9Vorwort
Forschungsfreiheit polarisiert: Manche sehen in ihr eine Voraussetzung der engagierten und unbefangenen Wissenssuche in den Wissenschaften, die für deren Erfolg unabdingbar und deshalb unverhandelbar ist. Andere haben, wenn die Rede auf die Forschungsfreiheit kommt, eher Risiken einer schrankenlosen und entfesselten Forschung im Sinn. Ihnen gilt das Forschungsfreiheitsprinzip nur als ein geschickter rhetorischer Coup der Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler, mit dessen Hilfe sie sich aus der gesellschaftlichen Verantwortung für ihr Handeln herausstehlen. Trotz oder vielleicht wegen dieser polarisierenden Rolle wird die Forschungsfreiheit selbst selten zum Gegenstand einer genauen kritischen Auseinandersetzung. Kaum jemals wird diskutiert, welche Freiheiten es genau sind, die durch ein Forschungsfreiheitsprinzip garantiert werden sollten, und wo sie grundsätzlich ihre Grenzen haben. Noch seltener werden überhaupt Gründe dafür zur Sprache gebracht, warum wir die wissenschaftliche Forschung unter den Schutz besonderer Freiheitsgarantien stellen sollen. Die Forschungsfreiheit gilt eben den einen als selbstverständlich notwendig und den andern als leere Standesrhetorik.
Selbstverständlich ist es jedoch keineswegs, dass wir aus dem großen Kreis menschlicher Betätigungsfelder ausgerechnet die wissenschaftliche Forschung mit besonderen Freiheiten ausstatten. Was ist Besonderes an ihr, das diese Maßnahme rechtfertigt oder gar notwendig macht? Ebenso wenig selbstverständlich ist allerdings die Annahme, man könne die Ansprüche der Wissenschaft auf Freiheit und Unabhängigkeit bedenkenlos vom Tisch wischen. Besonders geeignet, dies zu illustrieren, sind aus jüngerer Zeit (neben den zahlreichen Sorgen über den zunehmenden Einfluss privatwirtschaftlicher Interessen in der Wissenschaft) die Versuche der Regierung George W. Bush, die amerikanische Ressortforschung über den Klimawandel im Sinne ihrer politischen Ziele zu beeinflussen. Gerade wer die Risiken einer entfesselten Forschung fürchtet, wird sich kaum eine Wissenschaft herbeiwünschen, deren Geschicke an die Interessen mächtiger Akteure gefesselt sind.
Dies alles zeigt zunächst nur: Wir kommen um eine differenzier10te, ausgewogene Betrachtung der Forschungsfreiheit nicht herum. Das vorliegende Buch widmet sich diesem Desiderat – und zwar aus einer philosophischen und nicht einer juristischen Perspektive. Denn dass die Forschungsfreiheit immer wieder ein Anknüpfungspunkt für wissenschaftspolitische und -ethische Debatten ist, ist zunächst einmal unabhängig davon, dass sie in manchen Ländern auch als rechtliche Norm existiert. Die Debatten, in denen Forschungsfreiheit eine Rolle spielt, orientieren sich selbst in diesen Ländern höchstens gelegentlich an deren juristischer Bedeutung. Mehr noch: Auch in Ländern, wo sie keine rechtliche Verankerung besitzt, geschieht die Bezugnahme auf die Freiheit der Forschung mit derselben Selbstverständlichkeit. Ihre normative Verbindlichkeit muss sich daher aus anderen, grundsätzlicheren Quellen speisen. Ein zweites Desiderat habe ich bereits implizit angedeutet: Da die Diskussion um die Forschungsfreiheit an einem Punkt erstarrt ist, an dem diese fast immer entweder für selbstverständlich genommen oder rundheraus abgelehnt wird, ist uns ein deutliches Bewusstsein für die spezifischen Gründe, die für Forschungsfreiheit sprechen könnten, abhandengekommen. Es gilt daher, Begründungen der Forschungsfreiheit zu rekonstruieren. Ein Grundgedanke dieses Buches ist es, dass das erstgenannte Desiderat einer differenzierten Betrachtung der Forschungsfreiheit nur mittels einer Erfüllung dieses zweiten Desiderats einer Rekonstruktion ihrer Begründungen erfolgreich bedient werden kann. Ein Mittel dazu wird es sein, ideengeschichtliche Ursprünge der Forschungsfreiheit aufzusuchen und Argumente zu betrachten, die zu Zeiten formuliert wurden, da die Diskussion um die Freiheit der Wissenschaft noch nicht erstarrt war. Das Hauptziel des Buches bleibt dabei jedoch immer, Begründungen zu identifizieren, die unter gegenwärtigen Bedingungen für eine Freiheit wissenschaftlicher Forschung sprechen können.
Wer die Gründe genau untersucht, die für ein bestimmtes Prinzip sprechen, wird dabei notwendigerweise auch auf ihre inhärenten Schwächen und Voraussetzungen und daher auf die Grenzen der Reichweite des in Rede stehenden Prinzips treffen. Wer daher eine Werbeschrift für die Forschungsfreiheit erwartet, wird vom vorliegenden Buch enttäuscht werden. Allerdings geht es mir durchaus darum, zu zeigen, dass das Ideal der Forschungsfreiheit auch in einer modernen Demokratie und auch zu einer Zeit, da 11Wissenschaft und Technologie häufig Gegenstand kontroverser Beurteilungen sind, eine sinnvolle normative Funktion hat.
Um diese konstruktive Rolle der Forschungsfreiheit zu identifizieren, spüre ich drei Begründungstypen nach, mit deren Hilfe sich Forderungen nach der Freiheit der Forschung stützen lassen. Die erste Begründung beginnt mit der Einsicht, dass Wissen im Hinblick auf menschliche Freiheit nicht einfach ein Gut unter vielen ist. Wissen ist bei der Ausübung von Freiheit nicht nur ein mögliches Ziel, sondern vor allem stets ein zentrales Mittel. Keines unserer Ziele können wir ohne Wissen wirksam verfolgen. Die Freiheit, sich Wissen zu verschaffen, gehört in diesem Sinn zu den Grundvoraussetzungen menschlicher Autonomie. Den Versuch, aus dieser Überlegung die Forderung nach einem besonderen Schutz der Freiheit wissenschaftlicher Forschung abzuleiten, nenne ich das Argument aus Autonomiegründen. Mit ihm beschäftige ich mich ausführlich im ersten Teil des Buches, der außerdem einige grundlegende Überlegungen zu verschiedenen Formen von Forschungsfreiheit und den Typen gesellschaftlicher Debatten, in denen sie jeweils eine Rolle spielen, enthält.
Wenn in unseren Tagen überhaupt eine ausdrückliche Begründung der Forschungsfreiheit zu geben versucht wird, geschieht dies zumeist durch einen Verweis auf den hohen Wert, den wissenschaftliches Wissen für uns alle heute habe. Doch ganz gleich, ob damit im Einzelnen der Nutzen des Wissens für die Förderung unseres Wohlstands und Lebensstandards, unserer Gesundheit und ähnlicher Ziele gemeint ist oder ein weniger praktisch bestimmter Wert des Wissens für unser Verständnis der Welt, es ist alles andere als selbstverständlich, dass dieser Verweis über die bloße Forderung nach einer gemeinschaftlich unterstützten Forschung hinaus auch die Freiheit derselben zu begründen vermag. Um dies zu leisten, müssen noch Argumente hinzukommen, die darlegen, warum das Gemeinschaftsunternehmen Wissenschaft seine von uns geschätzten Wissenserträge genau dann am besten erbringen kann, wenn es in bestimmten Hinsichten frei ist. Begründungsansätze, die genau dies zu zeigen versuchen, sind buchstäblich so alt wie die moderne Wissenschaft selbst. Ich fasse sie zur erkenntnistheoretischen Begründung der Forschungsfreiheit zusammen. Ihr ist der zweite Teil dieses Buches gewidmet.
Eine dritte Begründung, ohne welche die gegenwärtige Bedeu12tung der Forschungsfreiheit nicht verstanden werden kann, stellt auf die politische Relevanz wissenschaftlichen Wissens ab. Um politische Präferenzen ausbilden zu können, die ihre Werte und Interessen in angemessener Weise widerspiegeln, brauchen die Bürger einer Demokratie verlässliche Informationen. Dies betrifft gerade in unserer Zeit sehr oft Themen, bei denen Laien kaum etwas übrigbleibt, als sich auf die wissenschaftliche Expertise zu verlassen. Daraus erwächst das Erfordernis einer Unabhängigkeit aller Erkenntnisprozesse, die letztlich zur Erzeugung politisch relevanter wissenschaftlicher Informationen beitragen, um sicherzustellen, dass die Ergebnisse nicht im Sinne politischer Einzelinteressen beeinflusst werden können. Auch diese Grundidee einer politischen Begründung der Forschungsfreiheit besitzt eine lange und einflussreiche Tradition. Diese und die Frage ihrer Bedeutsamkeit für aktuelle Forschungsfreiheitsdebatten sind Gegenstand des dritten Teils dieses Buches.
Im Schlussteil des Buches werde ich nicht nur ein allgemeines Resümee ziehen über die drei untersuchten Begründungsstrategien der Forschungsfreiheit, die Freiheitsformen, die sich mit ihrer Hilfe jeweils stützen lassen, und die ihnen inhärierenden Stärken und Grenzen, sondern diese Ergebnisse auch anhand dreier konkreter Themen illustrieren, bei deren Diskussion die Forschungsfreiheit eine jeweils besondere Rolle spielt: Forschung an embryonalen Stammzellen, Forschungen zu vermuteten Zusammenhängen zwischen »Rasse« und menschlicher Intelligenz sowie die Kommerzialisierung der akademischen Forschung.
Ich schulde vielen Menschen und Institutionen Dank für ihre Unterstützung bei der Arbeit an diesem Buch. Martin Carrier hat seine Entstehung nicht nur durch Rat und Anregungen gefördert, sondern auch durch ein aus Mitteln seines Leibniz-Preises finanziertes Forschungsjahr. Außer ihm haben auch Véronique Zanetti und Marcel Weber eine frühere Fassung, die im Juni 2010 als Habilitationsschrift an der Universität Bielefeld angenommen wurde, im Auftrag der Fakultät für Geschichtswissenschaft, Philosophie und Theologie begutachtet. Allen drei Gutachtern verdanke ich wertvolle Rückmeldungen zum Manuskript. James R. Brown unterstützte einen einjährigen Gastaufenthalt an der University of Toronto sowohl als offizieller Gastgeber als auch durch viele berei13chernde Gespräche. Für die Finanzierung dieses Gastaufenthaltes durch ein Feodor Lynen-Stipendium bin ich der Alexander von Humboldt Stiftung dankbar. Wichtige Anregungen habe ich bei zahlreichen...