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Ausgewiesen

Über China

AutorBei Ling
VerlagSuhrkamp
Erscheinungsjahr2012
Seitenanzahl195 Seiten
ISBN9783518777701
FormatePUB/PDF
KopierschutzWasserzeichen/DRM
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis16,99 EUR
Im Westen hoch angesehen, im eigenen Land unerwünscht: Bei Ling - Verleger, Autor und Freund der Dissidenten Liu Xiaobo und Ai Weiwei - gibt in diesem autobiographischen Sachbuch Einblicke in die Mechanismen der chinesischen Staatsmacht, insbesondere der Zensur. Durch seine Arbeit als Verleger und Autor gerät er immer wieder ins Visier der Partei, 2000 wurde er von den chinesischen Sicherheitsbehörden verhaftet, weil er die regimekritische Literaturzeitschrift Tendenzen herausgegeben hatte; Susan Sontag und Günter Grass setzten sich erfolgreich für seine Freilassung ein. Nicht nur im eigenen Land will man ihm den Mund verbieten - von der Frankfurter Buchmesse wurde der Exilchinese 2009 als Podiumsgast zunächst ein-, dann auf Druck der offiziellen chinesischen Delegation wieder ausgeladen. In »Ausgewiesen« gibt Bei Ling Einblicke in den chinesischen literarischen Untergrund, erzählt von seiner Zeit in Gefangenschaft und davon, wie es ist, keinen heimatlichen Boden betreten zu dürfen.

<p>Bei Ling, geboren 1959 in Shanghai, ist Verleger, Schriftsteller, Essayist und Gründer des chinesischen P.E.N.-Clubs, zudem Biograph des Friedensnobelpreisträgers Liu Xiaobo. Bei Ling lebt heute in den USA und Taiwan und darf chinesischen Boden nicht betreten.</p>

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Leseprobe

2?Vom literarischen Untergrund


Suche nach Wahrheit – die Mauer der Demokratie an der Xidan-Kreuzung in Peking


Den schrägen Strahlen der Abendsonne entlang – nein: entlang dem Lauf der Zeit. Ein Student auf einem Fahrrad, er radelt vom Stadtteil Xuanwu durch den Guang'anmenwai-Boulevard Richtung Norden, vorbei an Caishikou und der Taoran-Pagode. An der Shuangjing-Brücke biegt er links ab in den Guang'anmenwai-Boulevard. Den eisigen Nordwind im Gesicht und die lange Straße vor sich, sucht er die unbekannte Adresse. Die Grenzüberschreitung, die er vor sich hat, ist keine gewöhnliche. Folgte sein Leben bislang auch keinem festgelegten Muster – von diesem Tag an würde der Staat den weiteren Verlauf seines Lebens bestimmen.?

Es war ein Winternachmittag Anfang 1979.

Ich schob mein Fahrrad unter den wachsamen Augen des Pförtners durch das Eingangstor, vorbei an den auf dem Gelände verstreuten alten Flachbauten. Eine Pekinger Baufirma für Industrieanlagen. Im Büro der Buchhaltung saß Ren Wanding und wartete ruhig auf das Eintreffen der Gäste.

Die Dämmerung brach herein, unversehens war es Abend geworden. In dem schummrigen Büro erhellte das fahle Licht der schwachen Glühbirnen nur undeutlich die Gesichter von einem Dutzend Männern, die um die Wette zu rauchen schienen. Man kannte einander nicht. Jeder von ihnen benahm sich vorsichtig, ängstlich, alarmiert. Keiner glaubte so recht, daß der Name und der Beruf, mit dem sich ein jeder vorstellte, echt waren, jeder war damit beschäftigt zu raten, hinter welchem Namen sich ein Leizi[8] verbarg. Nur bei Ren Wanding war man sich sicher. Sein Name, seine Arbeitseinheit waren zweifellos echt. Und echt war auch die Freundlichkeit, mit der er jedem eine Schale Tee einschenkte und aufdrängte. Er war es, der uns alle eingeladen hatte.

Ren Wanding. Wie typisch chinesisch, wie bäuerlich dieser Name war. Er war klein und hager und trug eine wattierte Jacke mit Knöpfen in chinesischem Stil. Aufmerksam, ein wenig unsicher, nicht besonders selbstbewusst, blickte er hinter seinen schwarz geränderten Brillengläsern hervor. Jede seiner Gesten, seine ganze Aufmachung war altmodisch. Ein Buchhalter aus der »alten Gesellschaft«, wie sie einem kommunistische Propagandafilme vorführten. Mein Eindruck war, daß er, wohl als einziger in unserer Runde, niemandem etwas vormachte.

Es handelte sich um das erste Treffen der Chinesischen Liga der Menschenrechte. Eine solche Versammlung war damals, in meinem gerade einmal neunzehnjährigen Leben, eine unerhörte Erfahrung, ein Schock, den ich auch nach vielen Jahren nie vergessen habe.

Ren Wanding war mutig und mehr als das, er war der erste unter den Mutigen, einer, den es eigentlich gar nicht geben konnte. Selbst die Mauer der Demokratie war verglichen mit seinen Taten ein Witz. Als andere Dissidenten es noch lange nicht wagten, sich zu organisieren, gründete er die »Chinesische Liga der Menschenrechte«, die bis heute als »konterrevolutionär« verboten ist. In aller Öffentlichkeit prangte seine Wandzeitung, in der er um Mitglieder warb, an der Mauer der Demokratie, und dort suchte er auch öffentlich nach Redakteuren für die Zeitschrift Menschenrechte in China. Menschenrechte. Das war im damaligen China selbst an der Mauer der Demokratie eine fremde, befremdliche Idee. Alles, was man damals zu fordern wagte, waren Demokratie und die Wiedergutmachung von Unrecht, falschen Anschuldigungen und Justizirrtümern während der Kulturrevolution, die noch nicht lange zurücklag.

Ich weiß bis heute nicht genau, wie ich über die erste Hürde, den Besuch der Mauer der Demokratie, so unvermittelt in die Liga der Menschenrechte hineingestolpert war, ob mich damals das unerhörte Wort Menschenrechte magisch angezogen hat, oder ob es vielleicht einfach Ren Wandings unvoreingenommene Haltung war, seine Art, jeden von außen Kommenden mit offenen Armen zu empfangen und ihm vorbehaltlos zu vertrauen, ihn sogar gleich mit Aufgaben zu betrauen. Und dann noch so einen wie mich, der ich damals noch ein unerfahrener Grünschnabel war, der den tüchtigen Studenten mimte.

 

Ich kannte an jenem Abend, an dem ich der Jüngste war, nur einen der Anwesenden: Ein Freund von mir, Zhou Xiaowan, arbeitete in der Bibliothek der Pekinger Filmhochschule. Zumindest bei ihm wußte ich, daß sein Name und die Angabe seines Arbeitsplatzes stimmten. Ich besuchte ihn am darauffolgenden Wochenende, machte mich mit dem Fahrrad zum Desheng-Tor auf, von wo aus der Bus Nr.?345 Richtung Changping losfuhr. Ich stieg in den Bus, ein typischer, rumpelnder Überlandbus, der sich unterwegs zunehmend mit lärmenden Passagieren füllte, und kam nach einer guten halben Stunde, in der ich kräftig durchgeschüttelt worden war, in Zhuxing im Kreis Shahe an, wo ich aussteigen mußte. In der staubigen, grauen Einöde dieser nördlichen Vorstadt stand ich vor dem Eingangstor der Pekinger Filmhochschule, die von Feldern umgeben war. Dieses Tor und sein Schriftzug wurden für mich damals zu einem Symbol grenzenloser Freiheit. Es war die Zeit der strikten und radikalen Durchsetzung der Schreibung von Kurzzeichen. Die ganz im kantigen Kalligraphiestil nach Meister Yan[9] gehaltene Inschrift Peking dianying xueyuan, Pekinger Filmhochschule, fesselte meine Aufmerksamkeit. Das Zeichen ying von dianying für Film erschien mir immer schon als eine sehr ungeschickte Abkürzung des alten Langzeichens, das Kurzzeichen las sich wie »Brunnen mit Bart« statt »Bild«. Als ich vor dem Tor stand, waren bereits Winterferien und die Bibliothek war geschlossen. Xiaowan ließ mich zur Hintertür hinein. Die Bibliothek war ein Fest für die Sinne. Ich konnte meine Augen nicht von den Bildern abwenden und sah die von weiblichen Schönheiten wie von Wolken durchzogenen Poster und Filmbücher an, während ich seinen fachkundigen Erläuterungen zuhörte. Er zog für mich sogar die im Archiv bei den besonders wertvollen Bibliotheksschätzen aufbewahrten alten Spielfilmrollen hervor. Xiaowan wohnte damals in einem dieser ärmlich ausgestatteten Studentenwohnheime, wo ich auf einer Matratze auf dem Boden übernachten konnte. Tagsüber tauchten wir in der Bibliothek ab. Außer wenn wir uns kurz zwischendurch in der Mensa etwas zu essen holten, war ich dort bis tief in die Nacht am Stöbern. Unser Motto war damals: Das Schicksal Chinas liegt in der Hand jedes einzelnen. Wir waren jung und hitzköpfig, wir diskutierten von früh bis spät über den Staat, das Leben, unsere Ideale, es gab nichts, worüber wir nicht redeten. Nach drei Tagen schwindelte uns der Kopf, und es versagten uns die müden Beine beim Gehen.

 

In diese Zeit fiel auch das erste Redaktionstreffen für die Zeitschrift Menschenrechte in China. Nachdem Ren Wanding erläutert hatte, was er sich unter den wesentlichen Inhalten der Publikation vorstellte, wurde ich von ihm zu einem der Redakteure ernannt. Ich fühlte mich wie ein Soldat, der auf das Schlachtfeld geschickt wird, noch bevor er sein Gewehr zu halten versteht. Über ein paar hastig per Hand gekritzelte Manuskripte gebeugt, die es zu prüfen und korrigieren galt, widmeten wir uns der Korrektur von Schreibfehlern und Wendungen, während wir uns darauf verständigten, welche Beiträge in die erste Ausgabe aufgenommen werden sollten. An jenem Tag erhielt ich auch einen Aufnahmeantrag für die Chinesische Liga der Menschenrechte; ich habe ihn niemals ausgefüllt.

Kurz darauf, im Frühjahr 1979, erschien die erste Ausgabe von Menschenrechte in China in einer Auflage von 32 Exemplaren. Die Druckqualität war miserabel. Da der Inhalt im offiziellen Jargon »reaktionär« war, mußte die Zeitschrift versteckt werden, was sich als schwierig erwies. Ich war Student und wohnte in einem engen Siebenbettzimmer im Studentenwohnheim. Vier meiner Mitbewohner waren Parteimitglieder und noch dazu mindestens fünf Jahre älter als ich. Die an der Mauer der Demokratie erworbenen Untergrundzeitschriften versteckte ich für gewöhnlich in meiner zusammengerollten Baumwollmatratze. Von dort holte ich sie hin und wieder hervor, um sie mit anderen »konterrevolutionär« gesinnten Kommilitonen zu teilen. Mir war klar, daß es mit meinem Studium vorbei sein würde, wenn einer meiner Zimmergenossen mit Parteibuch oder einer der systematisch zur Inspektion erscheinenden politischen Instrukteure die verbotenen Schriften oder gar den Antrag auf Mitgliedschaft in der Chinesischen Liga der Menschenrechte bei mir finden würde.

Schon im Frühjahr 1979 bekam die so solide und geschlossen wirkende Mauer erste Risse. Im Lauf der Zeit klebten an der Mauer der Demokratie in Xidan über zehn verschiedene Untergrundzeitungen. Die erste war die Kulturzeitschrift Aufklärung der sogenannten »Gesellschaft für Aufklärung« aus Guizhou, gefolgt von den politischen Erkundungen, dem Pekinger Frühling, Forum Fünfter April, dem geisteswissenschaftlichen Magazin Löß, der Untergrund-Literaturzeitschrift Heute und schließlich noch der von Studenten aus Wuhan herausgegebenen populären Studentenzeitschrift Unser Zeitalter.

Die Pekinger Finanz- und Handelsschule war eine winzige Hochschule in einer kleinen Gasse im Bezirk Xuanwu hinter dem Guang'anmen-Tor – so klein, daß man darin zu ersticken glaubte. Bis nachmittags war ich völlig geistesabwesend und lethargisch. Ich...

Blick ins Buch
Inhaltsverzeichnis
Cover1
Titel4
Impressum5
Inhalt6
1 Die Frankfurter Buchmesse 2009. Ein Staat kämpft gegen seine Literatur8
Peking - ein letztes Mal8
Ein Staatsfeind? Das Internationale Symposium China und die Welt: Wahrnehmung und Wirklichkeit im September 200914
Eine abgedroschene Anekdote27
Die Frankfurter Buchmesse 200930
2 Vom literarischen Untergrund34
Suche nach Wahrheit - die Mauer der Demokratie an der Xidan-Kreuzung in Peking34
Die Zeitschrift Jintian (Heute) und die ersten Sprößlinge der Untergrundliteratur42
Der Aufstieg der Untergrundliteratur50
3 Zum ersten Mal in den USA (1988-89)60
New York60
Nach dem Massaker vom vierten Juni64
4 Die Gründung von Tendenzen73
Literatur im Exil73
Die Gründung von Tendenzen80
Beschattung und Gegenbeschattung85
Die gescheiterte Registrierung von Tendenzen87
5 Eine großartige Erscheinung: Susan Sontag91
Die erste Begegnung91
Ein Gespräch mit Susan Sontag96
Sontag und Tendenzen101
6 Arrest104
Wenn Literatur ein Affront für den Staat ist104
Verhaftung108
Block acht, Zelle eins114
Herr Li124
Spitznamen126
Bestialische Welt128
Weiberwäsche133
7 Freunde in höheren Etagen136
Das Verhör136
Freilassung und Hausarrest147
8 Exil155
Mein Vaterland: Ein Koffer156
Susans Rettungsaktion157
Angstzustände165
9 Gründung der unabhängigen chinesischen Schriftstellervereinigung171
Tendenzen wird eingestellt171
Gründung des Unabhängigen Chinesischen P.E.N.174
Geschafft182
Gründung des Tendenzen-Verlags187
10 Meine Heimat ist die Sprache189
Schreiben im Exil189
Überstehen ist alles191
Dank196

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