Alexandre Métraux
Biographie und Biologie. Einige Bemerkungen zur Neuroanthropologie von Oliver Sacks
I
Vor einigen Jahren erschienen in der New York Review of Books und der nicht weniger angesehenen London Review of Books in unregelmäßiger Folge Beiträge, die man üblicherweise nicht dort, sondern in neurologischen oder neuropsychologischen Fachzeitschriften erwarten könnte. Diese Texte trugen Titel wie Musical Ears (Musikalische Ohren), The Man who Mistook his Wife for a Hat (Der Mann, der seine Frau mit einem Hut verwechselte), Hands (Hände) oder The Presidents Speech (Die Ansprache des Präsidenten). Bei allen handelte es sich um neurologische Fallgeschichten. Und doch fanden sie in den literarischen Journalen nicht deshalb Eingang, weil ihrem Urheber, Oliver Sacks, der Zutritt zu medizinischen Zeitschriften verwehrt worden wäre (er veröffentlicht ja regelmäßig u.a. im Lancet), sondern deshalb, weil in ihnen an die Beschreibung pathologischer Verirrungen der Natur die Frage nach den Bedingungen der psychischen Tätigkeiten des Menschen geknüpft wurde.
Ein Beispiel. Am 15. August 1985 erscheint in der New York Review of Books die knapp vier Spalten umfassende Fallgeschichte ‹Die Ansprache des Präsidenten›:
Im Aufenthaltsraum einer Station, auf der Menschen mit Sprachstörungen behandelt werden, läuft der Fernseher. Es wird eine Ansprache des Präsidenten der Vereinigten Staaten von Amerika übertragen. Dem Redner, einst Schauspieler in drittklassigen Streifen und in Werbefilmen, werden von seinen Anhängern rednerisches Können, Überzeugungskraft sowie die Beherrschung der Massenkommunikationsregeln zugeschrieben – doch die Patienten krümmen sich während der Ansprache vor Lachen oder kichern höhnisch. Was geht da vor? Den Lachern, die an sensorischer Aphasie als Folge einer wie auch immer entstandenen linksseitigen Hirnrindenschädigung leiden, muß an der Redeweise des Präsidenten etwas auffallen, das anderen Menschen üblicherweise verborgen bleibt.
Die Feststellung eines traumatisch bedingten Wortverständnisverlusts ist häufig nur dadurch zu erzielen, daß eine unnatürliche Sprechsituation hergestellt wird, in der die Begleiterscheinungen sprachlicher Äußerungen (Tonfall, Mimik, Gestik, Haltung usw.) keine Rolle mehr spielen. Oder anders : erst wenn das Reden, das sich an den auf Aphasie untersuchten Patienten richtet, zu einer neutralen Wortkette gemacht wird, läßt sich ermessen, wie stark der Wortverständnisausfall ausgeprägt ist. Der künstlich herbeigeführte Wegfall dessen, was der Logiker Gottlob Frege zur Charakterisierung der Begleiterscheinungen sprachlicher Äußerungen als ‹Beleuchtung› oder ‹Färbung› bezeichnet hat, ist für die Erfassung der Wortverständnisstörung unerläßlich.
Patienten mit einem derartigen Funktionsausfall vermögen allerdings durch die Verschiebung ihrer Aufmerksamkeit auf die Färbung oder Beleuchtung verbaler Äußerungen in natürlichen Sprechsituationen die Beeinträchtigung teilweise wettzumachen. Dadurch wird letztere beinahe unauffällig. Zugleich reagieren solche Patienten überaus empfindlich auf die Färbungen der von ihnen wahrgenommenen Sprechhandlungen. So heißt es, daß man an sensorischer Aphasie leidende Patienten nicht belügen und ihnen nichts vormachen könne – sie hören die Lüge aus dem Tonfall, die leere Versprechung aus dem Gehabe eines Sprechenden heraus. Deshalb also das Gelächter, das der sprechende Präsident auslöst.
Im Aufenthaltsraum verfolgt auch Edith D. das Geschehen. Wegen einer Geschwulst im rechtsseitigen Schläfenlappen leidet diese Patientin an tonaler Agnosie : sie ist nicht mehr imstande, die Färbung oder Beleuchtung sprachlicher Äußerungen wahrzunehmen. Für sie sind Sprechhandlungen nur verstehbar, wenn diese aus grammatikalisch und syntaktisch richtig zusammengesetzten Wortketten bestehen – wenn sie gleichsam eine dürre, spröde Prosa bilden. Umgangssprachliche Wendungen, emotionale Färbung, Tonfall und andere Begleiterscheinungen von Sprechakten sind Edith D. so fremd, wie ihren aphasischen Mitpatienten umgekehrt die puren Wörter ohne Bezug zur Verständigungssituation es sind.
Edith D. kann der Ansprache des Präsidenten auch nichts abgewinnen. Sie ist über die wirre Prosa des Redners so entsetzt, daß Zweifel an dessen Verstand sie beschleichen …
Nun ersetzt eine derartige Fallstudie weder eine Kommunikationstheorie, noch tritt sie zu dieser in Konkurrenz. Sie kann aber auf gewisse empirische Randbedingungen der Verständigung aufmerksam machen, die die Sprachtheoretiker in der ständigen Beschäftigung mit ‹normalen› Sprechakten übersehen könnten. Zudem erlaubt eine Fallstudie wie die kurz vorgestellte, eine Brücke zwischen der Sprachpathologie und der Kommunikationstheorie zu schlagen, wie Aleksandr R. Lurija dies in seinem neurolinguistischen Forschungsprogramm vorgesehen hat.
Aus diesen wenigen Angaben läßt sich bereits ersehen, daß das Schaffen Oliver Sacks’ einer bestimmten Gattung nicht eindeutig zugeordnet werden kann. Es ist bestimmt das eines Neurologen, wenn man an die Menge der mitgeteilten klinischen Beobachtungen und an die Auseinandersetzungen mit Auffassungen der Neurophysiologie, der Neuropharmakologie und anderen Zweigen der Medizin denkt. Zugleich bricht Sacks – besonders in seinen Fallgeschichten – die durch die Neurologie gesetzten Grenzen auf. Was also ist den Fallgeschichten gemeinsam – gleichgültig, ob sie die Beeinträchtigung einzelner psychischer Funktionen (Sprache, begriffliches und anschauliches Denken, visuelle Wahrnehmung, Gedächtnis usw.) zum Gegenstand haben oder, wie im vorliegenden Band, den Zusammenbruch von Denken, Wollen und Handeln als Folge eines massiven Traumas? Sie berichten über mitunter gravierende Zerfallserscheinungen des menschlichen Verhaltens, die mit den Hilfsmitteln der Neurologie analysierbar sind, und thematisieren dennoch unentwegt die Problematik der Bedingung der Möglichkeit menschlichen Daseins. Das wird dadurch erreicht, daß die aus der klinischen Beobachtung gewonnenen Befunde zu lebensgeschichtlichen Lehrstücken umgeschrieben werden. Die so entstehenden Texte erzählen allerdings nicht von großen und kleinen Taten, von Verlegenheiten, Selbstüberwindungen, anerkennungswürdigen Leistungen oder der gelegentlich mühsam errungenen Identität von Personen, sondern von Ereignissen, die, obzwar sie Personen angehören, keinen Eigennamen zu tragen vermögen. Sacks bringt also Ereignisse und Zustände, die unter der Haut oder unterm Schädel lokalisiert sind, in die Form einer Erzählung, die veranschaulicht, wie jemandes Geschichte durch subjektiv manchmal nicht wahrnehmbare Veränderungen des organischen Substrats aus den Angeln gehoben, oder anders: wie jemandes Geschichte durch die Verstrickungen einer untergründig sich abspielenden Gegengeschichte des Körpers gebrochen wird. Und wenn eine Lebensgeschichte derart erschüttert wird, bleibt für glückendes Selbstbewußtsein kein Platz mehr. In manchen Fällen wird es durch die Vorherrschaft des Organischen übrigens so überwuchert, daß im kleinen leiblichen Rest einer Lebensgeschichte (wie Sacks andeutet) archaische Verhaltensformen aus der früheren Gattungsgeschichte des Menschen sichtbar werden.
Die den Fallgeschichten Oliver Sacks’ eignende Irritationskraft ergibt sich also aus der Symbiose zweier Textgattungen: der diskursiven, analytischen, in Medizin und Naturwissenschaft beheimateten einerseits, und der narrativen oder erzählend aufklärenden andererseits, auf die sich die Geschichtswissenschaften und die Dichtung gründen – nur daß bei Sacks nicht selbstbewußt handelnde Personen, sondern die dem neurologischen Blick sich darbietenden organischen Ereignisse und Zustände als ‹Helden› der Geschichte auftreten.
II
Aber im Ausbildungsweg und in der frühen beruflichen Laufbahn Sacks’ ist nichts zu entdecken, was sich als Vorzeichen seiner heutigen Arbeits- und Denkweisen auslegen ließe. Der am 9. Juli 1933 in London geborene Oliver wurde, wie seine drei älteren Brüder auch, durch die Eltern – beide übten den Arztberuf aus – auf die medizinische Laufbahn eingestimmt und vorbereitet. Vielleicht ist die Tatsache, daß der Vater unter dem berühmten Neurologen Sir Henry Head gearbeitet hatte, für die Entscheidung des jüngsten Sohnes zugunsten einer Laufbahn im Bereich der Neurologie mitbestimmend gewesen. Nach Abschluß der St. Paul’s School in London erhielt Sacks 1951 ein Stipendium des Queen’s College zu Oxford, wo er bis 1954 das medizinische Grundwissen erwarb. Sein Medizinstudium schloß er 1958 am Middlesex Hospital in London ab, an dem er sich dann bis 1960 in Chirurgie und Neurologie spezialisierte. Noch im selben Jahr siedelte er in die USA über. Zuerst arbeitete er in San Francisco am Mount Zion Hospital (Abteilung für Parkinson-Kranke), von 1962 bis 1965 an der Neurologischen Klinik der University of California in Los Angeles. 1966 wurde er an das Albert Einstein College of Medicine im New Yorker Stadtteil Bronx berufen, an dem er seither Neurologie unterrichtet. Inzwischen ist Sacks auch als Berater für verschiedene Hospitäler und Altenheime in New York tätig. Sein erstes Buch Migraine: The Evolution of a Common Disorder, das er während seines Aufenthalts in Kalifornien in Angriff genommen hatte, erschien 1970.
Kurz nach der Übernahme der Professur für Neurologie...