2. Kapitel
Mondholz
Viele Pflanzen richten ihr Wachstum nach der Anziehungskraft der Erde aus und können dadurch beispielsweise auch an einem Hang steil nach oben wachsen oder ihre Wurzeln senkrecht in die Erde versenken. »Warum soll der Mond nicht auch Einfluss auf das Pflanzenwachstum haben? Was ist daran esoterisch? Wobei der Begriff auch völlig inflationär und falsch gebraucht wird: Esoterik bedeutet schlicht ›geheimes Wissen‹. Vielleicht ist der Einfluss des Mondes einfach noch nicht richtig erforscht, weil die Wirtschaft gar kein Interesse an solchen Forschungsergebnissen hat und Forschung um der Erkenntnis willen kaum mehr gefördert wird«, sinnierte ich, als ich am Abend auf der Terrasse saß und Mond und Sterne beobachtete.
Wissenschaftliche Erkenntnisse konnte mir Roland auch nicht nennen, als wir am nächsten Tag seine Finca erreichten, um Stecklinge auszupflanzen. »Das machen hier alle Einheimischen so, und ihre Vorfahren haben das auch so gemacht. Es weiß hier jeder, dass in der richtigen Mondphase gepflanzt und das Holz geerntet werden muss.«
Das Wissen der Alten zu ignorieren oder gar zu verspotten hat sich schon oft als Fehler erwiesen. Ich nahm mir vor, über das Mondphänomen noch einmal genauer zu recherchieren, musste mich jetzt aber einem ganz weltlichen Problem stellen: Vor mir standen vier ausgewachsene, in meinen Augen sehr stattliche, gesattelte Pferde, die neugierig ihre Köpfe nach mir reckten. Professionelle Reiterinnen hätten das sicher anders eingeschätzt, denn im Allgemeinen gelten die Pferde in Costa Rica als klein, wobei es dort natürlich auch unterschiedliche Rassen gibt.
Cowgirl
Zu welcher Rasse diese Tiere gehörten, interessierte mich in diesem Moment überhaupt nicht. Es waren zwei braune und zwei grauweiße Pferde – Schimmel, würde ich sagen –, mit denen mich Roland mit den Worten: »Such dir eins aus«, allein ließ. Es dauerte einige Minuten, bis ich bemerkte, dass mich Rolands Verwalter Elias amüsiert beobachtete. Als er sah, dass ich seiner Anwesenheit gewahr wurde, kam er lächelnd auf mich zu und fragte: »¿Que caballo quieres?«
Wenn er nicht gleichzeitig auf die Pferde gedeutet hätte, hätte ich keine Ahnung gehabt, was er von mir wollte. Meine Spanischkenntnisse tendierten noch immer gegen null, zu gracias hatte ich gerade einmal por favor – »bitte« – dazugelernt, und aus Elias’ Worten und Gesten reimte ich mir zusammen, dass caballo »Pferd« heißen musste. Da Elias so wenig Deutsch oder Englisch sprach wie ich Spanisch, versuchte ich mein Glück mit den wenigen Worten, die ich beherrschte und reimte intuitiv noch ein wenig dazu. »Caballo bravo, por favor«, gab ich stolz von mir.
»¿Seguro?«, fragte Elias ein wenig verwundert zurück, was ich treffsicher als »Sicher?« interpretierte. Ich nickte eifrig. Um meine Reitkünste stand es nämlich ähnlich schlecht wie um meine Spanischkenntnisse. Eine fatale Kombination, wie sich herausstellen sollte. Damals war ich aber felsenfest davon überzeugt gewesen, dass das Wort »brav«, ein wenig der spanischen Sprache angepasst, schon das Richtige bedeuten würde, und Elias hatte mich ja ganz offensichtlich verstanden, sonst hätte er nicht nachgefragt.
Die Tatsache, dass ich nicht das allererste Mal auf den Rücken eines Pferdes steigen würde und ich schon einmal mit Roland unfallfrei über die Finca geritten war, stärkte ein wenig mein Selbstbewusstsein. Ich erinnerte mich an den braven Schimmel, den ich jetzt leider nicht wiedererkannte – es standen ja zwei vor mir –, den ich mit einem Stöckchen immer mal wieder sanft hatte antreiben müssen, damit er sich überhaupt vom Fleck rührte. Damit ich nicht wieder auf einem Pferd sitzen würde, das keinen Meter vorwärts wollte, suchte ich mir vorsorglich schon einmal ein Stöckchen und marschierte selbstsicher auf meinen Schimmel zu, den Elias inzwischen für mich bereithielt.
Als ich mich, mit dem Stöckchen in der Hand, elegant auf den Rücken des Tieres schwang, dauerte es keine Sekunde, bis es anfing, wild zu buckeln und zu wiehern. Ich kam mir vor wie beim Rodeo und hielt mich auch nur einen winzigen Moment im Sattel, mein rechter Fuß war noch nicht einmal im Steigbügel. Ich beschloss, mich selber abzuwerfen, bevor das Pferd es tat, schwang mein rechtes Bein wieder zurück und sprang auf die Erde. Mit einer Hechtrolle rettete ich mich vor den Hufen des immer noch bockenden Pferdes und richtete mich langsam und zitternd wieder auf, als Monika und Roland gerade von ihren Erledigungen zurückkamen.
Nachdem sich die beiden davon überzeugt hatten, dass mir außer einem Schrecken nichts passiert war, stellte Roland mit einem empört klingenden spanischen Redeschwall Elias zur Rede. Mit Unschuldsmiene schilderte Elias dann den Vorfall ausführlich. Ich verstand kein Wort. Als Elias mit seinen Ausführungen endlich zu Ende war, brachen Monika und Roland in schallendes Gelächter aus, was mich wiederum empörte. Aber die Erklärung war einfach und zugegeben komisch.
Spanisch für Anfänger
Bravo heißt keinesfalls »brav«, sondern genau das Gegenteil: »wild«. Und obwohl Elias wusste, dass ich keine sonderlich gute Figur auf einem Pferd machte, hatte er meinem Insistieren nach einem caballo bravo nachgegeben. Er hatte mir den Wunsch nicht abschlagen wollen und natürlich keine Ahnung von meiner Wortkreation und der deutschen Bedeutung. Es war der Moment, in dem ich ernsthaft beschloss, Spanisch zu lernen.
Aber das war nicht mein einziger Fehler gewesen. In der Annahme, dass Elias mich richtig verstanden hatte und ich wieder auf dem gleichen lahmen Schimmel sitzen würde wie bei meinem letzten Ritt, hatte ich das Stöckchen in die Hand genommen. Nicht nur nicht ahnend, dass ich mir ein wildes Pferd ausgesucht hatte, sondern auch, dass ausgerechnet dieses Tier allergisch auf Stöckchen reagierte, hatte ich mich in den Sattel geschwungen. Elias hatte zwar auf mich eingeredet, als ich das Stöckchen in die Hand genommen hatte. Da ich aber ohnehin kein Wort verstanden und mit dem Aufsteigen schon genug beschäftigt war, hatte ich Elias in dem Moment fatalerweise ignoriert.
Nachdem mich Roland über das Missverständnis aufgeklärt hatte, stand ich beschämt und immer noch etwas geschockt auf und schwang mich auf das wirklich brave Pferd, das sich auch tatsächlich keinen Zentimeter bewegte, als ich endlich im richtigen Sattel saß. Mein Stöckchen hatte ich vergessen. Elias musste mir wenig später einen Zweig abbrechen, damit ich überhaupt vorankam, und endlich fühlte ich mich wieder einigermaßen sicher im Sattel.
Ursprünglich hatte ich Roland zu überzeugen versucht, mir seine 320 Hektar große Finca mit Flüssen, Urwäldern, Feldern und ersten Baumplantagen mit dem Pick-up oder zu Fuß zu zeigen, musste dann aber zugeben, dass selbst das geländegängigste Fahrzeug bei den teilweise überfluteten und matschigen Pfaden bald stecken geblieben wäre – und zu Fuß hätten wir wohl drei Tage gebraucht. Jetzt wartete ich auf das Glück, das sich angeblich auf dem Rücken der Pferde ausbreitete, war aber schon ganz zufrieden damit, dass meine Angst nach und nach wich.
Als wir den Fluss durchquert hatten und ich immer noch fest im Sattel saß, konnte ich mich langsam entspannen. Dass ich mich nach dem Ritt zu einer nächtlichen Tour beim kommenden Vollmond hatte überreden lassen, kann ich heute noch kaum glauben. Es hat danach mindestens zwei Wochen gedauert, bis mein Allerwertester nicht mehr schmerzte. Wir hatten mehr als zwölf Stunden, mit nur einer längeren Unterbrechung, im Sattel gesessen. Danach wusste ich, was »wundgesessen« bedeutet. Aber den Mond habe ich nie wieder so intensiv gesehen und gespürt wie damals. Er hat den Urwald fast taghell erleuchtet und uns zielsicher den Weg gewiesen. Normalerweise brauche ich meinen Schönheitsschlaf, aber in jener Nacht war ich wie elektrisiert von dem Mond, der überpräsent am Himmel gestanden hatte.
Und jetzt sollte der gerade mal halb volle Mond dabei helfen, dass die Stecklinge aus der Baumschule auf den ehemaligen Rinderweiden ordentlich Fuß fassten. Einige Tausend hatte Roland schon zur jeweils richtigen Mondphase ausgepflanzt, und wir kontrollierten nun, ob sie richtig angewachsen waren. Einige mussten ersetzt werden, aber die meisten waren ordentlich gewachsen und mussten nur regelmäßig von den vielen verschiedenen Schlingpflanzen befreit werden, die in Windeseile jede Erhebung erobern und andere Jungpflanzen oft abwürgen – vor allem Baumsetzlinge.
Was Roland mit zunehmender Sorge beobachtete, versetzte mich in helle Begeisterung: Unter den zahlreichen verschiedenen Schlingpflanzen hatte ich mindestens eine wilde Yams-Art identifiziert, die ich sofort kultivieren wollte, um sie später als Beipflanzung in der Baumplantage einzusetzen: Ein Forst, der Nahrung und Medizin produziert, war meine Vision und ist es heute noch. Damals haben leider meine sämtlichen außeruniversitären Versuchspflanzen die Leguane gefressen, und zu einem Neustart bin ich bis heute nicht gekommen, habe es aber immer noch vor.
Fasziniert von der Idee, dass die würgenden Schlingpflanzen eventuell noch von Nutzen sein konnten, ließ mich Roland gewähren, drängte aber zur Eile, da wir noch Bäume selektieren mussten. Es sollte die letzte große Pflanzaktion der Saison werden, denn der Regen hatte ungewöhnlich früh nachgelassen. Jetzt war es gerade noch sicher, dass die jungen Bäume genug Wasser bekommen würden, um ordentlich anzuwachsen.
In der Baumschule suchten wir die einjährigen Setzlinge nach Stärke und Wuchsform aus. Bei jedem einzelnen Spross war ich fasziniert von der Größe der...