1. Der Bund mit Abraham
1.1. Von der Urgeschichte zu Abraham
In den ersten elf Kapiteln der Bibel lesen wir die Geschichte einer globalen Katastrophe. Es beginnt mit einem goldenen Zeitalter von unvorstellbarer Schönheit: Gott erschafft eine wunderbare Welt, das Paradies schlechthin. Dem Menschen geht es ausgezeichnet. Es gibt nur Gutes. Auch nicht im Ansatz ist etwas von Leid, Not, Krankheit, Tod, Trauer, Frustration, Hoffnungslosigkeit, Sinnlosigkeit oder Armut zu spüren. Es gibt auch keinerlei Beziehungsprobleme. Die Menschen erleben Gottes Nähe und Liebe täglich unmittelbar. Sie sehen ihn und sprechen mit ihm.
Dann entscheidet sich der Mensch für die Sünde. Es ist wie ein Ehebruch: Das Vertrauen und die Beziehung zwischen Gott und Mensch sind in einem Moment zerstört. Die Menschen müssen daraufhin das Paradies verlassen. Sie verlieren damit den Zugang zur unsichtbaren Welt. Sie sehen und erleben Gott nicht mehr und sind von nun an in einer finsteren Welt auf sich alleine gestellt. Innerhalb von einigen Jahrzehnten haben sie jede Erkenntnis Gottes verloren. Gleichzeitig reißt die Sünde immer weiter ein – wie ein Stück Stoff, das einen Riss bekommen hat, der nicht mehr zu flicken ist. Bereits im 6. Kapitel der Bibel lesen wir, dass Gott in seinem Herzen zutiefst traurig und erschüttert darüber ist, wie böse die Menschen geworden sind.2 Der Riss geht immer weiter, bis wir schließlich in Kapitel 11 vom Turmbau zu Babel und der anschließenden Sprachverwirrung und Verteilung aller Völker auf die Erde lesen. Damit sind wir in der heutigen Realität angekommen. Die Sünde hat alles zerstört.
Wenn man diese Geschichte nicht kennen und zum allerersten Mal lesen würde, dann würde man es im 11. Kapitel der Bibel vor Spannung kaum aushalten: „Und was kommt jetzt?!“ Man fühlt sich wie an einem Day After nach einem globalen Atomkrieg. Wie kann es wohl nach dieser größten Katastrophe der Menschheit weitergehen?
Es ist auf dem ganzen Erdball finster geworden. Wir schauen uns die beteiligten Akteure an: Wer könnte jetzt noch etwas bewegen? Die Menschen sind im Innersten ihres Herzens durch und durch böse, gottlos und rettungslos verloren. Sie haben keine Chance mehr, ihre Lage von sich aus zu verändern. Und Gott? Was hat er nun vor?
Wenn Gott an dieser Stelle nichts getan hätte, dann wäre die Geschichte der Menschheit mit Gott bei den Fakten von Kapitel 11 des Buches Genesis3 (1. Mose) stehen geblieben. Und was tut der Herr? Er zündet auf diesem inzwischen finsteren Erdball weit im Osten ein einzelnes Licht an. Gott ruft einen einzigen Menschen, mit dem er nach dieser Katastrophe eine neue Geschichte beginnt: Abraham. Dieser Geschichte kann man gar nicht genug Aufmerksamkeit und Bedeutung zumessen. Es ist nicht die Geschichte eines einzelnen Mannes aus dem fernen Osten. Es ist der Anfang einer neuen Beziehung Gottes zur Menschheit. Wir können die gesamte folgende Geschichte Gottes mit der Menschheit nur verstehen, wenn wir seine Geschichte mit Abraham verstehen. Dazu müssen wir genau hinschauen und sehr genau auf die Worte Gottes achten. Wir werden dabei sehen, dass es in der nun folgenden Geschichte Gottes mit der Menschheit zwei Koordinaten gibt, die aus Gottes Sicht das Zentrum dieser gesamten Geschichte darstellen: Das jüdische Volk und das Land Israel (mit der Hauptstadt Jerusalem und dem Berg Zion).
Was passiert nun am Day After – nach der großen Katastrophe? Während wir in den Kapiteln 1 bis 11 ständig eine gewisse globale Perspektive hatten, engt sich der Fokus plötzlich auf einen einzelnen Mann ein. Ganz unscheinbar werden wir eingeführt in die Familienherkunft eines gewissen Abraham.4 Wir lesen davon, dass bereits sein Vater Terach zusammen mit der Familie seine Heimat in Ur in Chaldäa verließ, um nach Kanaan zu ziehen.
Schauen wir es uns auf der Karte an:
Karte 1 (erstellt mit Bible Mapper 5.0)
Um von Ur in Chaldäa (heutiger Irak, rechts unten auf der Karte) zum Land Kanaan zu kommen, musste Terach zunächst auf der Indien- bzw. Seidenstraße (grau-gestrichelte Linie) nach Norden ziehen, da der direkte Weg durch die Wüste geführt hätte. Die Strecke von Ur nach Haran ist etwa 1.500 Kilometer lang und führte vermutlich etwa in der Nähe des heutigen Bagdad, Kirkuk und Erbil entlang. So kam Terach mit seiner Familie nach Haran und siedelte dort. Warum er von dort (entgegen seinem ursprünglichen Vorhaben) nicht mehr weiterzog, verrät uns die Bibel nicht.
In Gen. (1. Mose) 11,32 wird uns berichtet, dass Terach im Alter von 205 Jahren in Haran starb. Anschließend beginnt in Kapitel 12 die Geschichte Abrahams. Es klingt so, als ob Abraham erst aus Haran ausgezogen wäre, als sein Vater bereits gestorben war. Rechnet man aber die Jahreszahlen zusammen, dann stellt sich heraus, dass dieser Eindruck täuscht: Terach war 70 Jahre alt, als er Abraham zeugte5 und Abraham zog mit 75 Jahren aus Haran aus.6 Abraham verließ die Stadt Haran also im 145. Lebensjahr seines Vaters Terach, der aber 205 Jahre alt wurde. Nach 25 Jahren des Wartens wurde schließlich der lang ersehnte Sohn Isaak geboren. Abraham war zu der Zeit 100 Jahre alt.7 Und: Sein Vater Terach lebte immer noch in Haran – mittlerweile in seinem 170. Lebensjahr. Terach hätte Isaak also noch als erwachsenen Mann kennenlernen können.
Der Vater Abrahams zog also aus einem Grund, den wir nicht kennen, von seiner Heimat Ur in Chaldäa in Richtung des Landes Kanaan. Auf mehr als der Hälfte der Strecke blieb er stehen und wurde in Haran sesshaft. Hier spricht nun der Herr zu Abraham und ruft ihn.
1.2. Die Berufung Abrahams
Wir lesen dazu in Gen. (1. Mose) 12,1-3:
(1) Und der HERR sprach zu Abram: Geh aus deinem Vaterland und von deiner Verwandtschaft und aus deines Vaters Hause in ein Land, das ich dir zeigen will. (2) Und ich will dich zum großen Volk machen und will dich segnen und dir einen großen Namen machen, und du sollst ein Segen sein. (3) Ich will segnen, die dich segnen, und verfluchen, die dich verfluchen; und in dir sollen gesegnet werden alle Geschlechter auf Erden.
Wir wollen uns diese Verse genau anschauen, weil sie so grundlegend sind. Es sind neun einzelne Elemente, aus denen diese drei Verse bestehen:
1.Geh aus deinem Vaterland und von deiner Verwandtschaft und aus deines Vaters Hause
2.in ein Land, das ich dir zeigen will.
3.Und ich will dich zum großen Volk machen
4.und will dich segnen
5.und dir einen großen Namen machen,
6.und du sollst ein Segen sein.
7.Ich will segnen, die dich segnen,
8.und verfluchen, die dich verfluchen;
9.und in dir sollen gesegnet werden alle Geschlechter auf Erden.
Betrachtet man einmal den Inhalt, so zeigt sich, dass es drei große Themenschwerpunkte gibt:
1.Ein Land, das der Herr Abraham zeigen will.
2.Ein Volk, das der Herr groß machen wird.
3.Gewaltiger Segen: Fünf Mal wird das Wort „Segen“ oder „segnen“ innerhalb von nur zwei Versen benutzt. Der Gipfel dieses Segens besteht schließlich darin, dass der Herr sagt, dass er durch Abraham alle Familien der ganzen Erde segnen wird. Im Hebräischen steht hier das Wort (Mischpachah – im Deutschen: „Mischpoke“): „Familie“.
Wir müssen dabei wahrnehmen, dass es zwei grundsätzlich verschiedene Arten von Verheißungen in der Bibel gibt: Verheißungen mit Bedingung und Verheißungen ohne jede Bedingung. Verheißungen mit Bedingung8 können verloren werden, wenn die Bedingung nicht erfüllt wird. Welche Art von Verheißung haben wir hier bei Abraham? Wenn überhaupt, dann ist die einzige Bedingung der erste Versteil von Vers 1: „Geh aus deinem Vaterland und von deiner Verwandtschaft und aus deines Vaters Hause (…)“. Abraham hat es getan. Von nun an gab es keine weitere Bedingung mehr, an die die Erfüllung der Verheißungen Gottes geknüpft gewesen wäre. Daher müssen sich die in Gen. (1. Mose) 12,1-3 ausgesprochenen Verheißungen Gottes an Abraham erfüllen – sonst würde Gott lügen.
Schauen wir uns die Aussagen des Verses 3 noch einmal genauer im Hebräischen an:
„Ich werde segnen, die dich segnen“ – auch wenn man kein Hebräisch kann, kann man doch erkennen, dass hier im Hebräischen zweimal dasselbe Wort steht: segnen und segnen.
„… und verfluchen, die dich verfluchen“ – während hier in den deutschen Übersetzungen in der Regel wieder zweimal dasselbe Verb vorkommt, stehen im...