MODERNER LIFESTYLE – MODERNER AYURVEDA
Ayurveda und ich waren uns nicht sofort und von Anfang an sympathisch, empfand ich die Grundzüge doch als kompliziert, veraltet und nicht alltagstauglich. Erst mit näherer Beschäftigung habe ich die reichhaltigen Lehren und Empfehlungen besser verstanden.
Je mehr ayurvedische Empfehlungen ich ausprobierte, je deutlicher ich tatsächlich positive Veränderungen meiner eigenen Gesundheit und der meiner KlientInnen feststellte, umso neugieriger wurde ich. In den vergangenen zehn Jahren habe ich stetig mehr über Ayurveda gelernt und mich letztendlich auch als Ärztin fundiert in diesem Bereich weitergebildet, um Ayurveda zu praktizieren.
Je mehr Erkenntnisse ich aus meinen Studien und der Ausbildung bei mir selbst und mit meinen Klienten umsetzte, desto klarer wurde mir auch, dass wir die traditionellen Schriften, ihre Anleitungen und Regeln in vielen Punkten für unsere heutige Welt und Zeit übersetzen müssen. Wörtlich genommen passen sie weder vollständig in unsere geografischen Breiten noch zu unserem heutigen Lebensstil und dessen Anforderungen.
Dafür möchte ich drei konkrete Beispiele geben:
Die Empfehlung, dreimal täglich frisch gekochte Mahlzeiten zu sich zu nehmen, mag in einem Mehrgenerationenhaushalt, wie in Indien üblich, auf natürliche Weise funktionieren, da immer ein Teil des Familienclans für die Küche zuständig ist. In unserem soziokulturellen Gefüge, in dem wir häufig fernab eines großen Familienverbandes leben und beruflich wie gesellschaftlich stark eingebunden sind, ist das Vorhaben dagegen eine große Herausforderung.
Über die letzten Jahrhunderte hat sich die Qualität und Verfügbarkeit vieler Nahrungsmittel gewandelt. Manche der Nahrungsmittel, die in ayurvedischen Schriften empfohlen werden, können wir heute nicht mehr uneingeschränkt als wertvolles Heilmittel ansehen, weil sich die Herstellung, der Bezug und damit auch die Qualität stark verändert haben. Ein gutes Beispiel hierfür sind Fleisch- und Milchprodukte. Diese haben im traditionellen Ayurveda einen hohen Stellenwert und einige tierische Produkte werden sogar therapeutisch eingesetzt. Allerdings stammte das Fleisch von selbst aufgezogenen Tieren und war deshalb nur selten und in entsprechend geringen Mengen und in höchster Qualität verfügbar.
Naturgemäß fehlen im traditionellen Ayurveda Empfehlungen für einen gesunden Kaffeekonsum oder einen angemessenen Umgang mit Smartphones und deren Angebot einer ständigen Erreichbarkeit, denn diese Lifestyle-Produkte gab es schlichtweg vor einigen Jahrzehnten, geschweige denn Jahrhunderten, noch nicht (oder sie waren im Falle des Kaffees nicht überall und jederzeit konsumierbar).
In diesem Buch möchte ich dir deshalb eine moderne, umsetzbare Variante des Ayurveda näherbringen, die auch die relevanten gesundheitlichen Herausforderungen unserer Zeit, aktuelle Ernährungsweisen und Ge wohnheiten aufgreift. Der Text ist eine geordnete Zusammenfassung meiner Erfahrungen aus der medizinisch-ayurvedischen Zusammenarbeit mit Hunderten von KlientInnen und deren Herausforderungen, Beschwerdebildern, Anliegen und Fragen.
Mir ist es wichtig, dem Thema Ayurveda mit Leichtigkeit und Pragmatismus – fernab aller Dogmen und Regeln – zu begegnen. Denn nur dann ist meiner Erfahrung und Überzeugung nach ein schlicht und einfach gesundes Leben mit Genuss und Freude möglich.
Ich möchte dieses Werk all meinen bisherigen Klientinnen und Klienten widmen, die mich immer wieder lehren und fordern, Dinge zu hinterfragen, zeitgemäß greifbar zu machen und mich ständig weiterzuentwickeln. Und ich wünsche jedem, der dieses Buch in die Hände nimmt, viel Neugierde, Spaß und Freude beim Lesen und Ausprobieren!
Die sieben größten Mythen rund um Ayurveda
Bevor wir mit dem modernen Ayurveda starten, möchte ich kurz auf die Vorbehalte und Mythen eingehen, die mir am häufigsten begegnen und die auch dich eventuell beschäftigen, damit wir uns später ganz un voreingenommen mit allem Folgenden auseinandersetzen können.
Ayurveda ist …
indisches Essen – man braucht viele exotische Gewürze.
Ayurveda hat zwar seinen geografischen Ursprung in Indien, ist allerdings nicht zwangsläufig mit indischem Essen gleichzusetzen. Vielmehr geht es ganz allgemein um eine ausgeglichene und ausgleichende Ernährungs- und Lebensweise. Ob dabei asiatische, indische oder italienische Lebensmittel verwendet werden, spielt keine Rolle. Das bedeutet: Auch mit unseren heimischen regionalen Produkten können wir ganz wunderbar ayurvedische Gerichte zubereiten. In diesem Buch findest du dafür einige Rezepte, Inspirationen und Informationen.
nicht für Europäer geeignet.
Dieser Mythos ist eng mit Mythos Nummer 1 verknüpft. Immer wieder höre ich, Ayurveda sei für unsere westliche Kultur nicht geeignet, für unseren Stoffwechsel nicht passend und somit hier nicht wirksam umsetzbar. Fakt ist: Ayurveda ist eine ganzheitliche Lebens- und Gesundheitsphilosophie, die jederzeit und von jedem angewendet werden kann, unabhängig davon, wo er lebt. Sie kann variabel an die verschiedenen kulturellen und klimatischen Gegebenheiten angepasst werden. Denn der Kern des Ayurveda sind zeitlose Naturgesetze, die auf alle Menschen zutreffen. Auch wenn wir in verschiedenen Breitengraden, in verschiedenen Kulturen leben, gehören wir alle der Gattung Mensch an, deren Individuen aus dem gleichen genetischen Baumaterial entstanden sind.
veraltet und nicht mehr wirksam.
Obwohl der Ayurveda über fünf Jahrtausende alt ist, ist er zeitlos. Denn die universellen (Natur-)Gesetze, auf denen er basiert, ändern sich nicht und als Teil der Natur sind wir alle stets von ihnen beeinflusst. Daher ist Ayurveda immer (noch) zeitgemäß und wird es, solange die Naturgesetze gelten, auch bleiben.
nur ein aktueller Trend.
Fakt ist: Das Interesse an traditionellen Heilsystemen und naturheilkundlichen Verfahren steigt stetig. Das ist aber per se nicht durch einen Trend verursacht, der nach einer ge wissen Zeitspanne wieder verblasst, sondern vielmehr dadurch, dass wir uns immer weiter von unserem Ursprung und der Natur entfernen. Vielen Menschen fehlen Halt, Sinn und der Kontakt zum wirklichen Leben; es entstehen neue »Zivilisationskrankheiten«, die es in dieser Ausprägung vor einigen Jahren noch gar nicht gab. In dieser Situation kann der Ayurveda mit seinen tief reichenden Empfehlungen Hilfe bieten. Aus gesundheitswissenschaftlicher Sicht stößt die konventionelle Schulmedizin in vielen Therapiefragen an ihre Grenzen, beispielsweise bei chronischen oder psychosomatischen Erkrankungen. Daher überrascht es nicht, dass eine langsam einsetzende, aber spürbare Umorientierung stattfindet und den verschiedenen naturheilkundlichen Systemen wieder ein höherer Stellenwert eingeräumt wird. So entstehen integrative Konzepte, in denen verschiedene Ansichten und Vorgehensweisen ihren berechtigten Platz haben und Hand in Hand gehen dürfen. Ayurveda ist kein Trend, sondern vielmehr eine Rückbesinnung auf das, was unsere Gesundheit ausmacht und seit Generationen erfolgreich angewendet wird.
hauptsächlich ein Wellnessprogramm mit vielen Ölmassagen.
Das Gefühl von Vitalität, Gesundheit und Lebensfreude ist ein zentrales Ziel im Ayurveda. Denn sind wir in diesem Gefühlszustand, befinden wir uns in unserer individuellen Balance. Dieses Wohlgefühl geht weit über den herkömmlichen Wellnessansatz hinaus und umfasst langfristig alle Lebensbereiche. Öle und Ölmassagen haben wohl einen wichtigen Platz im Ayurveda, sie werden aber unter medizinisch-therapeutischen Aspekten eingesetzt, die tiefenwirksam sind. Jeder, der schon einmal eine umfassende ayurvedische Reinigungskur (zum Beispiel eine Panchakarma-Kur) gemacht hat, weiß, dass diese Behandlung sehr intensiv und ein vollständiges, medizinisch fundiertes Programm ist.
unseriös und unwirksam.
Beim Ayurveda handelt es sich um ein traditionelles Heilsystem, das viele wissenschaftlich belegte und nachweisbare positive Wirkungen auf die Gesundheit hat. Natürlich lässt sich im Ayurveda nicht alles durch Studien belegen, da viele Anwendungen individuell abgestimmt sind und ihre Wirksamkeit nicht nur an einem objektiv messbaren und somit vergleichbaren Faktor (z. B. der Veränderung eines Blutwertes) festgemacht wird. Ayurveda geht niemals isoliert, also nur auf ein Symptom bezogen, vor, sondern dreht in der Behandlung immer an verschiedenen Stellschrauben. Das macht es schwierig, genau herauszukristallisieren, welcher Faktor in welchem Maße zu einem besseren Wohlbefinden beiträgt. Trotz alledem steigt die Zahl der Studien und »Case Studies«, also der Fallstudien aus der Praxis, stetig, die Ansätze finden, die Wirksamkeit und Behandlungserfolge valide zu belegen.
unglaublich kompliziert.
Dieser Mythos ist sicherlich derjenige, der mir am häufigsten begegnet und der mich dazu bewogen hat, dieses Buch zu schreiben. Als kopflastige Wesen haben wir alle die Tendenz, das Leben möglichst »richtig« und sehr kompliziert zu gestalten. Denn was »richtig« und was »falsch« ist, machen wir häufig an äußeren Faktoren fest und nicht an unserer Intuition und unserem inneren Wohlbefinden. Wie alles im Leben kann man auch den Ayurveda sehr kompliziert gestalten und verkrampft versuchen, möglichst jede einzelne Empfehlung als Regel oder Verbot gewissenhaft umzusetzen. Was aber wäre, wenn wir stattdessen versuchen würden, uns genau das herauszusuchen, das uns guttut, das uns Freude bereitet und sich sinnig anfühlt? Wenn wir uns auf das konzentrieren, was im Einklang mit uns selbst ist? Herzlich willkommen in diesem Buch – denn genau das werden wir nun mit Ayurveda...