Die Qual der Wahl
Es gibt in der Erziehung einen Grundsatz: Jede Entscheidung und jede Handlung, die aufgrund unserer Vorstellungen und Annahmen getroffen oder ausgeführt wird, löst entsprechende Folgen aus.
Unsere Handlungen beeinflussen nicht nur Sichtbares, sondern auch Unsichtbares und lösen somit oft ungewollt Konsequenzen aus. Man meint vielleicht, regelmäßige Essgewohnheiten einzuüben und zu entwickeln gehöre zu den einfacheren Übungen der Kindererziehung, da der natürliche Trieb, Nahrung zu sich zu nehmen, bei allen Lebewesen der am stärksten entwickelte ist. Oberflächlich betrachtet mag das zutreffen: Das Baby ist hungrig, also füttert man es. Was gibt es da schon mehr drüber zu wissen? Sich dürfen uns vertrauen – eine ganze Menge!
Wir wollen in diesem Kapitel erklären, wie sich die jeweilige Ernährungsphilosophie, für die sich Eltern entscheiden, auswirkt und welche Folgen sie für die Entwicklung weiterer Lebensbereiche eines Babys mit sich bringen wird. Denn jede Erziehungsphilosophie hat ihre eigene Symptomatik und wird Eltern auf eigene Wege und zu unterschiedlichen Ergebnissen führen. Außerdem beinhaltet jede Ernährungsphilosophie individuelle Erziehungsschwerpunkte und Ansichten darüber, was das Beste für das Baby ist. Allerdings gibt es zwischen den unterschiedlichen Strömungen keinen Konsens darüber, was tatsächlich das Beste für den Säugling ist und wie dies erreicht werden kann. Der Grund dafür liegt in der Tatsache, dass jeder Schwerpunkt in der Kindererziehung durch die jeweiligen Weltanschauungen und Vorstellungen über Kinder gesteuert wird. Unterschiedliche Prioritäten führen Eltern zwangsläufig zu unterschiedlichen Strategien und somit zu unterschiedlichen Ergebnissen.
Bedauerlicherweise, so muss man sagen, hören sich die aufgeführten Ziele und Prioritäten jeder Philosophie sehr nobel und überzeugend an, aber sie decken sich oft nicht mit den Ergebnissen. Insofern ist es vorteilhaft, wenn Eltern über die einzelnen Ernährungsphilosophien gut informiert sind und sie verstehen. Sie können dann eine gut überlegte Entscheidung zum Wohle des Kindes treffen.
--> Drei Ernährungsphilosophien
Lassen Sie uns einmal die drei bekanntesten Ernährungsphilosophien anschauen und dabei herausfinden, was uns diese über die heutigen Erziehungstheorien sagen.
Noch zu Anfang des 20. Jahrhunderts zog man Kinder in der Regel einfach nach dem gesundem Menschenverstand auf: Mütter stillten ihre Kinder, wenn diese Hunger hatten, in Abstimmung mit den häuslichen Pflichten und dem Leben der restlichen Familie. Routine bestimmte den Alltag und Fütterungszeiten waren Teil im Leben des Babys.
Heutzutage hingegen wird Eltern eine Vielzahl an Ernährungsphilosophien geboten, von denen jede ihre ganz eigene Fachsprache hat.
Vielleicht hat man Sie während Ihrer Schwangerschaft zum Stillen bzw. Füttern nach Bedarf ermutigt oder vor einem Zeitplan gewarnt. Oder Sie haben von einem bedarfsabhängigen Zeitplan oder selbstregulierenden Zeiten gehört. Vielleicht aber ist Ihnen auch geraten worden, schon nach einem bestimmten Rhythmus zu füttern, diesen aber nicht zu streng zu handhaben usw.
Was das Stillen bzw. Füttern betrifft, gibt es viele Ansichten. Woher kommen all diese Überzeugungen mit ihren ganz eigenen Methoden und Begrifflichkeiten und was bedeuten sie? Vergleicht man einmal die einzelnen Still- und Fütterungsgewohnheiten vergangener Jahrhunderte, erhält man einen Einblick in die Hintergründe:
1. Füttern/Stillen nach der Uhr (Behaviorismus)
Während in den USA bereits im 19. Jahrhundert neue Theorien in puncto Kindesentwicklung erschienen, dauerte es noch bis ins 20. Jahrhundert, ehe zwei konkurrierende Theorien die Aufmerksamkeit der Bevölkerung auf sich zogen. Die erste wurde von einer Gruppe Wissenschaftler eingeführt, die sich Behavioristen (behavior [engl.] = Verhalten) nannten. Sie vertraten die Meinung, dass vorwiegend Reize und Anregungen aus der Umgebung das menschliche Verhalten beeinflussen. Sie betonten stärker äußere Strukturen als die Entwicklung von Empfindungen und Gefühlen. Die Behavioristen waren davon überzeugt, dass eine kontrollierte Umwelt zu kontrollierten Gefühlen führt und man dadurch das perfekte Kind konditionieren könnte.
Durch die wachsende Frauenbewegung in den Zwanzigerjahren erhielt der Behaviorismus einen unabsichtlichen Aufschwung. Es war eine Zeit, die durch kurze Haare, knappe Röcke, Verhütungsmittel, Zigaretten und dem Trend weg von der Brust hin zur Flaschennahrung gekennzeichnet war, da nun durch die Entwicklung von Muttermilchersatz eine neue Freiheit entstanden war. Dadurch, dass Säuglingsnahrung nun per Fläschchen jederzeit angeboten werden konnte, entwickelte sich eine neue Form der Versorgung – das „Füttern nach der Uhr“ – gestützt auf die Annahme, dass ein streng einzuhaltender Vierstundenrhythmus das Beste für das Baby wäre. Folglich erwartete man gesellschaftlich, dass jede „gute“ Mutter nun diesen Zeitplan exakt und rigoros einhalten würde. Mit allen Konsequenzen. Was nichts anderes bedeutete, als dass ein Baby, das nach drei Stunden wieder Anzeichen von Hunger zeigte, Pech gehabt hatte. Es musste nun eben noch eine weitere Stunde – unter Geschrei – aushalten. Die Uhr war die letztgültige Autorität für die Fütterungszeiten, völlig ungeachtet der Bedürfnisse des Kindes oder der Mutter.1
2. Kindgesteuertes Füttern/Stillen nach Bedarf (Neoprimitivismus)
Mitte der 1940er-Jahre fing eine zweite Theorie an, den strikten Behaviorismus zu verdrängen. Es handelte sich dabei um eine Anwendung der Theorien zur Kindesversorgung des Psychoanalytikers Sigmund Freud. Eine kleine Gruppe späterer Freud-Anhänger meinte, dass Kinder durch die traumatischen Erfahrungen des Geburtsvorgangs bereits psychisch geschädigt geboren werden. Es wurde angenommen – durch damals beschränkte wissenschaftliche Erkenntnisse –, dass die Geburtserfahrung für das Neugeborene so traumatisch gewesen sein muss, dass dieser Geburtsschock jede künftige seelische Unausgewogenheit und Unsicherheit bedinge.
Der österreichische Psychoanalytiker Otto Rank wurde 1929 als erster Verfechter der Theorie über das Geburtstrauma anerkannt. Diese Überzeugung inspirierte in den 1940er-Jahren die neoprimitivistische Schule der Kinderversorgung, die von Ribble (1944), Aldrich (1945), Frank (1945) sowie Trainham, Pilafian und Kraft (1945) unterstützt wurde. Ihre Theorie besagt, dass die Trennung des Kindes von der Mutter bei der Geburt die Mutter-Kind-Harmonie der vorgeburtlichen Zeit jäh unterbricht. Deshalb muss es Ziel einer frühkindlichen Erziehung sein, diese Harmonie wiederherzustellen. Dabei geht die Theorie von zwei Annahmen aus: dass der Säugling im Mutterleib eine perfekte emotionale Einheit mit der Mutter hatte, diese aber durch den Geburtsvorgang verlor, und dass jedes Neugeborene sich unbewusst danach sehnt, in diesen sicheren und geborgenen Ort (des Uterus) zurückzukehren. Da dies körperlich nicht möglich ist, hat die Mutter die Aufgabe, ihrem Neugeborenen eine permanent „mutterleibartige“ Umgebung zu schaffen, die den psychischen Schock des Geburtstraumas wieder umkehrt.
Aus dieser Theorie ging ein spezifisches Regelwerk hervor, diese Bindung und Harmonie wiederherzustellen. Man nahm an, dass nur durch die konstante Gegenwart und Verfügbarkeit der Mutter bei Tag und bei Nacht, die dabei zu einem „primitiven Stil“ der Versorgung zurückkehren sollte, dieser Prozess der Wiederherstellung gelingen könne.2 „Das Baby sollte unentwegt gewiegt werden, bei der Mutter schlafen und mindestens bis ins zweite oder dritte Lebensjahr gestillt werden. Das Kind sollte der Mittelpunkt der Familie sein und alle Handlungen sollen seiner Behaglichkeit dienen und seine Ängste minimieren.“3
Der Geburtstrauma-Theorie fehlte es jedoch an objektiven, nachprüfbaren Daten, weshalb sie im Jahr 1949 wieder verworfen wurde. Etwa zur gleichen Zeit begann der Behaviorismus seinen bis dahin noch starken Einfluss zu verlieren. Dies lag teilweise an einem Kinderarzt, dessen erstes Buch zu seiner Lebenszeit 50 Millionen Mal verkauft wurde. Sein Name war Dr. Benjamin Spock und sein Buch hieß Baby and Child Care. Nach heutigen Maßstäben gilt Dr. Spock als gemäßigter Vertreter einer Kindererziehung nach gesundem Menschenverstand. Er betonte, dass Babys Individuen sind und am besten mit flexibler Routine, anstatt nach einem starren Schema versorgt werden sollten. Er lehnte die behavioristischen Annahmen, die alle Kinder über einen Kamm scherten, generell ab. Genauso lehnte er auch die kindzentrierten Grundsätze des Neoprimitivismus ab, die Aspekte von Struktur und Routine zurückweisen.4
In den 1980er-Jahren wurde jedoch Dr. Spocks gemäßigter Kurs sowohl von den Konservativen, die der Meinung waren, dass seine Ansichten zu liberal seien, als auch von den Liberalen untergraben. Beide Seiten empfanden seine Erziehungsratschläge als zu kontrollierend. Durch die Polarisierung von Dr. Spocks Ansichten und dem Abebben seiner Popularität wurde die Theorie des Geburtstraumas wiederbelebt.
Attachment Parenting: bindungsorientierte Elternschaft
Unter anderem Namen tauchte diese modernere Version der Theorie aus den 1940er-Jahren auf, während ihre Grundlagen unverändert...