992. Politische Theorie und organisatorische Praxis
They made the question of style itself a political issue.
(Stuart Hall)
2.1 Authentizität und Autonomie
Bereits am 12. Mai 1967, als die Mitglieder der Kommune I aus dem Berliner SDS ausgeschlossen wurden, zeigte sich ein Bruch innerhalb der linken Bewegung, der im kommenden Jahrzehnt immer deutlicher zutage treten sollte. Der Berliner SDS-Vorsitzende Wolfgang Lefèvre hatte den Ausschluss der Kommunarden damit begründet, dass mittlerweile ein »theorieloser Aktivismus« in der anarchistisch ausgerichteten Kommune I zu beobachten sei. Dieser entbehre einer Basis für rationale Diskussionen. Der »individuelle Selbstverwirklichungswunsch« rangiere vor dem Politischen und Gesellschaftlichen – dies sei nichts weiter als »Realitätsflucht« und »falsche Unmittelbarkeit«.[1]
Der Anlass des Konfliktes war zum einen ein Flugblatt der Kommune I, welches die studentischen Vertreter als »Lahmärsche« und »Karrieremacher« verspottete. Die Kommunarden hatten es ohne Genehmigung mit dem Kürzel »SDS« unterschrieben. Weil der SDS zur selben Zeit mit dem Senat der Universität über seine finanzielle Förderungswürdigkeit verhandelte, traf ihn diese Verhöhnung besonders empfindlich. Zum anderen wirkte die berühmt-berüchtigte Äußerung von Dieter Kunzelmann vor der Springer-Presse konfliktauslösend: »Was geht mich denn Vietnam an – ich habe Orgasmusschwierigkeiten«.[2] Der häufig wiederhol100te Spruch – der nach Ulrich Enzensbergers Darstellung nicht auf Kunzelmann, sondern auf Rainer Langhans zurückzuführen ist – wurde zu einer Art »Zauberformel« (Enzensberger) der hedonistischen Linken gegen die »Apparatschiks und Verbandsbürokraten« (Kunzelmann).[3]
Im Hinblick auf das Verhältnis zwischen Gesellschaftsveränderung und Veränderung des eigenen »Subjekts« setzten die Kommunarden auf ein »radikal subjektbezogenes Politikverständnis«. Die »alltäglichen Erfahrungen im Arbeits-, Wohn- und Freizeitbereich« wurden zum zentralen politischen Bezugspunkt einer »Revolutionierung des Alltags«.[4] Bernd Rabehl, der damals im Bundesvorstand des SDS tätig war und mit dem Lefèvre den Ausschlussantrag gegen die Kommune I abgesprochen hatte, formulierte viele Jahre später den Unterschied im Politikverständnis zwischen SDS und Kommune I, als er die »falsche Unmittelbarkeit« und den »exaltierten Individualismus« der Kommune-I-Politik kritisierte: Es habe die Gefahr bestanden, »daß das Kommuneexperiment letztlich die politische Zielsetzung verfehlen würde und primär Prozesse gruppendynamischer ›Selbstfindung‹ in Gang setzte. Dadurch wurden politische Ziele aufgegeben«.[5]
Viele Kommunarden hatten diesen Bruch mitvollzogen. Fritz Teufel versuchte am 24. Juli 1967 in einem Flugblatt anlässlich eines Strafprozesses wegen Landfriedensbruchs, das »reflektierte Theorie-101Praxis-Verhältnis« des SDS durcheinanderzubringen.[6] 1968 erschien in der Zeitschrift konkret der Artikel eines Mitglieds der Berliner Linkeck-Kommune über den SDS. Der Autor beklagte sich darin über die »unheimlich frustrierenden« SDS-Sitzungen und kam zu dem Schluss: »Das ganze Fluidium in diesem Verein ist Scheiße.«[7] Die Mitglieder der Kommune I verfolgten dagegen das Ziel, die »Diskrepanz zwischen sozialistischer Theorie und bürgerlicher Existenz«[8] zu überwinden, und nahmen damit etwas vorweg, was sich in den siebziger Jahren (wenngleich weniger ambitioniert und gewissermaßen selbstverständlicher) innerhalb der linksalternativen Kultur als Wertschätzung für Unmittelbarkeit, lebensweltliche Erfahrung und Konkretion etablieren sollte.
Die Kommuneflugblätter unterschieden sich schon im Sprachstil von denen des SDS. Sie waren aggressiv, witzig, ironisch, ohne Floskeln und umgangssprachlich formuliert. Indem sie sich stilistisch von der bürokratischen Sprache der SDS-Pamphlete mit ihren schwierigen und verschachtelten Sätzen distanzierten, drückten sie eine politische Haltung aus, die jenseits erstarrter Organisations- und Denkformen lag. Dies markierte einen Bruch nicht nur im Lebensstil, sondern auch in den Politikvorstellungen innerhalb des linken Milieus: Bewusstseinsveränderung sollte keineswegs nur durch eine Umgestaltung der Arbeitsbedingungen, der Produktionsverhältnisse und der materiellen Basis erzielt werden. Das Unfertige, Spontane und Kreative trat an die Stelle von Theoriestudium und Planung, Mentalitätstrukturen an die Stelle von Produktionsformen.[9]
102Was an der Auseinandersetzung zwischen der Kommune I und dem SDS exemplarisch deutlich wird, ist eine Neubestimmung des Marxismus, die für die nachfolgenden sozialen Bewegungen der siebziger und achtziger Jahre von höchster Bedeutung werden sollte. Es ging um die Entdeckung des »subjektiven Faktors« in der Revolutionstheorie, die eine Revolutionierung der Lebenswelten nach sich zog, die relative Autonomie des Bewusstseins betonte und dem politischen Aktionismus eine eigenständige Kraft jenseits ökonomischer Veränderungen einräumte. Niemand anders als Herbert Marcuse hatte dies in einer Diskussion am 10. Juli 1967 an der Freien Universität Berlin auf den Punkt gebracht: »Eine der Aufgaben ist es, den Menschentypus freizulegen, der die Revolution will, der die Revolution haben muß, weil er sonst zusammenbricht: das ist der subjektive Faktor, der heute mehr als subjektiver Faktor ist.«[10] Anders als mancher Linksalternative der späten siebziger Jahre meinte Marcuse damit allerdings nicht die »Reklame der Selbstverwirklichung« oder eine »private und persönliche Revolution«, die er nicht nur als individuellen Eskapismus, sondern auch als unpolitisch geißelte.[11]
Nach der Erschießung von Benno Ohnesorg im Juni 1967 (und 103dann nochmals verschärft nach dem Attentat auf Rudi Dutschke im April 1968) hatte sich die Studentenbewegung radikalisiert und in verschiedene Lager aufgeteilt. Treffend beschrieb der Schriftsteller Uwe Timm in einer Erzählung über seinen ehemaligen Freund Ohnesorg diese Fraktionierung der Studentenbewegung in »Traditionalisten«, »Antiautoritäre« und »Seminarmarxisten«. Während die »Seminarmarxisten« im Grunde nur nach kategorialen Bestimmungen in Marx’ Kapital suchten, verfolgten die »Traditionalisten« eine »Drei-Säulen-Theorie«, nach der eine Weltrevolution nur im Verbund zwischen sozialistischen Ländern, den Befreiungsbewegungen in der Dritten Welt und der Arbeiterklasse in den Industrieländern zu bewerkstelligen sei. Die Strategie der in ihrem Auftreten oft biederen Personen, so Timm, sei ganz auf die politische Praxis ausgerichtet gewesen. Dagegen war für Timm die »Theorie der Antiautoritären in ihren Brechungen, in der Lustbetontheit, Verspieltheit zunächst weit anziehender. Sie hatte die Arbeiter als zutiefst kleinbürgerlich und besitzorientiert abgeschrieben und setzte auf Bewußtseins- und Bedürfnisveränderung«. Die Kommune I war dieser Deutung zufolge ein exemplarischer Selbstversuch der Antiautoritären.[12]
In dieser Subjektivierung des Revolutionsverständnisses lag ein Moment der Entgrenzung des Politischen, das auf die Privatsphäre übergriff und diese steuerte. Noch in der Friedensbewegung zu Beginn der achtziger Jahre wurde diese Ausweitung des Politischen trotz aller bis dahin gesammelten Erfahrungen mit den Problemen dieses Ansatzes hartnäckig verteidigt. So propagierte der Bremer Landesvorstand der Deutschen Friedensgesellschaft – Vereinigte KriegsdienstgegnerInnen e. V. (DFG-VK) 1983 das »Miteinanderdiskutieren im eigenen Lebensbereich und nicht nur in den für politische Aktivitäten vorgesehenen Zeitspannen«. Auf die Frage, ob 104man sein Privatleben trotz der damit möglicherweise verbundenen sozialen Verluste politisieren solle, hieß die moralische Antwort: »Niemand sollte etwas gegen Freizeit, Erholung und Entspannung haben. Allerdings: Atombomben machen auch nicht vor der Privatsphäre halt!«[13]
Die »Entkopplung der verschiedenen Momente des antiautoritären Protests«[14] von den theorieorientierten Gruppen der Neuen Linken und ihre Erweiterung ins Privatleben werden in diesem Kapitel in den verschiedenen Etappen und Varianten nachgezeichnet. Die sich in der Folge der Studentenbewegung bildenden K-Gruppen und Theoriezirkel einerseits und die Spontis andererseits werden in ihrem wechselseitigen Verhältnis zueinander beschrieben. Im Zentrum stehen dabei das jeweilige Politikverständnis und die unterschiedlichen Auffassungen von Revolution, Emanzipation und Sozialismus. Es wird zu zeigen sein, inwieweit sich das linksalternative Milieu – von den hedonistisch-undogmatischen Gruppen bis zu den zentralen Achsen in der Frauen-, Ökologie- und Friedensbewegung – von Teilen der Studentenbewegung und dann vor allem von den K-Gruppen entfernt hatte. Die in der Einleitung genannten Untersuchungsdimensionen Authentizität, Vergemeinschaftung, Emotionalität, Ganzheitlichkeit, Expressivität und Natürlichkeit werden hierbei die Darstellung anleiten und an den herausgehobenen Beispielen Kommune I, Sponti- und Autonomenbewegung, feministische Frauenbewegung, Ökologie- und Anti-AKW-Bewegung sowie schließlich der Friedensbewegung und den Grünen ausgeführt.
2.1.1 Von den Situationisten zur Kommune I:
Zum antiautoritären Flügel der 68er-Studentenbewegung
In den fünfziger Jahren entstand in Frankreich die später prominent gewordene Gruppe der...