Vorwort
Vor drei Jahren wußte ich nichts über die Situation von Gehörlosen und wäre nie auf den Gedanken gekommen, daß die Beschäftigung mit diesem Thema Erkenntnisse über so viele Bereiche, vor allem aber über den Bereich der Sprache, liefern könnte. Ich war überrascht, als ich mich mit der Geschichte der Gehörlosen und den außerordentlichen (sprachlichen) Herausforderungen befaßte, vor denen sie stehen, überrascht auch, von einer ganz und gar visuellen Sprache zu erfahren, der Gebärdensprache, die sich in ihrem Modus von meiner eigenen, der Lautsprache, wesentlich unterscheidet. Es ist nur zu leicht, Sprache, die eigene Sprache, als etwas Selbstverständliches anzusehen – vielleicht muß man mit einer anderen Sprache oder vielmehr: einem anderen Sprachmodus konfrontiert werden, damit man sich wieder verwundert, in das Wundern hineingestoßen wird.
Als ich zum erstenmal etwas über Gehörlose und diesen einzigartigen Sprachmodus las, gab mir die Lektüre den Wunsch ein, zu einer Erkundung, einer Reise aufzubrechen. Diese Reise führte mich zu Gehörlosen und ihren Familien, zu Gehörlosenschulen und nach Gallaudet, der einzigen Universität für Gehörlose; sie führte mich auf die Insel Martha's Vineyard, wo es früher einmal erbliche Taubheit gegeben hat und wo alle (Hörende wie Gehörlose) die Gebärdensprache beherrschten; sie führte mich in Städte wie Fremont und Rochester, wo es einen ungewöhnlichen Austausch zwischen Gehörlosen und Hörenden gibt; sie führte mich zu den großen Erforschern der Gebärdensprache und der Lebensbedingungen der Gehörlosen – zu bekannten, engagierten Wissenschaftlern; sie vermittelten mir ihre Begeisterung und ihr Gefühl, auf unerforschte Regionen und neue Herausforderungen gestoßen zu sein. Im Verlauf dieser Entdeckungsreise habe ich mich mit Sprache beschäftigt, mit dem Wesen des Sprechens und des Lehrens, mit kindlicher Entwicklung, mit der Entwicklung und der Funktion des Nervensystems, mit der Bildung von Gemeinwesen, Welten und Kulturen - und dies alles auf eine Weise, die für mich völlig neu und eine geistige und seelische Bereicherung war. Sie hat mir vor allem ganz neue Perspektiven bei der Betrachtung uralter Probleme eröffnet und unerwartete Einblicke in die Sprache, die Biologie und die Kultur gegeben - sie hat das Vertraute fremd und das Fremde vertraut gemacht.
Ich war gefesselt und entsetzt – entsetzt, als ich entdeckte, wie vielen Gehörlosen es für immer verwehrt bleibt, die Möglichkeiten kennenzulernen, die eine differenzierte Sprache – oder Denkweise – eröffnet, und wie traurig das Leben, das vor ihnen liegt, sein kann.
Aber fast gleichzeitig stieß ich auch auf eine andere Dimension, auf ein ganzes Universum neuer Gesichtspunkte, die nicht biologischer, sondern kultureller Natur waren. Viele der gehörlosen Menschen, die ich kennenlernte, hatten nicht bloß eine differenzierte Sprache erlernt, sondern vielmehr eine völlig anders strukturierte Sprache, eine Sprache, die sowohl die Denkfähigkeit unterstützt (und in der Tat Denk- und Wahrnehmungsweisen gestattet, von denen sich ein Hörender schwerlich einen wirklichen Begriff machen kann) als auch das Medium einer vielgestaltigen Gemeinschaft und Kultur darstellt. Obwohl ich die medizinische Diagnose, mit der die Gehörlosen leben, nie außer acht ließ, war ich nun gezwungen, sie mit den Augen des Ethnologen zu betrachten: als Menschen mit einer eigenen charakteristischen Sprache, Gefühlswelt und Kultur.
Nun könnte man meinen, daß die Geschichte der Gehörlosen und die wissenschaftliche Auseinandersetzung mit ihnen und ihrer Sprache eine Angelegenheit von ausgesprochen begrenztem Interesse ist. Dies ist jedoch, wie ich meine, keineswegs der Fall. Es stimmt zwar, daß die Taubgeborenen nur etwa o, 1 Prozent der Bevölkerung ausmachen, aber die Fragen, die sich angesichts ihrer Existenz stellen, berühren Probleme von allgemeiner und sehr großer Bedeutung. Die Auseinandersetzung mit Gehörlosen führt uns vor Augen, daß viele der Dinge, die uns als Menschen auszeichnen – unsere Fähigkeit, Sprache, Denken, Kommunikationsformen und Kultur zu schaffen –, sich nicht automatisch in uns entwickeln und keineswegs bloße biologische Funktionen darstellen, sondern in gleichem Maße sozialen und historischen Ursprungs sind; daß sie ein Geschenk – das wunderbarste aller Geschenke – sind, das eine Generation an die nächste weitergibt. Wir erkennen: Kultur ist von ebenso entscheidender Bedeutung wie Natur.
Die Existenz einer visuellen Sprache, der Gebärdensprache, sowie die frappierende Steigerung der Wahrnehmung und der visuellen Intelligenz, die mit dem Erlernen dieser Sprache einhergeht, beweist, daß das Gehirn über gewaltige Potentiale verfügt, von deren Vorhandensein wir sonst kaum eine Ahnung hätten, und führt uns die fast unbegrenzte Anpassungsfähigkeit und die unerschöpflich scheinenden Ressourcen vor Augen, über die das Nervensystem und der menschliche Organismus angesichts einer neuen Situation und der Notwendigkeit, sich darauf einzustellen, verfügen. Wenn dieses Thema uns also die Verletzlichkeit des Menschen zeigt, die Arten, auf die wir uns (meist ohne es zu wollen) Schaden zufügen können, so weist es uns doch gleichermaßen auf unbekannte und unverhoffte Stärken in uns hin, auf die unerschöpflichen Potentiale, die es uns ermöglichen, zu überleben und über uns hinauszuwachsen – Potentiale, mit denen uns Natur und Kultur gemeinsam ausgestattet haben. Obwohl ich also hoffe, daß dieses Buch für Gehörlose und ihre Familien, Lehrer und Freunde von besonderem Interesse sein wird, würde ich mich doch freuen, wenn sich ihm auch andere Leser zuwendeten; sie werden hier auf unerwartete Einblicke in die conditio humana stoßen.
Dieses Buch ist in drei Teile gegliedert. Der erste wurde zwischen 1985 und 1986 geschrieben und war zunächst als Rezension eines Buches über die «Geschichte der Taubheit» konzipiert: Harlan Lanes «When the Mind Hears» (deutsche Ausgabe: «Mit der Seele hören»). Diese Rezension hatte sich, als sie im New York Review of Books vom 27. März 1986 veröffentlicht wurde, zu einem Essay entwickelt und ist seitdem noch vielfach erweitert und revidiert worden. Ich habe jedoch bestimmte Formulierungen und Ausdrücke stehenlassen, mit denen ich inzwischen nicht mehr ganz einverstanden bin, denn ich hatte das Gefühl, ich sollte das Original, seine Mängel eingeschlossen, erhalten, um meine Gedanken bei der ersten Annäherung an das Thema wiederzugeben. Zu Teil 3 wurde ich angeregt durch die Revolte der Studenten an der Gallaudet University im März 1988; er erschien im New York Review of Books vom 2. Juni 1988. Auch diesen Text habe ich für die Veröffentlichung in «Stumme Stimmen» erheblich verändert und erweitert. Teil 2 entstand zuletzt, im Herbst 1988, ist aber gewissermaßen das Herzstück des Buches – jedenfalls enthält er die systematischste, aber auch persönlichste Behandlung des Themas. Ich sollte wohl hinzufügen, daß ich es immer unmöglich gefunden habe, eine Geschichte zu erzählen oder einen Gedanken zu verfolgen, ohne unzählige kleine Abstecher und Exkurse zu machen, und ich habe immer das Gefühl gehabt, dadurch sei meine Reise um so reicher an Eindrücken gewesen.
Ich bin, das sollte ich betonen, auf diesem Feld ein Außenseiter – ich bin nicht taub, ich beherrsche die Gebärdensprache nicht, ich bin kein Gehörlosendolmetscher oder -lehrer, kein Experte auf dem Gebiet der kindlichen Entwicklung und auch kein Historiker oder Linguist. Und es handelt sich hier, wie sich zeigen wird, um ein heikles (und immer wieder umkämpftes) Areal, auf dem leidenschaftlich verfochtene Meinungen jahrhundertelang im Streit gelegen haben. Ich bin ein Außenseiter ohne besondere fachliche Kompetenz und Ausbildung, aber auch, so meine ich, ohne Vorurteile, ohne eigennützige Ziele, ohne Rechthaberei in dieser Sache.
Ohne die Hilfe und die Anregungen zahlloser anderer hätte ich diese Entdeckungsreise nicht machen, geschweige denn darüber schreiben können; das waren zuerst und vor allem Gehörlose – Patienten, Probanden, Mitarbeiter, Freunde –, die einzigen, die in der Lage sind, etwas von der Perspektive der Betroffenen zu vermitteln; und dann diejenigen, die am meisten mit diesen Menschen zu tun haben: ihre Familien, Dolmetscher und Lehrer. Ich möchte mich hier besonders bei einigen bedanken, die mir sehr geholfen haben: bei Sarah Elizabeth, Sam Louis und ihrer Tochter Charlotte, bei Deborah Tannen von der Georgetown University, bei den Lehrern der California School for the Deaf in Fremont, der Lexington School for the Deaf und vieler anderer Schulen und Institutionen für Gehörlose, vor allem der Gallaudet University: David de Lorenzo, Carol Erting, Michael Karchmer, Scott Liddell, Jane Norman, John Van Cleve, Bruce White, James Woodward und vielen anderen.
Großen Dank schulde ich den Wissenschaftlern, die es sich zur Lebensaufgabe gemacht haben, Gehörlose und ihre Sprache zu verstehen und sich intensiv mit ihnen auseinanderzusetzen – dies gilt besonders für Ursula Bellugi, Susan Schaller, Hilde Schlesinger und William Stokoe, die mich freizügig und ausführlich an ihren Gedanken und Beobachtungen teilhaben ließen und mich zu eigenen Überlegungen angeregt haben. Jerome Bruner, der die geistige und sprachliche Entwicklung von Kindern so intensiv erforscht hat, ist mir in dieser Zeit ein unschätzbarer Freund und Mentor gewesen. Mein Freund und Kollege Elkhonon Goldberg hat mir neue...