Was ist Staatsverschuldung? Worauf sollte sich die angestrebte Begrenzung von Staatsverschuldung beziehen? Obwohl es offensichtlich ist, dass eine wirksame Begrenzung nur möglich ist, wenn tatsächlich alle Formen der Verschuldung berücksichtigt werden, wird dieser Punkt in der öffentlichen Diskussion oft vernachlässigt. Auch die Literatur zur Begrenzung von Staatsverschuldung ist hier erstaunlich eindimensional: Wie in Kapitel C.4 zu sehen sein wird, beziehen sich fast alle relevanten Begrenzungskonzepte nur auf die so genannte explizite Staatsverschuldung.
Blankart definiert Staatsverschuldung als alle gegen den Staat gerichteten Forderungen.[6] Dies beinhaltet neben den „expliziten“, verbrieften Schulden auch „implizite“, unverbriefte Ansprüche. Diese werden in den ersten beiden Abschnitten untersucht. Mit den impliziten Schulden werden auch die entsprechenden Tragfähigkeitskonzepte vorgestellt. Anschließend werden auch klassische Konzepte der Nachhaltigkeitsdiskussion kurz vorgestellt.
Den Schulden steht das Vermögen des Staates gegenüber. Da in der so genannten „Goldenen Regel der Staatsverschuldung“ Verbindlichkeiten und Vermögen, sowie Defizite und Neuinvestitionen des Staates gegenübergestellt werden, wird diese im dritten Abschnitt diskutiert. Abschließend wird der für diese Arbeit relevante Verschuldungsbegriff festgehalten.
Im allgemeinen Sprachgebrauch versteht man unter Staatsverschuldung die Finanzschulden eines Staates: den Schuldenstand, also den Bestand an öffentlichen Schuldtiteln sowie die staatliche Neuverschuldung, das heißt die jährliche Veränderung des Schuldenstandes. Auch die politische Diskussion dreht sich fast ausschließlich um diesen Aspekt der Staatsverschuldung. Diese Arbeit beziehen sich auf diese Form der Verschuldung als „explizite Verschuldung“. Sie ist die offensichtlichste und am einfachsten zu beziffernde Form der Staatsverschuldung, aber mitnichten die einzige. In vielen Fällen ist sie gar nur die Spitze des Eisbergs.
Die explizite Verschuldung wird meist in absoluten Zahlen oder relativ zum Bruttoinlandsprodukt ausgedrückt. Besondere Bedeutung haben – auch durch die Maßgaben des Maastricht-Vertrages – das Verhältnis des Schuldenstands zum nominalen Bruttoinlandsprodukt und das Finanzierungsdefizit, bezogen auf das nominale Bruttoinlandsprodukt, erlangt. Diese Kennziffern dienen auch in anderem Kontext als Bewertungs- und Vergleichsmaßstab.[7]
Für die Ermittlung der Daten werden zwei unterschiedliche Rechenwerke verwendet. Die Finanzstatistik erfasst Einnahmen und Ausgaben der öffentlichen Gesamthaushalte (einschließlich Sondervermögen und Sozialversicherung) nach ihrer Kassenwirksamkeit, wird daher als „Kassenstatistik“ bezeichnet. In der Volkswirtschaftlichen Gesamtrechnung (VGR) hingegen werden die Daten nach ihrer Entstehung erfasst. Man spricht daher von einer „Vermögensänderungsstatistik“.[8] Für gängige verfassungsrechtliche Verschuldungsbegrenzungen ist in der Regel die Finanzstatistik relevant. Bei internationalen Vergleichen oder auch den Defizitgrenzen des Europäischen Stabilitäts- und Wachstumspaktes liegen meist die VGR oder verwandte Systeme, wie das Europäische System volkswirtschaftlicher Gesamtrechnungen (ESVG), zugrunde. Die Kennziffern beider Systeme können zum Teil erheblich voneinander abweichen.[9]
Der Schuldenstand drückt die absolute Höhe der Verschuldung aus. Er ist die Summe aller früheren Defizite und Überschüsse. Da die absoluten Zahlen aber zur Evaluierung der Verschuldung von beschränkter Aussagekraft sind, werden sie in Relation zu anderen Kennziffern wie Einwohnerzahl oder nominalem Bruttoinlandsprodukt gesetzt. Ersteres ergibt die Pro-Kopf-Verschuldung, letzteres die Schuldenstandsquote. Diese zeigt das Ausmaß der Verschuldung im Verhältnis zur wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit eines Landes. t bezeichnet die Periode. Bezeichnet man den Bestand an Schuldtiteln zu Beginn der Periode mit B, das Bruttoinlandsprodukt mit Y und den Deflator desselben als P, so ergibt sich die Schuldenstandsquote b wie folgt:
Forderungen wie die von Eisner nach einer inflations- und marktwertorientierten Bewertung des Schuldenstandes haben sich nicht durchgesetzt.[10]
Die folgenden Grafiken geben einen Eindruck vom Umfang der Verschuldung in Deutschland[11] und einigen anderen Ländern und zeigen ihren gravierenden Anstieg im Laufe der Zeit. Bei der Betrachtung der Verschuldungsquoten fällt deutlich ins Auge, dass es eine treppenförmige Entwicklung gibt. Bei besonderen Ereignissen wie der Ölkrise, der deutschen Einheit oder der jüngsten Finanzkrise steigt das Verschuldungsniveau rapide, um sich dann für ein paar Jahre auf hohem Niveau zu stabilisieren und dann weiter zu steigen. Offensichtlich gelingt es nicht, den Anstieg in der Krise zu bremsen oder die Verschuldung danach wieder zurückzuführen.
Abbildung 1: Schuldenstand der öffentlichen Haushalte in Deutschland
Abbildung 2: Schuldenstandsquote der öffentlichen Haushalte in Deutschland
Abbildung 3: Schuldenstandsquoten im internationalen Vergleich
Der internationale Vergleich der letzten Grafik illustriert die Folgen der jüngsten Finanzkrise. Deutschland konnte seine Verschuldung in der Krise halbwegs stabil halten. Hingegen haben die Vereinigten Staaten und das Vereinigte Königreich, Länder mit traditionell eher niedriger Verschuldung, ihre Schuldenstandsquoten deutlich erhöht. Der japanische Schuldenstand spiegelt eine seit Jahren eher mäßig erfolgreiche expansive Fiskalpolitik wider. Bemerkenswert ist die Entwicklung in der Schweiz, welche auch auf die in Kapitel C.3.4 diskutierte Schuldenbremse zurückzuführen ist.
Während Schuldenstand und -quote für die Bewertung der Gesamtsituation relevant sind, kann die aktuelle Politik anhand der Neuverschuldung und der daraus resultierenden Defizitquote bewertet werden. Die Neuverschuldung ist das Defizit (der Überschuss) des laufenden Jahres. Die Neuverschuldung, oder allgemeiner ausgedrückt der Finanzierungssaldo FS, ergibt sich aus der jährlichen Budgetgleichung[12]
wobei E die staatlichen Einnahmen ohne Kredite bezeichnet, G die Primärausgaben (Ausgaben ohne Zinszahlungen) und i den Zinssatz. Der Finanzierungssaldo kann auch als Änderung des Schuldenstandes dargestellt werden
Setzt man dieses wiederum in Relation zum BIP, so erhält man die Defizitquote (wenn fs < 0), bzw. allgemein ausgedrückt die Quote des Finanzierungssaldos fs.
Anhand der jeweiligen Quoten lässt sich (3) auch ausdrücken als
Nimmt man für die Veränderungsraten des Bruttoinlandsproduktes n und seines Deflators p
und benennt die Veränderungsrate des nominalen Bruttoinlandsproduktes mit m, so kann man unter der Bedingung , dass
gilt, (5) in
umformen. Die Schuldenstandsquote eines zukünftigen Jahres T > t lautet dann
Dies kann umgeformt werden in
so dass folgende Grenzwertbetrachtung gilt:
Die letzte Gleichung drückt aus, dass die Schuldenstandsquote bei konstanter Defizitquote gegen den Quotienten aus Defizitquote und Wachstum des nominalen Bruttoinlandsproduktes tendiert. So bräuchte es z.B. bei einer Defizitquote von 3 v.H. ein Wirtschaftswachstum von 5 v.H. um das Verschuldungsniveau auf der 60 v.H.-Schwelle des europäischen Stabilitäts- und Wachstumspaktes zu halten.[13]
Die folgende Grafik zeigt die Entwicklung der deutschen Defizitquote. Auffällig sind die Ausschläge im Zusammenhang mit der Ölkrise in den 70ern, der Wiedervereinigung 1990 und der Finanzkrise 2009. Der folgende internationale Vergleich illustriert die unterschiedliche fiskalische Tradition, aber auch den unterschiedlichen Umgang mit der Finanzkrise.
Abbildung 4: Defizitquote Deutschland
Abbildung 5: Defizitquoten im internationalen Vergleich
Zu beachten ist der Unterschied zwischen Netto- und Bruttoneuverschuldung, wobei offensichtlich ist, dass ersteres die relevante Größe ist. Nur die Nettoneuverschuldung zeigt die tatsächliche Veränderung des Schuldenstandes. Bezieht man die Neuverschuldung...