Kapitel Eins
Der Pfad des Herzens
Stell dir vor, dass dich jemand so liebt, wie du es noch nie zuvor gespürt hast; dass du noch mehr geliebt wirst, als deine Mutter dich als Kind geliebt hat, mehr als dein Vater dich je liebte, dein Kind oder dein dich liebender Partner – wer auch immer. Diese Liebe will nichts von dir, ist nicht auf persönliche Befriedigung aus und will nichts mehr, als dass du völlig erfüllt bist. Du wirst einfach so geliebt, wie du bist, einfach deshalb, weil es dich gibt. Du musst dir diese Liebe nicht verdienen. Deine Fehler, dein Mangel an Selbstwertgefühl oder Schönheit oder dein gesellschaftlicher und wirtschaftlicher Erfolg – nichts davon spielt eine Rolle. Und niemand kann dir diese Liebe nehmen, sie wird immer da sein. Stelle dir vor, in dieser Liebe zu sein wäre wie ein entspannendes, immerwährendes und warmes Bad, das dich umgibt und trägt und das jeden Gedanken und jedes Gefühl durchdringt. Es fühlt sich an, als würdest du dich in dieser Liebe auflösen. Tatsächlich ist diese Liebe ein Teil von dir, sie fließt immerwährend durch dich hindurch. Sie ist wie die subatomare Struktur des Universums, die alles miteinander verbindet. Wenn du dich für dieses Fließen öffnest, fühlst du es in deinem Herzen – nicht in deinem physischen Herzen oder in deinem emotionalen Herzen, sondern in deinem spirituellen Herzen, dem Ort in deiner Brust, auf den du deutest, wenn du „Ich bin“ sagst.
Das ist dein tieferes Herz, dein intuitives Herz. An diesem Ort treffen dein höherer Geist, reine Bewusstheit, die feineren Gefühle und deine Seelenidentität zusammen und verbinden dich mit dem Universum. Hier gibt es diese Liebe, und hier sind Gegenwart und Liebe.
Es gibt diese bedingungslose Liebe wirklich. Sie ist ein Teil deines inneren Seins. Sie ist weniger ein tätiges Gefühl denn ein Daseinszustand. Sie sagt nicht: „Ich liebe dich“ wegen dieser oder jener Ursache oder gar: „Ich liebe dich, wenn du mich liebst.“ Es ist eine Liebe ganz ohne Anlass, Liebe ohne einen Gegenstand. Du sitzt einfach nur in dieser Liebe, der Stuhl selbst ist in dieser Liebe, und sie durchdringt alles. Dein denkender Geist wird von dieser Liebe ausgelöscht.
Wenn ich mich an den Ort in mir begebe, der Liebe ist, und wenn du dich an den Ort in dir begibst, der Liebe ist, dann sind wir in Liebe verbunden. Dann sind du und ich wahrhaft in der Liebe, im Seinszustand der Liebe. Das ist die Pforte, die Schwelle zum Eins-Sein. Diesen Raum habe ich betreten, als ich auf meinen Guru traf.
Vor vielen Jahren saß ich in Indien im Hof eines kleinen Tempels in den Ausläufern des Himalaya. Dreißig oder vierzig von uns umgaben meinen Guru, Maharaj-ji. Dieser alte Mann, in eine einfache Decke gehüllt, saß auf einem Holzbett. Für einen kurzen, ungewöhnlichen Augenblick lang wurde es still. Die Stille war meditativ, wie ein weites Feld an einem windstillen Tag oder ein tiefer, klarer, unbewegter See. Ich spürte, wie Wellen voller Liebe zu mir ausstrahlten, die mich überspülten wie die sanfte Brandung eines tropischen Strandes, in die ich eintauchte, die mich sanft schaukelten, meine Seele liebkosten. Sie waren unermesslich offen und nahmen mich völlig an.
Ich fühlte mich völlig überwältigt, brach fast in Tränen aus, so dankbar und so voll Freude, dass ich kaum glauben konnte, was da gerade geschah. Ich öffnete meine Augen und schaute mich um. Ich spürte, dass alle anderen dasselbe erlebten. Ich sah zu meinem Guru hin. Es saß einfach nur da, blickte um sich, tat nichts. Es war einfach sein Wesen, dass wie die Sonne gleichermaßen auf alle schien. Die Strahlen waren nicht gezielt auf jemanden gerichtet. Für ihn war diese Ausstrahlung nichts Besonderes, sie war nur sein natürlicher Zustand.
Diese Liebe ist wie das Strahlen der Sonne, eine Naturkraft, die Vervollständigung dessen, was ist, eine Glückseligkeit, die jeden Partikel des Seins durchdringt. Auf Sanskrit heißt das sat-cit-ananda (Sein-Bewusstsein-Glückseligkeit), die Glückseligkeit des Bewusstseins des Daseins. Das Schwingungsfeld der ananda-Liebe durchdringt alles, alles in dieser Schwingung ist in Liebe. Es handelt sich um einen Bewusstseinszustand jenseits des Verstandes. Maharaj-jis Liebe brachte uns von einem Schwingungsebene zur nächsten, von der Ebene des Ego zu jener der Seele. Als Maharaj-ji mich durch diese Liebe zu meiner Seele führte, starb der Verstand. Vielleicht ist diese bedingungslose Liebe deshalb so schwer in Worte zu fassen. Die besten Beschreibungen stammen aus der Feder mystischer Dichter. Fast all unsere Worte beziehen sich auf die Perspektive der bedingenden Liebe, auf die zwischenmenschliche Perspektive, die sich an diesem bedingungslosen Ort jedoch einfach auflöst.
War Maharaj-ji in meiner Nähe, badete ich in dieser Liebe. Einer der anderen westlichen Besucher Maharaj-jis, Larry Brilliant, meinte:
Wie soll ich nur erklären, wer Maharaj-ji war und wie er das machte, was er machte? Ich habe keine Erklärung. Vielleicht war es seine Liebe zu Gott. Ich kann nicht erklären, wer er war. Vielleicht verstehe ich allmählich, warum er alle lieben konnte. Es war eben seine Aufgabe, er war ein Heiliger. Heilige sollten ja alle lieben.
Aber es verblüffte mich nicht einmal, dass er jeden liebte – sondern dass ich, wenn ich vor ihm saß, selbst alle liebte. Das war für mich am schwersten zu verstehen, wie er den Geist der Menschen um sich so transformieren konnte, dass er nicht nur das Beste in uns zu Tage förderte, sondern etwas, das zuvor nicht in uns war, von dem wir nichts ahnten. Ich glaube nicht, das einer von uns jemals im ganzen Leben wieder so gut oder rein oder liebevoll war, wie zu dem Zeitpunkt, an dem wir vor ihm saßen. 1)
Willkommen also auf dem Pfad des Herzens! Ob du es glaubst oder nicht, für dich kann es wahr werden: bedingungslos geliebt werden und selbst zu dieser Liebe werden. Der Pfad dieser Liebe führt nirgendwohin. Er bringt dich nur stärker ins Hier, in den gegenwärtigen Augenblick, in die Wirklichkeit dessen, der du bereits bist. Der Pfad bringt dich aus dem Verstand und mitten in dein Herz.
Der Mensch neigt von Natur aus zur Liebe. Menschen aller Zeiten und Regionen haben diesen Pfad in ganz unterschiedlichen Kulturen entdeckt. In Indien nennt man ihn bhakti Yoga, die Entdeckung des vollendeten Einsseins durch die Liebe. Diese Tradition reicht viele Jahrhunderte zurück. Die Übungen des bhakti Yoga stellen einen Weg dar, in die bedingungslos Liebe einzutreten, in das strahlende Herz, sich im Meer der Liebe aufzulösen, im Einen. Später wirst du in diesem Buch auf einige der indischen „Heiligen“ treffen, die zu dieser Liebe wurden, und Möglichkeiten kennenlernen, wie du selbst diesen Pfad beschreiten kannst. Es gibt kein Rezept. Jeder von uns braucht seinen ureigenen Schlüssel, um die Wirklichkeit des Herzens zu erschließen.
Sich in die Liebe fallen lassen
Wenn du als Erwachsener zum ersten Mal die bedingungslose Liebe spürst, kann es sich wie das sanfte Schmelzen eines Gletschers anfühlen oder wie eine Naturkatastrophe, wie ein Erdbeben, das dich bis in dein tiefstes Inneres erschüttert. Du verliebst dich, aber wie dich diese Liebe erfasst, ist so intensiv und allumfassend, dass sie dein Selbstbild verwandelt. Man kann nicht in einem grenzenlosen Meer schwimmen und gleichzeitig im Gartenteich des begrenzten Selbst verharren. Selbst wenn sich die Pforte nur einen Augenblick lang öffnet, wenn sie wieder verschwindet und scheinbar vergessen wird, färbt dieser Augenblick der Bewusstwerdung, der Herzöffnung, dein gesamtes restliches Leben. Es gibt kein Zurück mehr. Die letztendliche Süße bleibt und kann nie mehr verleugnet werden.
Jesus wählte den Fischer als Metapher. Wenn du zum ersten Mal diese tiefe Freude spürst, bist du in der reinen Liebe des göttlichen Fischers gefangen; diese Liebe hat dich am Haken. Mein Guru ist wie ein Fliegenfischer. Das Ego zerrt und windet sich und versucht, sich von dieser Leine zu reißen, aber jedes Mal dringt der Haken der göttlichen Liebe tiefer ein, und schließlich ergibt sich dein kleines Selbst, die Persönlichkeit mit all ihren Gewohnheiten, das Bündel an Gedanken und Sehnsüchten, dem größeren Selbst, diesem Wesen aus reiner Liebe und Bewusstheit, dass dich zu sich zieht und mit dir eins wird.
Als ich zum ersten Mal nach Indien kam, lehnte ich die Vorstellung eines Gurus entschieden ab. Mich zog der Buddhismus an, weil er den Psychologen in mir ansprach. Wie also landete ich dann vor den Füßen eines Hindu-Gurus? Als ich ihn zum ersten Mal begegnete, wusste ich gar nicht, was ich da wollte. Als mich aber Maharaj-ji in seine bedingungslose Liebe tauchte, veränderte das mein ganzes Leben. Meine Vorstellung von mir selbst krempelte sich völlig um. Das Treffen öffnete mein Herz. In diesem Augenblick öffnete ich mich meinem Guru – und zwar nicht nur dem alten Mann in der Decke, der vor mir saß, sondern dem Ort in ihm, an dem mein wahres Selbst gespiegelt wurde. Aus diesem Selbst stammt die bedingungslose Liebe.
Als ich nach meinem ersten Indienaufenthalt in die Vereinigten Staaten...