1 Hochsensibilität – auf den Spuren eines Phänomens
Modellierton
Im großen Atelier
liege ich: eine Handvoll Ton
Verlassen von den Händen, die mich kneteten
langsam kommt Kälte in mir hoch
Die Gefahren um mich herum, krauses Holz
wenn ich falle, piekst es mich gemein
Könnte Ton erröten, würde ich Farbe annehmen
wenn ich an das denke, was ich einmal werden soll
Das Modell einer Büste
eine Ehrerbietung für jemanden, der unsterblich werden soll
Dieses kleine Gedicht schrieb ich als Fünfzehnjährige. Erst Jahre später, als ich mehr über Hochsensibilität wusste, begann ich, meine eigene Metapher zu verstehen. Wie treffend stellte doch die Handvoll Ton, an der allerlei nicht dazugehörendes Material wie Hobelspäne hängen, meinen Kampf mit auf mich einströmenden Gedanken, Gefühlen, Geräuschen und anderen Reizen dar. Das Gedicht handelte also von Hochsensibilität! So fühlte ich mich damals, und so fühle ich mich eigentlich noch immer. Ständig bleibt an mir zu viel hängen; Dinge, die nicht zu mir gehören, die eine ganz andere Qualität haben, die Fremdmaterial sind. Und gleichzeitig möchte dieselbe Handvoll Ton gerne mitwirken am Zustandekommen von etwas Schönem, einer Skulptur, einem Werk, das Bedeutung hat und tröstet. Das ist das Spannungsfeld, in dem sich jede hochsensible Person, jedes hochsensible Kind bewegt.
1.1 Das Besondere an hochsensiblen Kindern
Hochsensibilität ist eine vererbte Eigenschaft mit vielen Gesichtern. Die meisten Erwachsenen, die zu mir kommen, wirkten als Kinder auf ihre Eltern schüchtern, introvertiert oder überempfindlich. Manche Eltern fanden ein solches Kind pflegeleichter und machten sich keine weiteren Gedanken. Andere Klienten berichten hingegen, dass ihre Eltern sie als schwierig, unruhig und als Problemkind bezeichnet hatten.
Eingeführt wurde die Bezeichnung von der Psychologin Elaine N. Aron. Nach einer medizinischen Behandlung, auf die sie besonders stark reagierte, nannte die Krankenpflegerin sie „hochsensibel“. Diese Bezeichnung – damals noch kein Fachbegriff – faszinierte sie so sehr, dass sie sich entschloss, das Phänomen näher zu erforschen und seinen Ursachen auf die Spur zu kommen. Sie entwarf Fragebögen und untersuchte Versuchspersonen auf verschiedene Art, um die Merkmale von Hochsensibilität herauszufinden. Zunächst dachte sie an die Charaktereigenschaft Introversion, doch je mehr sie dies mit ihrer anwachsenden Eigenschaftsliste sensibler Menschen verglich, desto mehr zeigte sich interessanterweise, dass Sensibilität und Introversion nicht unbedingt Hand in Hand gehen. Es gibt auch sehr sensible Menschen, etwa 30 Prozent um genauer zu sein, die sich nicht nur als sehr sensibel empfinden, sondern auch als extravertiert. Das führte zu Arons Entdeckung, dass Sensibilität in einem gesunden Charakter eine eigenständige Eigenschaft ist.
Die Bezeichnung „Hochsensibilität“ definiert Empfindsamkeit mehr von innen, während Carl Gustav Jungs Intro- und Extraversion eher Etiketten sind, die einer Persönlichkeit von außen aufgedrückt werden. In anderen Worten: Introversion beschreibt Symptome, während Hochsensibilität die Ursache erklärt. Laut Aron haben Hochsensible ein empfindlicheres Nervensystem, wodurch sie innere und äußere Reize gründlicher verarbeiten. Sie sind empfindlicher gegenüber Emotionen wie Schmerz und Freude und werden leichter überwältigt von Geräuschen, Gerüchen und visuellen und taktilen Reizen aus ihrer Umgebung. Sie benötigen im Allgemeinen mehr Ruhe und Verarbeitungszeit.1
1997 schrieb Elaine Aron ihr erstes umfassendes Werk über dieses Thema, The Highly Sensitive Person. Folgende Eigenschaften sind Aron zufolge zusammengefasst besonders charakteristisch:
• viele subtile Eigenschaften der Umgebung wahrnehmen,
• tief gehend über das Wahrgenommene nachdenken,
• mehr Zeit benötigen, um all diese Eindrücke zu verarbeiten.
Wichtig ist, dass Aron keine Wertung vornimmt. Hochsensible Kinder und Erwachsene haben nicht „bessere“ Sinnesorgane als andere, sie verarbeiten die einströmende Information lediglich tiefer und ausführlicher. Sie bemerken mehr Details, sowohl in ihrer Umgebung als auch in ihrem Innenleben.
Aron beschreibt die hochsensible Persönlichkeit auch als pause-to-check-Typ, d.h. als jemanden, der eine Pause einlegt, um nachzudenken (check) bevor er mit einer Handlung beginnt. Das heißt nicht, dass ein hochsensibles Kind wortwörtlich ständig stehen bleibt, denn viel von diesem Pausieren und Nachdenken spielt sich im Inneren ab. Das Kind kann auf vielerlei Art in Gedanken sein, um Möglichkeiten abzuwägen, Strategien durchzuspielen oder zu zweifeln. Dabei spielt häufig auch Angst eine Rolle.
Ein hochsensibles Kind kann man ein bisschen mit einem Vogel vergleichen, der Krümel auf der Terrasse aufpickt und zwischendurch immer wieder prüft, ob Gefahren lauern. Das hochsensible Kind rennt bedeutend seltener ungestüm in neue Situationen hinein. Es wägt eher die Nachteile und Gefahren ab, bevor es handelt.
Es gibt die Vermutung, dass das vorsichtige Naturell der hochsensiblen Persönlichkeit auf eine Zunahme neuronaler Verbindungen zurückgeht, die mit dem Erleben von Stress und Gefahren in Verbindung stehen. Tatsächlich bestätigen Forschungsergebnisse mehr und mehr diese Annahme (mehr dazu in Kap. 5).
Woher weiß ich nun, ob mein Kind hochsensibel ist? Schauen Sie sich die folgende Eigenschaftsliste an. Treffen etwa 14 Punkte auf Ihr Kind zu, können Sie davon ausgehen, dass es hochsensibel ist.
Hochsensible …
• bemerken viele Details und Finessen,
• mögen Veränderungen nicht so gerne, denn neue Situationen sind besonders stressig,
• erscheinen öfters schüchtern und zurückhaltend,
• können bei Überreizung ziemlich gefühlsbetont reagieren,
• lieben Routine und Vorhersagbarkeit,
• haben Zugang zu Informationen, die manchmal nicht sinnlich wahrnehmbar sind,
• haben eine reiche innere Erlebenswelt,
• träumen, fantasieren und überlegen viel und gerne,
• denken tiefschürfend über Dinge nach (diese Eigenschaft ist nicht dasselbe wie Hochbegabung),
• sind fürsorglich und aufmerksam, solange sie nicht überreizt sind,
• können Stimmungen anderer gut nachvollziehen,
• erreichen schneller als andere die Erschöpfungsschwelle,
• stören sich mehr als andere an körperlichen Unannehmlichkeiten,
• können träge erscheinen,
• sind sich ihrer selbst und der Interaktion mit anderen sehr bewusst,
• sind kreativ und erfinderisch,
• sind gerne in der Natur,
• haben schon in jungen Jahren Interesse an Religion und/oder Mystik.
Wie gesagt, keine zwei Kinder sind jemals gleich. Bei all den typischen Merkmalen gibt es immer auch Ausnahmen. Mir ist es wichtig, darauf hinzuweisen, dass ein hochsensibles Kind mehr ist als diese Eigenschaft. Neben Hochsensibilität hat jedes Kind weitere Eigenschaften. Aus Faktoren wie dem persönlichen Energieniveau, der Fähigkeit zur Selbstregulation und der Intelligenz ergibt sich Stück für Stück ein Gesamtbild der Persönlichkeit. Ist das Kind durchsetzungsstark oder lässt es sich schnell entmutigen? Ist es schnell abgelenkt oder kann es sich gut konzentrieren? Wie gefühlsbetont ist es in seinen Reaktionen? Welche Interessen hat es? Ist es ein Junge oder ein Mädchen, und welche Stellung hat es in der Familie? Hat es einen geselligen Charakter und ist es gerne unter Menschen, oder ist es eher ein Einzelgänger, der gefühlsbetonte Kontakte lieber meidet? Und vor allem, unter welchen Umständen wächst das Kind auf und welche Charakterpanzerungen und Schutzmechanismen entwickelt es notgedrungen, um in seiner Umgebung zu überleben? Die Persönlichkeit ist keine statische Identität, sondern wächst und entwickelt sich unter dem Einfluss verschiedener Faktoren.
1.2 Die Suche nach dem nächsten Kick
Ist Hochsensibilität nun eine Eigenschaft oder ein Menschentyp? Die Antwort ist: Sie ist beides. Obwohl sie eigentlich nicht mehr als eine Facette des Charakters ist, sind Auswirkungen und Folgen dieser Eigenschaft so erheblich, dass man von einem Persönlichkeitstyp sprechen kann.
Das...