Rahmenbedingungen abstecken: unsere Strategie
Nun war es soweit. Wir wollten anfangen mit unserer Balanced Scorecard. In einem ruhigen, wunderschönen Schlösschen im Badischen trafen wir uns an einem sonnigen Donnerstagmorgen, um in drei Tagen gemeinsam unsere Strategie als Voraussetzung für eine Balanced Scorecard zu erarbeiten.
Wir, das waren die vier Mitglieder der Geschäftsführung, die Leiter der beiden Bereiche Kinder- und Jugendbetreuung und Altenwohnheime, zwei Leiter von Einrichtungen beider Bereiche, drei jüngere Nachwuchskräfte sowie die Vorsitzende des Betriebsrates und Klaus Marwitz als Vertreter des Vereinsvorstandes. Zudem hatten wir je einen Elternvertreter sowie ein Wohnheim-Beiratsmitglied, eine agile Seniorin von 67 Jahren, dazu geladen – wir wollten ja auch deren „Perspektiven“ auf uns berücksichtigen. Aus insgesamt 15 Personen bestand unser Strategiekreis. Um einen effektiven Ablauf zu sichern, hatten wir zwei Moderatoren gebeten, den Workshop zu leiten.
Zu Beginn eine Überraschung
Es begann mit einer Überraschung. Wir starteten nicht mit statistischen Analysen und theoretischen Betrachtungen zu strategischen Grundfragen. Wir starteten mit der Frage an jeden Teilnehmer, welche Hobbys er in seiner Freizeit ausübt. Wofür er sich neben Beruf und Familie noch engagiert. Und was seine zwei wichtigsten Wünsche sind, die er sich in den nächsten zehn Jahren erfüllen will.
Das hat mich zunächst verblüfft. Über diese Themen hatten wir bisher kaum gesprochen. Aber als dann die Antworten kamen, waren wir doch alle erstaunt und auch ein wenig betroffen, wie wenig wir uns kannten – obwohl wir schon so viele Jahre miteinander arbeiteten. Vielleicht war es aber mehr ein Nebeneinander als ein Miteinander.
Welche Vorteile hat dieser sehr persönliche Einstieg?
Ich habe viel gelernt in dieser Stunde, von meinen Kollegen und über sie. Was für ein breites Spektrum an Interessen da zum Vorschein kam. Welche neuen Anknüpfungspunkte für persönliche Kontakte sich ergeben haben. Die Impulse, die von dieser Stunde ausgingen, spüren wir noch heute. Sie haben ein bisher nicht gelebtes „Wir-Gefühl“ in unserer Führungsmannschaft erzeugt. Die Kommunikation ist eine andere geworden. Das hat sich für die Arbeit des Vereins äußerst positiv ausgewirkt.
Im Verlauf der Zeit habe ich aber auch bemerkt, dass diese Gespräche über persönliche Hobbys, Engagements und Wünsche – zunächst ganz unbewusst, aber doch nachhaltig – die Ausprägung unserer Balanced Scorecard bis hin zu ihrer praktischen Umsetzung beeinflusst haben. In gewissem Sinne sind die persönlichen Interessen und Ziele in unsere Strategie mit eingeflossen. Erst dadurch ist sie wirklich „unsere“ geworden.
Natürlich verlief das Ganze nicht ohne Irritationen. Einige hatten sich noch nie vorher Gedanken darüber gemacht, was für sie in zehn Jahren wichtig und interessant sein könnte. Nicht jeder war bereit, über seine persönlichen Wünsche und Ambitionen zu sprechen. Aber die überwiegende Mehrheit ist erstaunlich offen und unbefangen mit den Fragen umgegangen. Und der Bann, der schon oft den Meinungsaustausch in solchen Runden erschwert hatte, war gleich am Anfang gebrochen.
Der strategische Horizont
Dies war auch nötig, denn unsere beiden Moderatoren fragten uns anschließend, was eigentlich das Besondere am Gutleb-Verein sei? Dies irritierte uns: Ich musste feststellen, dass weder ich noch meine „designierten Nachfolger“ und engsten Partner in der Geschäftsführung – Jochen Bierath, der „Finanzer“, Johanna Schranz, die neue Personalleiterin, und der noch recht junge Einkaufs- und Organisationschef Jens Harig – formulieren konnten, welche grundsätzliche Zielstellung der Gutleb-Verein eigentlich hat oder in Zukunft anstreben will.
Natürlich existierten bei allen bestimmte Vorstellungen im Kopf. Aber mehr als „Überschriften“ und ein „Bauchgefühl“ waren das nicht. Und kommuniziert hatten wir sie auch noch nicht. Weder unter uns noch mit den anderen Führungskräften und schon gar nicht mit der breiten Belegschaft. Das war im „operativen Alltag“ untergegangen.
Die Frage, der wir uns zuwandten, war die nach dem strategischen Horizont. Und wie bei der Unterscheidung von „strategisch“ und „operativ“ denken wir hierbei normalerweise ausschließlich an den zeitlichen Horizont. Aber vor der Zeit steht das inhaltliche Ziel. Wir müssen entscheiden, in welchen Bezug wir unser grundsätzliches Unternehmens-Ziel stellen wollen.
Für kleinere Firmen oder Organisationen ohne größere Verflechtungen und ohne nennenswerte Zukunftsaufwendungen (z. B. für Personalentwicklung, Marketing, Forschung & Entwicklung) ist der strategische Horizont nicht weit gesteckt. Meistens reicht die unmittelbare Erfahrungswelt des „Hier und Heute“ für die Zukunftssicherung, die einfach darstellbare Fortschreibung der erlebten Vergangenheit mit Hilfe einfacher Annahmen. Und sollten die äußeren Bedingungen sich gravierend verändern, sind Anpassungen leicht zu bewerkstelligen. Eben weil keine größeren Verflechtungen zu beachten oder Vorleistungen zu tätigen sind. Allerdings werden derartige Firmen selten eine Balanced Scorecard erarbeiten.
Für den Gutleb-Verein jedenfalls trifft diese Charakteristik nicht zu. Wir sind ein Verbund mehrerer Einrichtungen und darüber hinaus in Netzwerke verschiedenster Partner eingebunden; wir haben erhebliche Vorleistungen zu erbringen – seien es Investitionen in neue Gebäude oder Aufwendungen für Personalentwicklung. Eine Organisation wie wir muss also schon über den Tellerrand der unmittelbaren Erfahrungen hinausschauen, wenn sie ihre Zukunft sichern will.
Beispiel
Für den Gutleb-Verein sind solche Faktoren wie die demografische Entwicklung, die Entwicklung unseres Sozialsystems, aber auch die wirtschaftliche Entwicklung unserer Region bis hin zu Fragen der Teilzeitarbeit von enormer strategischer Bedeutung.
Wir müssen versuchen, die für uns relevanten Trends, die sich in der Gesellschaft vollziehen, zu erfassen.
Eine „kreative Spannung“ aufbauen und halten
„Und dafür brauchen wir fundierte Analysen“, warf ich ein. „Warum?“, fragte einer der Moderatoren. “Wenn wir nicht bloß die Vergangenheit fortschreiben, sondern Ziele so formulieren wollen, dass sich ein Engagement dafür lohnt, sollten wir uns dann nicht besser – gedanklich – von allem lösen, was war und ist?
Wir sollten uns erinnern, was jeder von uns und was wir gemeinsam in der Zukunft erreichen wollen, welche Rolle unser Unternehmen dabei spielt und wo wir stark sind! Deswegen hatten wir ja am Beginn des Workshops danach gefragt. Und nicht abstrakt den „Gutleb-Verein“. Eine Organisation für sich hat keine Ziele. Es sind die Ziele der Menschen, die den Verein tragen und in ihm arbeiten, aus denen letztlich das Ziel der Organisation resultiert.”
Der Moderator gab uns zu bedenken:
"Natürlich kann jeder seine eigenen Ziele als die der Organisation ausgeben und mag in der Lage sein, das durchzudrücken. Allerdings sind auf Dauer die Chancen relativ gering, dass sich die anderen vor diesen Karren spannen lassen und mit voller Kraft mitziehen.
Aber vergesst die Analysen nicht wirklich! Denn Ziele allein bewirken wenig, wenn wir nicht zugleich den gemeinsamen Sinn für die Realitäten schärfen. Erst damit schaffen wir im gesamten Verein das erforderliche Bewusstsein über die bestehende Lücke zwischen Ziel und Realität und den gemeinsamen Willen, diese Lücke durch geeignete Aktionen zu überbrücken. Deswegen haben wir über die Vorzüge und Nachteile unserer Wettbewerber gesprochen, damit wir die eigenen Stärken und Schwächen erkennen."
„Und eines noch“, fuhr er fort. „Für die Umsetzung der Entscheidungen ist es wichtig, den einmal geschaffenen gemeinsamen Willen zur Veränderung über eine lange Zeit zu halten und dem Drang nach einer schleichenden Erosion der Ziele zu widerstehen.“
Dabei kann die Taktik der kleinen Schritte, die Formulierung von Meilensteinen, hilfreich sein, sofern die ursprünglichen strategischen Ziele im Auge behalten werden.
Beispiel
Der Gutleb-Verein will Dienstleistungen für Dritte aufbauen. Dafür müssen wir diverse Voraussetzungen schaffen: Mitarbeiter qualifizieren, Marketingaktivitäten einleiten etc. Erst nach einer längeren Zeit werden sich diese Anstrengungen in zusätzlichen Umsätzen niederschlagen. Wenn wir die Mitarbeiter motivieren wollen, sollten wir daher mit früheren Messgrößen (z. B. „Reaktionen auf Marketing-Anzeigenserie“) operieren.
„Und zum Schluss: Wir dürfen nie aus den Augen verlieren, dass mit dem operativen Geschäft das Geld verdient werden muss, mit dem wir die Strategie bezahlen. Wir sollten also zumindest grob einschätzen können, was die Strategie kostet und ob wir uns das leisten können – anderenfalls erzeugen wir eher Frust als Motivation.“
Auf der Suche nach unserer Strategie
Erst...