? Die Liebe zu ihrem Sohn führt die Eltern schließlich zu einer schweren Entscheidung: Das Baby soll nicht länger künstlich ernährt werden, sondern sterben dürfen. Eine außergewöhnliche und berührende Geschichte über Mut und Verzweiflung, über Entscheidungen an den Grenzen des Lebens und ganz besonders über eine Liebe bis in den Tod - und darüber hinaus.

Monica Wesolowska ist erfolgreiche Autorin von Belletristik, Sachbüchern, literarischen Essays und Gedichten. Ihr Werk wurde in verschiedenen amerikanischen Literaturzeitschriften und Anthologien veröffentlicht. Sie lebt mit ihrem Mann und ihren beiden kleinen Söhnen in Berkeley, Kalifornien.

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Leseprobe

Die Geburt


Am Morgen klingelt das Telefon neben meinem Krankenhausbett. Nachdem ich mir den Schweiß und das Blut der gestrigen Geburt von der Haut geschrubbt habe, trete ich aus der Dusche und schiebe mich an David vorbei, um meinen alten Morgenrock anzuziehen und zum Telefon zu gehen. Ich mache mir keine Sorgen. Ich erwarte eine weitere Freundin, eine Verwandte, mehr Gratulationen, die zu der plötzlichen Freude über mein Baby passen – einem gesunden, nach der vollen Schwangerschaftszeit geborenen Jungen, der mich im Säuglingssaal erwartet –, aber die Frau am anderen Ende der Leitung ist eine Fremde.

»Hallo, meine Liebe«, sagt die Fremde mit heiserer, beruhigender Stimme. Sie ruft aus einem anderen Krankenhaus an. Sie sagt, sie müsse vor der Verlegung irgendeine Verwirrung wegen der Schreibweise meines Namens ausräumen. Auch ich bin verwirrt. Als ich der Fremden sage, dass ich sie nicht verstehe, dass ich gerade den Flur hinuntergehen wollte, um mein Baby abzuholen, weil es Zeit zum Stillen sei, sagt sie: »Es tut mir so leid, dass ich diejenige bin, die es Ihnen sagen muss, meine Liebe.«

Bei diesen vagen, aber liebevollen Worten beginnt der verzückte Glanz der Mutterschaft, der mich seit Silvans Geburt umgeben hat, zu verblassen.

Ein Krankenwagen wartet; die Verlegung erfolgt jede Minute. Noch immer in meinen schmutzigen Morgenrock gehüllt, mit dem steifen Fleck von getrocknetem Blut auf dem Rücken, öffne ich die Badezimmertür und versuche David, der im Dampf unsichtbar ist, die Worte der Fremden zu übermitteln. Obwohl David mir seit der Geburt gesagt hat, dass er sich Sorgen wegen Silvan macht, habe ich sie samt und sonders als bloße Symptome frischer Vaterschaft abgetan.

»Warte auf mich«, sagt er und dreht das Wasser ab, aber das ist ausgeschlossen.

Wenn ich könnte, würde ich zu meinem Sohn fliegen.

Im Säuglingssaal umstehen fünf Leute Silvans Bett. Fünf Leute. Dies ist das »Transportteam« des Babys, wie jemand es ausdrückt – zwei Leute, um das Bett zu rollen, einer als Fahrer und noch zwei »nur für den Fall«. Für welchen Fall? In der Nacht, als die Assistenzärztin mir Silvan weggenommen hatte, weil er einfach nicht aufhören wollte zu schreien – maunzte wie ein Kätzchen, piepte wie ein Vogel –, wollte sie nur, dass ich schlafe. Sie hatte versprochen, ihn zurückzubringen, wenn es Zeit zum Stillen wäre. Selbst als sie ein paar Stunden später zurückkam, um mir zu sagen, dass sie Silvan »zur Beobachtung« dabehalten müssten, hatte ich nicht angefangen, mir Sorgen zu machen. Ich war zu müde, zu glücklich. Ich hatte mich aufgerafft und war hinunter zum Säuglingssaal gegangen, um zu sehen, weswegen sie besorgt waren – süße kleine, sich windende Fäuste, was sie Krampfanfälle nannten. Ich hatte Silvan im Arm gehalten, bis ich dachte, ich würde ohnmächtig werden, und war dann ohne ihn wieder ins Bett gegangen. Neun Monate der Hoffnung sind eine schwer abzulegende Gewohnheit. Außerdem, selbst wenn sie in der Nacht vielleicht recht hatten: Jetzt ist er vollkommen ruhig und schläft friedlich. Zumindest hat er aufgehört zu schreien. Das ist doch sicher ein gutes Zeichen?

»Es ist das Phenobarbital«, sagt man mir.

Ich würde gerne neben seinem Bett bleiben, bis sie ihn zum Krankenwagen fortgeschoben haben, aber eine Schwester kommt herein. Sie hat nach mir gesucht, ist herumgehetzt, um meine Entlassung zu koordinieren. Jetzt braucht sie mich wieder in meinem Zimmer für eine Untersuchung durch eine Hebamme. Es gibt Papierkram zu erledigen, eine Geburtsurkunde muss beantragt, Milch abgepumpt werden. Sie ist hilfsbereit, aber unfreundlich. »Wollen Sie nun entlassen werden oder nicht? Ich habe nämlich alles beisammen.«

Wieder in unserem Zimmer, ist inzwischen meine Mutter eingetroffen; ebenso Davids Vater und seine Stiefmutter. Während man sie auf den Flur führt, rufe ich ihnen zu, wie süß das Baby sei – »genau wie David«. Die Hebamme spreizt meine Beine. Die Milchpumpe trifft ein, und ich stecke eine Brust in jede Saughaube, unterschreibe eine Geburtsurkunde, stimme dem Hausbesuch einer Krankenschwester zu und was weiß ich noch, während die Milchpumpe ihre pochenden und saugenden Geräusche macht. Das Krankenhauspersonal sagt mir, es müsse mir nicht peinlich sein, sie hätten das alles schon früher gesehen. David durchsucht das Zimmer nach unseren Habseligkeiten, die er in Klarsichtbeutel stopft, die vom Krankenhaus zur Verfügung gestellt worden sind. Das Einzige, was er nicht finden kann, ist das Ladegerät für sein Handy. Es scheint ein unbedeutendes Detail zu sein, zu unbedeutend, um es zu erwähnen, aber die Symbolik ist eindeutig: Bald wird es fast unmöglich sein, uns zu erreichen.


»Hallo, Mama, hallo, Papa.« Shelley, die Empfangsdame mit der heiseren Stimme, die zuvor angerufen hatte, begrüßt uns in ihrem Krankenhaus.

Ich bewege mich langsam, aber nicht mit Schmerzen. Das Letzte, was ich drüben in dem anderen Krankenhaus gemacht hatte, war, mir meine Schuhe anzuziehen, und meine Mutter hatte mich gelobt, weil ich so kurz nach der Geburt schon wieder auf einem Bein stehen konnte – als verfügte sie selbst nicht über solche mütterliche Stärke. Aber vielleicht bedeutet die Erholung meines Körpers ihr genauso viel wie mir: Es scheint, dass dies das mindeste ist, was ich verdiene, einen Körper, der sich rasch genug erholen kann, um sich um ein Baby zu kümmern, das geschädigt worden sein muss, als es in mir war. Denn obwohl alles um meine Schwangerschaft, die Wehen und die Entbindung herum gesegnet schien, ist offensichtlich irgendetwas schiefgegangen.

Shelly kommt um ihren Schalter herum, um uns zu umarmen.

Wir betreten ihre Welt, die Welt der Neonatal Intensive Care Unit (NICU), der Neonatologischen oder Neugeborenen-Intensivstation, eine Welt, in der Eltern sich Krankenhauskittel anziehen müssen, um ihre Kinder auf den Arm zu nehmen. Shelley erklärt uns die übliche Prozedur: Armbanduhr und Schmuck abnehmen, die Ärmel bis über den Ellenbogen hochschieben, Schwamm und Nagelschaber aus der Plastikverpackung nehmen, das Wasser anstellen, indem man gegen das metallene Kniepedal schlägt, sich Seife nehmen, indem man das quietschende Fußpedal drückt, jede Seite dreißig Sekunden schrubben, schrubben, schrubben bis hinauf zum Ellenbogen. Ich bin entsetzt, als ich auf der Weißwandtafel hinter Shelleys Schalter meinen Nachnamen verzeichnet sehe, Beweis dafür, dass die Elternschaft nicht so verlaufen wird, wie ich es mir vorgestellt hatte. »Männlicher Säugling Weso
lowska« steht auf der Tafel, obwohl der Name unseres Sohnes Silvan Jerome Fisher ist.


Dr. A. ist ein stämmiger Mann, fast gutaussehend, mit ruhigen, fast freundlichen Augen. Ich sage fast, weil er nicht mein Baby ist und mein Baby im Augenblick alles auf der Welt ist. Alles andere kann nur fast sein. Dr. A. spricht klar und vernünftig als Silvans Neonatologe mit uns. Wir stehen neben Silvans Kinderbett. Im Gegensatz zu vielen der Babys in den Stubenwagen um ihn herum ist Silvan rundlich und unversehrt. Dennoch sieht er seltsam aus, wie er unter einer Wärmelampe allein daliegt.

Aus Dr. A. spricht Optimismus, aber auch eine Ehrlichkeit, die das Unwägsame zugibt. Seine erste Diagnose ist der günstigste Fall. »Wir haben bislang lediglich Anhaltspunkte für ein sogenanntes Subduralhämatom, ein Blutgerinnsel unter dem Schädel.« Er sagt, das passiere manchmal während der Wehen. Schließlich, erinnert er mich, hätte ich mehrere Stunden gepresst, um das Baby um mein Schambein herumzubekommen. Zwar sei es nicht ungewöhnlich, beim ersten Baby mehrere Stunden zu pressen, aber es sei nicht ideal. Er hält seine Hände hoch, um uns die Platten eines Babykopfes zu demonstrieren und dass sie noch beweglich seien und sich verschieben wie Kontinente. So sollen sie auch sein, aber manchmal, wenn sie im Geburtskanal zusammenkrachen, verursachten sie eine Blutung, die Klumpen zurücklasse. Diese Klumpen würden im Laufe der Zeit schrumpfen.

»Das kann ihm im späteren Leben Krampfanfälle verursachen oder auch nicht.«

Mit mütterlichem Stolz gehe ich davon aus, dass nicht. Und wenn doch, nun ja, Leute leben mit Krampfanfällen. Mein Vater, von dem Silvan seinen zweiten Vornamen Jerome hat, hatte zwei Krampfanfälle, als er zwischen zwanzig und dreißig war. Obwohl die Anfälle ihn beunruhigten und ihm peinlich waren, heiratete er später, bekam vier Kinder und hatte eine bedeutsame Karriere.

Und doch, als ich die Neuigkeit höre, fühle ich mich einer Ohnmacht nahe. Ich sage: »Ich muss mich setzen.« Und dann füge ich hinzu: »Es ist nicht wegen dem, was Sie sagen.« Schon jetzt ist mir klar, wie wichtig es ist, dass dieser Mann weiß, er kann ganz offen mit mir sprechen, dass man mich nicht in Watte packen muss. Ich mag Ehrlichkeit. Aber mir ist wirklich schlecht, komisch im Magen, und ich muss würgen. Vielleicht ist es eine postpartale Hitzewallung. »Ich habe gerade entbunden«, erinnere ich ihn, mich entschuldigend, während jemand einen Hocker in meine Richtung schiebt.


Die Krankenschwestern springen für eine Weile ein. Eine bringt mir ein kleines Stück Flanell. »Stecken Sie das in Ihren BH oder irgendwo dicht auf Ihrer Haut und tragen Sie es einen Tag, dann bringen Sie es zurück. Wir werden es an die Nase Ihres Kleinen legen, damit er Sie riechen kann, solange Sie nicht hier sind. Das wird ihn beruhigen.« Eine andere bringt mir Flaschen und zeigt mir ein Zimmer, wo ich Milch abpumpen kann.

»Ich weiß, er kann im Moment nicht gestillt werden, aber wenn es ihm besser geht, werden wir mit den ersten Flaschen...

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