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E-Book

Barmherzigkeit heute

Mit offenen Augen leben

VerlagVerlag Herder GmbH
Erscheinungsjahr2019
Seitenanzahl304 Seiten
ISBN9783451812736
FormatePUB
KopierschutzWasserzeichen
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis13,99 EUR
Barmherzigkeit ist eines der zentralen Themen von Papst Franziskus. Aber warum? Junge Autoren nähern sich diesem Begriff und stellen sich der zentralen Frage: Wozu heute noch barmherzig sein? Sie zeigen, dass Barmherzigkeit kein ausschließlich christlicher Gedanke ist, sondern allgemein wichtig ist für die moderne Welt.

Holger Zaborowski, Dr. Dr. phil., geb. 1974, Rektor der Philosophisch-Theologische Hochschule Vallendar, Professor für Geschichte der Philosophie und philosophische Ethik. ist Referent für Glaubensbildung in der Arbeitsstelle für Jugendseelsorge der Deutschen Bischofskonferenz. Er ist dort zuständig für die Internationalen Weltjugendtage, die XV. Weltbischofssynode und die Jugendpastoral neuer geistlicher Gemeinschaften. Er promoviert zudem an der Philosophisch-Theologischen Hochschule Vallendar in Religionsphilosophie. Martin W. Ramb, geb. 1969, studierte Philosophie, Andragogik und Theologie in Vallendar und Bonn. Als Schulamtsdirektor i. K. leitet er die Abteilung Religionspädagogik im Bischöflichen Ordinariat Limburg und ist Chefredakteur des Bildungsmagazins 'Eulenfisch'.

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Leseprobe

II. Dokumentation der »Jungen Akademie Barmherzigkeit« (2016)


Gerechtigkeit und Barmherzigkeit gehören ganz eng zusammen.


Die rheinland-pfälzische Ministerpräsidentin Malu Dreyer im Gespräch mit Martin W. Ramb und Holger Zaborowski

Frau Ministerpräsidentin, Barmherzigkeit ist ein Begriff, der etwas aus der Mode gekommen ist, der auch etwas altmodisch klingt, der im Lexikon der bedrohten Wörter sicherlich vorkommen würde. Gleichzeitig hat der Begriff Barmherzigkeit aber eine Faszination und einen wunderbaren Klang bei uns Menschen, wenn wir davon sprechen. Wie würden Sie den Begriff »Barmherzigkeit« für sich ganz persönlich übersetzen?

Der Begriff ist in der Tat in den letzten Jahrzehnten ein wenig aus der Mode gekommen, was ich schade finde, weil er aus meiner Sicht eine Bedeutung auch für die Politik hat. Seit Papst Franziskus das Jahr der Barmherzigkeit ausgerufen hat, wird weltweit wieder über das Thema Barmherzigkeit gesprochen. Das finde ich sehr gut. Für mich spielt Barmherzigkeit schon immer eine Rolle, weil ich mich der Bergpredigt sehr verbunden fühle – einem wahrlich herausfordernden Text. Darin heißt es: »Selig die Barmherzigen; denn sie werden Barmherzigkeit erlangen.« Übrigens direkt nach der Aussage »Selig, die hungern und dürsten nach der Gerechtigkeit; denn sie werden satt werden.« Gerechtigkeit und Barmherzigkeit gehören offensichtlich ganz eng zusammen. Barmherziges Handeln in diesem Sinne bedeutet für mich, dass Menschen einander ihre Schwächen verzeihen, sich gegenseitig so annehmen, wie sie sind, dem anderen vergeben. Das ist für mich eine wichtige Grundlage menschlichen Miteinanders, egal ob im privaten oder im beruflichen Bereich. In den politischen Alltag übersetzt, bedeutet Barmherzigkeit Solidarität und soziale Gerechtigkeit, was immer mehr meint als das, was einem gesetzlich zusteht. Bei genauer Betrachtung enthält das Wort »Barmherzigkeit« ja auch das Wort »Herz«, und das deutet auf die starke emotionale Komponente dieses Begriffs hin. Er ist für mich verbunden mit einem ganz starken Gefühl, auf diejenigen Menschen zu achten, die unsere Hilfe brauchen.

Gibt es Bereiche, in denen Sie sagen, dass dort Barmherzigkeit heute besonders wichtig ist? Also wichtiger als früher? Oder wo sehen Sie besondere Aufgaben für uns als Gesellschaft, für Sie als Politikerin auch Barmherzigkeit zu üben?

Ein sehr aktuelles Thema ist sicher die Situation der Flüchtlinge. Dieses Thema bewegt auch Papst Franziskus sehr, und es hat ihn vielleicht mit motiviert, ein außerordentliches Heiliges Jahr der Barmherzigkeit auszurufen. Die Aufnahme und Integration so vieler Menschen stellt uns in der Politik vor riesige Herausforderungen. Viele Menschen hierzulande fühlen sich verunsichert, vielleicht sogar in ihrem alltäglichen Leben und in ihrer wirtschaftlichen Lage bedroht. Aber ich bin fest davon überzeugt: Der notleidende Mensch darf uns nicht egal sein und unser christlicher Glaube und die Werteordnung unseres Grundgesetzes fordern uns auf, an dieser Not nicht vorbeizugehen – um des Menschen willen Barmherzigkeit zu üben. Das kann man gar nicht genug betonen, auch gerade weil wir zurzeit in der Gesellschaft so laute, kalte, fast unmenschliche Töne hören.

Meinen Sie denn, dass in der heutigen Zeit Menschen unbarmherziger miteinander umgehen als noch vor einigen Jahren? Das ist ja doch erstaunlich, dass wir viel über Barmherzigkeit reden. Wenn wir das Fernsehen anschauen und die Zeitung aufschlagen, dann kommen ganz unterschiedliche Situationen uns dort entgegen, die uns ja in der Barmherzigkeit möglicherweise auch treffen. Glauben Sie, dass sich da was getan hat in letzter Zeit? Greift uns das jetzt eher an, dass wir jetzt über Barmherzigkeit reden? Es muss ja eine Ursache haben. Es kann ja nicht nur sein, dass der Papst Franziskus das Jahr ausgerufen hat, und wir alle über Barmherzigkeit sprechen. Da muss ja noch irgendetwas Tieferes sein. Hat sich in der Gesellschaft was geändert?

Natürlich hat sich die Gesellschaft verändert, aber ich bin weit davon entfernt, hier nur Negatives zu sehen. Ich sehe vor allem ein sehr großes Potenzial. Nehmen wir zum Beispiel das ehrenamtliche Engagement, eine besonders schöne Form, Barmherzigkeit zu leben. Nahezu die Hälfte der über 14-Jährigen in Rheinland-Pfalz ist ehrenamtlich aktiv. Das ist eine unglaubliche Größenordnung, so viele Menschen, die sagen: »Wir engagieren uns!« Es ist ihnen nicht egal, wie es dem Nachbarn geht, sie kümmern sich. Auf der anderen Seite erleben wir aber auch, dass der Ton rauer geworden ist. Durch die aufkeimenden populistischen Bewegungen in unserer Gesellschaft entsteht auch eine neue Härte in der Sprache, in der Auseinandersetzung, in den sozialen Netzwerken. Wir erleben eine zunehmende Bereitschaft zur verbalen Gewalttätigkeit, die, wie wir sehen, leicht in physische Gewalt umschlagen kann. Wichtig ist mir auch, dass Barmherzigkeit nicht einfach mit Mitleid gleichgesetzt werden kann. Auch wenn es schwerfällt – wir müssen uns eingestehen, dass gleichzeitig inzwischen auch eine Art von Gewöhnung gegenüber dem Leid der Flüchtlinge eingetreten ist. Wir wollen und dürfen uns nicht daran gewöhnen, dass Menschen im Mittelmeer ertrinken – aber indem wir die Bilder überfüllter Flüchtlingsboote wieder und wieder sehen, lässt die Schockwirkung nach, vielleicht auch aus einem Gefühl der Überforderung oder Ohnmacht heraus. Das hebt das Gebot der Barmherzigkeit jedoch nicht auf. Daher – so glaube ich – ist es umso wichtiger, wieder über Begriffe und Inhalte wie Barmherzigkeit nachzudenken und sich selber auch zu fragen, was bedeutet das eigentlich für mich selbst. Wir beobachten, dass die Gesellschaft zurzeit verstärkt in der Gefahr ist, sich zu spalten. Wir haben auf der einen Seite diese vielen Menschen, die sich zum Beispiel in der Flüchtlingshilfe engagieren, andererseits aber auch diejenigen, die sich möglicherweise aus Unsicherheit und Angst von diesem offenen, toleranten, nächstenliebenden Gesellschaftsbild abwenden. Und das machen sich die Populisten zunutze, um Hass zu säen.

Welche Schritte halten Sie in der Situation dann für die wichtigsten? Wie würden Sie dann politisch die nächsten Jahre gestalten?

Mir scheint, dass es in der Gesellschaft derzeit viele Ängste gibt; zum Beispiel die Angst vor dem sozialen Abstieg, ob berechtigt oder nicht, sei mal dahingestellt. Da kann man nicht einfach sagen: »Wir leben jetzt Barmherzigkeit«, sondern die Menschen brauchen jetzt viel mehr und anderes. Sie brauchen aus meiner Sicht ein neues Zukunftsversprechen. Sie brauchen Sicherheit, und damit meine ich innere Sicherheit und soziale Sicherheit. Barmherzigkeit braucht auch einen Raum. Ich glaube, dass Menschen, die sich bedroht fühlen, nicht besonders offen sind für Nächstenliebe oder für Barmherzigkeit, weil sie damit beschäftigt sind, ihr Leben irgendwie zu meistern. Wir müssen die Sorgen der Menschen ernst nehmen und ihnen Sicherheit zurückgeben. Und ich glaube, dann öffnet sich auch wieder ihr Herz. Das ist beim Thema Flüchtlinge sehr gut zu beobachten. Da sind wirklich viele, viele Menschen sehr barmherzig, bis zum heutigen Tage. Das hat auch nicht wirklich nachgelassen, und trotzdem wissen wir, die Grenze der Belastbarkeit ist irgendwann erreicht. Die Menschen sind nicht mehr unbegrenzt offen, sondern sie brauchen die Gewissheit, dass der Staat dafür sorgt, dass auch sie ihr Leben leben können. Ich glaube, dass Barmherzigkeit nicht absolut zu sehen ist, sondern immer mit Blick auf die Situation des Einzelnen. Es braucht ein Mindestmaß an eigener Sicherheit und Freiheit von Angst, um barmherzig sein zu können. Dazu braucht man nicht reich zu sein. Sie wissen ja, dass vor allem oft auch die Armen die viel Barmherzigeren sind.

Die Werke der Barmherzigkeit sind fast alle schon zu Leistungen des Sozialstaates geworden. Notleidende Menschen sind nicht mehr in einem Maße wie früher vom barmherzigen Wohlwollen anderer Menschen abhängig. So gibt es z. B. Unterstützung, wenn man seine Arbeit verloren hat, auf die man einen Rechtsanspruch hat. Wäre es nicht sinnvoller, statt von Barmherzigkeit zu sprechen Gerechtigkeit oder Solidarität zu fordern?

Glücklicherweise ist es in unserer Gesellschaft nicht mehr so, dass wir von individueller Barmherzigkeit abhängig sind, sondern dass wir in einem Sozialstaat leben, in dem es rechtsstaatlich begründete Ansprüche zum Beispiel auf Grundsicherung gibt. Aufgabe des Sozialstaates ist es, dafür zu sorgen, dass Menschen ein Existenzminimum zum Leben haben und Hilfe und Unterstützung bekommen, wenn sie sie brauchen. Hier geht es nicht um Almosen oder Wohlfahrt, die aufgrund privaten Engagements gewährt werden. Es geht um handfeste Rechte auf Teilhabe oder finanzielle Unterstützung, die Menschen geltend machen können, zum Beispiel bei Arbeitslosigkeit, Pflegebedürftigkeit oder Behinderung. Das hat natürlich mit sozialer Gerechtigkeit zu tun und ist auch alles richtig. Aber ich glaube, Barmherzigkeit ist eine menschliche Haltung darüber hinaus. Es ist eine Sache, ob ich beim Sozialamt mein Geld zum Leben bekomme, und es ist eine andere Sache, ob es in der Gesellschaft Menschen gibt, die ganz einfach eine menschliche Haltung gegenüber anderen haben und sehen, was ein anderer ganz...

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