Zur Phänomenologie des Pfandsammelns
Jeder Sozialforscher, der sich anschickt, ein Phänomen seiner Gesellschaft zu untersuchen, ist häufig mit dem Problem des »Immerschon-Bekannten« oder »Fast-schon-Banalen« konfrontiert. Das, was er sieht, entspricht zumeist dem, was jeder auf der Straße, bei subkulturellen Veranstaltungen oder gleich welcher gesellschaftlichen Institution selbst beobachten könnte. Im Konjunktiv jedoch liegt der Unterschied! Ist der Sozialforscher auch im Allgemeinen ausgebildet, ein Feld mithilfe wissenschaftlicher Methoden zu untersuchen, die ihm bei der systematischen Erschließung helfen und zur anschließenden Validierung seiner Ergebnisse verwendet werden können, so ist es allen voran die forschende Muße, die den Blick des Forschers vom Blick des Nicht-Forschers unterscheidet. Das plötzliche Erstaunen über etwas Alltägliches und der Wunsch, die dadurch ausgelösten Deutungskrisen zu lösen, ist zuallererst der Ausgangspunkt jeder Forschung. Um uns Schritt für Schritt dem hier verhandelten Phänomen des Pfandsammlers zu nähern, sollen im Folgenden zunächst die ethnografischen Beobachtungen präsentiert werden. Diese sollen einen ersten Eindruck davon vermitteln, wie sich diese Tätigkeit gestaltet. Verzichtet wird dabei weitestgehend auf theoretische Konzeptionen oder Literaturverweise. Viel eher stütze ich mich bei diesen Ausführungen auf das Immer-schon-Bekannte, verlängere jedoch die Dauer seiner Betrachtung. Dabei ist zu wünschen, dass dem Nicht-Forscher Bekanntes vor Augen geführt wird, das durch die Brille des Forschers gefiltert wurde, der in der vorteilhaften Lage ist, dem Beobachteten etwas mehr Aufmerksamkeit schenken zu dürfen, als es das Alltagsgeschäft zulässt.
Als Pfandsammeln ist zunächst ganz allgemein die Suche nach leeren, mit Pfand belegten Getränkegebinden wie Dosen, Glas- oder Plastikflaschen zu verstehen. Werden diese Gebinde gefunden, so können sie anschließend an dafür vorgesehenen Stellen, wie zum Beispiel Supermärkten, Getränkehändlern oder Tankstellen, abgegeben werden. Ziel der Tätigkeit ist es, das auf die Gebinde erhobene Pfandgeld zu erhalten. Damit Flaschen oder Dosen gesammelt werden können, müssen sie zuvor von denjenigen Personen, die das Pfandgeld entrichtet haben, zurückgelassen worden sein. Dies geschieht häufig dadurch, dass die Gebinde in Abfallbehälter geworfen oder an Ort und Stelle liegen gelassen werden. Außerdem darf die durch die Entrichtung des Pfandes initiierte und prinzipiell noch andauernde Beziehung zwischen dem Händler und dem Kunden der Flasche nicht mehr anzusehen sein, das heißt die zuvor durch zwei Personen eingegangene Beziehung muss entpersonalisiert werden, da sonst der Sammler, der das Gebinde gefunden hat, es nicht problemlos abgeben könnte.
Das Pfandsammeln lässt sich in drei Phasen unterteilen: 1) Das (Ein-)Sammeln der Flaschen oder Dosen stellt den zeitaufwendigsten Teil der Tätigkeit dar. 2) Es müssen Vorrichtungen bestehen oder geschaffen werden, die ein Zwischenlagern ermöglichen, sodass mit einem Mal möglichst viele Flaschen oder Dosen gesammelt werden können. 3) Die letzte und sicherlich entscheidendste Phase ist die des Abgebens beziehungsweise Eintauschens.
(Ein-)Sammeln
Für das (Ein-)Sammeln von Pfandflaschen müssen Orte aufgesucht werden, an denen die Nicht-Sammler oder Geber ihre Getränke konsumieren und/oder deren Verpackungen zurücklassen. Zu den Orten, an denen ich Flaschensammler angetroffen habe, gehören Fußgängerzonen, Parks, Universitäten, Schulen, Züge, Bahnhofsgebäude und deren nähere Umgebung, Flughafenhallen, Vorplätze von Diskotheken, Fußballstadien oder Konzerthallen, Bus-, Straßenbahn- und U-Bahnhaltestellen, Parkhäuser, Supermärkte oder schlicht die Straßen einer Stadt. Man kann daher allgemein festhalten, dass es sich beim Flaschensammeln um ein urbanes Phänomen handelt und die potenziellen Sammelorte sich über das gesamte Stadtgebiet erstrecken. Aus der Aufzählung wird zudem deutlich, dass es sich um Orte handelt, an denen sich grundsätzlich viele Menschen aufhalten oder an denen hoher Durchgangsverkehr besteht. Da aber nun städtische Gebiete sehr groß sind, bedeutet dies für den Pfandsammler gezwungenermaßen, sich auf bestimmte Orte zu beschränken. Dass ein unstrukturiertes Herumlaufen kein lukratives (Ein-)Sammeln gewährleistet, zeigt die Aussage eines Gesprächs, dass mit Thomas geführt wurde:
SJM: […] Machen Sie das immer hier, oder was?
T: Na, in ganz X-Stadt.
SJM: In ganz X-Stadt?
T: Na ja, nie also aber in der City so. Man muss so seine Stellen haben. Jeder hat so seine Stellen.
Die räumliche Eingrenzung scheint zunächst nicht besonders präzise zu sein, sondern wird von Thomas als die Stadtgrenze dargestellt. Damit ist nicht mehr gesagt, als dass prinzipiell in der ganzen Stadt gesammelt werden kann. Gebiete, in denen sich Flaschen und Dosen finden lassen, gibt es überall. Im Weiteren wird jedoch klargemacht, dass man »Stellen haben« muss, weil es unmöglich für einen Pfandsammler wäre, im gesamten Stadtgebiet Flaschen zu sammeln. Mit der Bezeichnung als »Stellen« verdeutlicht Thomas, dass es sich hierbei um Orte handelt, die als solche erkannt werden können, an denen sich Flaschen finden lassen. Diese Erfahrung muss sich der Pfandsammler im Verlauf der Tätigkeit aneignen. »Stellen« müssen gesucht, gefunden und ausgekundschaftet werden, das heißt, man muss wissen, wo man der Tätigkeit nachgehen kann.1
Hierbei handelt es sich um ein Erfahrungswissen, das nicht mit anderen geteilt wird, da es die Grundlage des Erfolgs darstellt. Weil das gesamte Stadtgebiet zum Sammelraum gehört, ist es schwer, »Stellen« wirklich geheim zu halten. Thomas spricht in dem Gesprächsausschnitt von »seinen Stellen«, womit er grundsätzlich Orte bezeichnet, die er nicht mit anderen teilt beziehungsweise auf die er sich beschränkt. Neben dieser notwendigen Selbstbeschränkung bietet der Umstand des Überall-sammeln-Könnens eine Art Flexibilität bei der Wahl des Sammelortes. Mag es auch anderweitige Meinungen geben – wie man sie zumeist in der medialen Aufbereitung des Themas finden kann –, so muss zumindest aus den eigenen Beobachtungen und Gesprächen geschlossen werden, dass diese »Stellen« nicht Revieren ähneln, die für bestimmte Sammler reserviert wären. Dies hat zwei Gründe: Beim Sammelraum handelt es sich um einen öffentlich zugänglichen Raum, auf den letztlich kein Besitzanspruch erhoben werden kann. Außerdem oder vor allem ist das Flaschensammeln eine Tätigkeit in Bewegung, weshalb Räume nur unzureichend überschaut werden können. Die »Stellen« der Sammler markieren daher eher individuell festgelegte Fixpunkte, entlang derer sich die Flaschensammler bewegen.
Dies führt zu der hilfreichen Unterscheidung zwischen Routensammlern und Veranstaltungssammlern. Die Letzteren sind bei (Groß-)Veranstaltungen wie Fußballspielen und Konzerten anzutreffen, sammeln also zu einem festen Zeitpunkt und an einem eingegrenzten Ort. Im Unterschied zu Anlaufstellen, die eine Route definieren und selbst festgelegt und ausgekundschaftet werden, können die Veranstaltungsorte nicht als »Stellen« beschrieben werden, da sie weder gesucht beziehungsweise gefunden werden müssen, noch reichen sie über einen bestimmten Radius hinaus. Routensammler dagegen bewegen sich meist entlang selbst gewählter »Stellen« durch die Städte. Diese Routen können verschiedene Formen annehmen, wie zum Beispiel einen geschlossenen Kreis oder eine Route mit einem Start- und einem Endpunkt. Die Routen wiederum werden in kleine Etappen eingeteilt, die zumeist von einem zum nächsten öffentlichen Abfallbehälter reichen. Das Weitergehen zum Abfalleimer kann wiederum verschiedene Formen annehmen: Entweder wird eine Straßenseite abgelaufen, um dann auf die andere Seite zu wechseln, oder es werden in einem Zickzackkurs beide Seiten abgelaufen.
Das In-den-Abfalleimer-Hineingucken kann auf zwei unterschiedliche Arten erfolgen. Die erste ist flüchtig und unauffällig. Im Vorbeigehen wird das Kinn leicht gesenkt, der Kopf minimal in die jeweilige Richtung gedreht, ohne dass die Augen sich direkt darauf richten. Befindet man sich direkt am Abfalleimer, wird für einen kurzen Augenblick der Blick darauf gerichtet. Dieser Vorgang, den ich bei mehreren Flaschensammlern beobachten konnte, wiederholt sich bei jedem Behältnis. Eine Abwandlung des unauffälligen Hineinguckens ist das Vortäuschen einer anderen Tätigkeit: Entweder wird ein Taschentuch oder ähnliches in der Hand gehalten, vorgebend, es wegwerfen zu wollen. In der Innenstadt gibt es zudem die Möglichkeit des Blicks in ein Schaufenster. Im Augenblick des Abwendens wandert der Blick wie zufällig in die Abfalltonne.
In einem öffentlichen Gebäude beobachtete ich eine Frau, die Aushänge studierte. Dieser Vorgang dauerte meist nur wenige...