Einleitung: Gerätturnen – uralt und heute so aktuell wie nie
Turnen – „sich-turnerisch-bewegen“ – begann nicht erst mit der Wortschöpfung unseres Turnvaters Fr. L. Jahn (1778-1852), der in „turn“ einen „deutschen Urlaut“ vor sich zu haben glaubte. Die Beziehungen zum lateinischen tornare, dem französischen tourner und dem englischen Wort turn – ist aber ausgesprochen passend: drehen. Sich turnerisch bewegen strebt letztlich stets ein Drehen um die Längs- oder Breitenachse an: das Drehen, um auf dem Kopf zu stehen, rückwärts in die Brücke zu drehen, abspringen zum Überschlagen, in den Knien an der Stange zu hängen, um gedreht die Welt auf dem Kopf zu sehen; springen, abheben und Salto drehen und die Möglichkeit, sich über Kopf zu hängen und um die Stange zu drehen – alles, um einen Bewegungsrausch zu erleben und zu genießen.
Genetisch in uns Menschen veranlagt, ist dieses Erlebenwollen der Antrieb für wichtige Entwicklungsreize, die sowohl koordinativ (Körpersteuerung, Orientierungs- und Gleichgewichtsfähigkeit) als auch konditionell (Entwicklung vor allem der Rumpfkraft für eine gesunde aufrechte Haltung) begründet sind. Kaum eine andere Bewegungsaktivität als die turnakrobatische kann dies leisten. Damit unterscheidet das Turnen sich deutlich von den Fußgängersportarten. Gerade heute, in einer Zeit der Bewegungsarmut, sind bei der Generation der „Sitzkinder“ und der vor dem Computer u. Ä. m. sitzenden Jugendlichen schon die Folgen des fehlenden turnerischen Bewegens zu verzeichnen, erscheint es dringlicher denn je, – vor allem in der Entwicklungszeit der Heranwachsenden – wieder forciert turnerische Bewegungsangebote zeitgemäß anzubieten.
Das im gesunden Menschen in einer „normalen, natürlichen“ Umwelt immanente „turnerische Bewegungsbedürfnis“ war in der Menschheitsgeschichte immer präsent (vgl. Lukas, 1969, 14f.).
Wie alles begann …
Der für das „Turnen“ urgeschichtliche Ausgangspunkt scheint der Tanz als Kultritual gewesen zu sein. Im Laufe der Zeit entwickelten sich die Rituale zahlreicher Naturvölker auf der ganzen Welt hin zur Darbietung vor Publikum. Der Zuschauer gewann an Bedeutung und damit auch die bewusste Zurschaustellung von „Kunststücken“. Der geschichtliche Ausgangspunkt war das Bodenturnen.
Die ältesten Zeugnisse stammen u. a. aus Ägypten und Griechenland. In Abbildungen zeigt sich das turnerische Bewegen durch die Jahrhunderte und Jahrtausende auf Vasenmalereien, Kalksteinscherben und Höhlenzeichnungen in Form von Brücken, Handständen und Überschlägen.
Im Altägyptischen hat das Wort hbj die Bedeutung von Tanz, wird aber auch für die gymnastisch-turnerische Übung der „Brücke“ benutzt. Diese „Brücke“ wird im Mittleren und Neuen Reich mehrfach, zum Teil mit Bewegungsansätzen und als Reihenbilddarstellungen, als dynamischer Überschlag dargestellt.
Abb. 1a: 3.500 Jahre alte Reliefdarstellung einer ägyptischen Akrobatin
In der Zeit der ägyptischen Königin (Pharaonin) Hatschepsut vor 3.500 Jahren (18. Dyn.) schmückte man die Tempelwände des in El-Karnak am Nil größten jemals gebauten Tempels für den ägyptischen Gott Amun u. a. mit einem Relief auf braunem Quarzit (Block der „Roten Kapelle“), auf dem junge Frauen bei akrobatischen Überschlägen im Rahmen einer Festprozession zu sehen sind. Abbildung 1a zeigt eine daraus ausgewählte Akrobatin (vgl. Decker, 1987 und Decker & Herb, 1994).
In Abbildung 1b sieht man eine Akrobatin vor ca. 3.200 Jahren (19.-20. Dyn.) beim Überschlag. Als Malerei mit schwarzer Tinte und Farbe auf einem Kalksandsteintäfelchen wurde die Scherbe („Ostrakon“, 10,4 x 16,8 cm) in Deir el-Medina, einer ägyptische Ruinenstätte am westlichen Ufer des Nils bei Theben, gefunden. Obwohl ca. 300 Jahre jünger als die der Abbildung 1a, gleichen sich die Darstellungen (vgl. Decker, 1987 und Decker & Herb, 1994).
Abb. 1b: 3.200 Jahre alte Zeichnung einer ägyptischen Akrobatin
Aber auch „Turnübungen“ an Geräten sind geschichtlich vielfältig zu finden.
Bei den verschiedensten Naturvölkern gibt es jahrhundertealte Zeugnisse von Turnübungen an Geräten. Die Eskimos drückten Bilder ihrer Kultur in Elfenbein- und Knochenschnitzereien aus. Auch eine silhouettenartige Darstellung von Boden- und Reckturnern ist dabei gefunden worden. Sie turnten an einem reckähnlichen Gerät mit Lederseilen einen Auf- oder Umschwung. Wahrscheinlich im Tanz ein Tier darstellend wird am Boden ein Kopfstand oder eine Rolle vorwärts abgebildet (Abb. 2).
Abb. 2: Eskimoabbildungen auf Knochen geschnitzt: Kopfstand oder Rolle vorwärts und Reckturnen am Lederseil
Auch von Mikronesien, einer Inselgruppe im nordwestlichen Ozean, wird vom Reckturnen berichtet. Auf einer Zeichnung einer alten persischen Gymnastik um 1800 in Zurchâna sind Handstände im Raum – als Wandhandstand am Brett, das vom Rücken eines Partners gestützt wird – abgebildet. In Japan malte Hokusai (1770-1849) eine Reckübung an einem Bambusstab (Abb. 3).
Kinder scheinen sich im freien Bewegungsleben schon immer turnerisch bewegt zu haben. Eindrucksvoll bezeugt dies ein Bild von 1556 mit dem Titel „Kinderspiele“ des niederländischen Malers P. Bruegel der Ältere (um 1530-1569), der Heranwachsende u. a. im Kopfstand, Kniehang, bei der Rolle und beim Bockspringen malte. Um die gleiche Zeit schrieb der Italiener Archange Tuccarro das erste methodische Bodenturnbuch der Welt (s. u.).
Abb. 3: Reckübungen an einer Bambusstange, nach Hokusai (1770-1849)
Die Entwicklung schwieriger akrobatischer Übungen wurde im Mittelalter allmählich zur Domäne von Leuten, die als Berufsakrobaten ihre Kunst und Geschicklichkeit auf Jahrmärkten und an Königshöfen vorführten. Auch J. W. v. Goethe (1749-1832) beschreibt in seinem um 1796 erschienenen Werk „Wilhelm Meisters Lehrjahre“ im 2. Buch/4. Kapitel mit bewundernden Worten die Künste der Seiltänzer, Springer und Tänzer. Die zunehmend anspruchsvolleren Darbietungen der akrobatischen Gaukler – der ersten Profiturner – waren nur über eine zielgerichtete turnerische Ausbildung möglich.
Das erste methodische Bodenturnbuch der Welt
Große Bedeutung für die Weiterentwicklung der Akrobatik hatte ein Werk eines italienischen Berufsakrobaten: Archange Tuccarro, ein Gaukler, geboren um 1536 in Aquila in den Abruzzen/Italien, lebte zuerst am Hofe Kaiser Maximilians II. (Regierungszeit 1564-1576), begann dann als königlicher Hofspringer – als „Saltarin du roi” – am Hofe Karls IX. (Regierungszeit 1560-1574) von Frankreich und verfasste in Paris 1599 das außergewöhnliche Buch „Trois dialogues de l’exercise de sauter et voltiger en l’air“ mit 88 Holzschnitten.
Es ist faszinierend, das älteste Werk über Bodenturnen in den Händen zu halten1), darin zu blättern – und zu lesen! Überraschend modern stellt sich seine Lehrweise von Sprüngen, freien Überschlägen (Salti) am Boden, am Tisch und Sprung- und Sturmbrett dar. Sie werden ausführlich in Text und Bild beschrieben. Die Abbildungen sind lehrhaft mit Buchstaben und Pfeilen der Rotationsrichtungen versehen. Bewegungsteilphasen werden herausgestellt und methodisch über verschiedene Geräthilfen zu Kunststücken erarbeitet. Tuccarro schreibt, dass frühzeitig mit der Ausbildung begonnen werden soll. Für die Sieben- bis Achtjährigen verlangt er jedoch, zunächst Vorübungen zu machen. Interessant ist z. B. sein „Rückgratturnen“ (voltiger de l’eschine), das Beweglichmachen der Wirbelsäule (vgl. die erste Abbildung der Abb. 4). Für Tuccarro dürfen erst Jugendliche an die Salti herangeführt werden.
Liegt es an der Darstellung oder war es der Stil von Tuccarro? Die Bewegungen sind nicht wie im heutigen Kunstturnen voller Spannung dargestellt, sondern eher gelöst, eine spielerische Leichtigkeit ausdrückend. Die behandelten Fertigkeiten sind die gleichen Bodenturnfertigkeiten, wie wir sie im heutigen Gerätturnen finden: Rolle, Handstand und Rad (vgl. Abb. 4), verschiedenste Handstützüberschläge, freie (Salti-)Überschläge vorwärts, rückwärts (auch Auerbachsalto) und seitwärts, Hecht- und Schraubensalti. Aber auch Überschläge gehechtet, frei und mit...