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Bekenntnisse eines Ichmenschen: Das Leben des Henri Brulard (Autobiografie + Tagebücher)

Erinnerungen eines Egotisten

AutorStendhal
Verlage-artnow
Erscheinungsjahr2014
Seitenanzahl440 Seiten
ISBN9788026824923
FormatePUB
Kopierschutzkein Kopierschutz
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis1,99 EUR
Dieses eBook: 'Bekenntnisse eines Ichmenschen: Das Leben des Henri Brulard (Autobiografie + Tagebücher)' ist mit einem detaillierten und dynamischen Inhaltsverzeichnis versehen und wurde sorgfältig korrekturgelesen. Marie-Henri Beyle (1783 - 1842) besser bekannt unter seinem Pseudonym Stendhal, war ein französischer Schriftsteller, Militär und Politiker. Er nahm als blutjunger Leutnant 1799-1800 im 6. Dragonerregiment an Napoleons siegreichem Italienfeldzug teil. Dabei lernte er als Adjutant eines Generals das Land, insbesondere die Stadt Mailand, von der besten Seite kennen und entwickelte sich zum Liebhaber italienischer Kunst, Musik und Lebensart. In seinen Zeugnissen aus und über Braunschweig (1806-1808), das Briefe, Tagebücher und Reisebeschreibungen enthält, lieferte er eine amüsante Beschreibung der Braunschweiger Gesellschaft. Der Fokus von Erinnerungen eines Egotisten liegt auf dem Jahr 1821, in dem Stendhal nach seiner unerfüllten Liebe zu Mathilde Dembowski von Mailand nach Paris zurückkehrte. Frühere und spätere Begebenheiten werden nur in Form von Rückblenden und Vorgriffen erzählt. Seine Mailänder Jahre von 1817 bis 1821 haben dabei für ihn traumatischen Charakter und werden niemals beleuchtet, obwohl sie stets im Zentrum von Stendhals Überlegungen stehen. Einen sehr großen Raum nehmen Beschreibungen von Personen ein, denen Stendhal in den Salons seiner Zeit begegnete. Dabei handelt es sich teils um bekannte Personen der Zeitgeschichte, wie etwa Marie-Joseph Motier, Marquis de La Fayette, teils nur um private Kontakte. Inhalt: Bekenntnisse eines Ichmenschen: Das Leben des Henri Brulard (1783-1800) Erinnerungen eines Egotisten (1821-1832) Lebensabend Tagebuch aus Italien (1801) Tagebuch aus Paris und Marseille (1802-1806) Tagebuch aus Braunschweig (1807-1808) Eindrücke aus Norddeutschland Der Feldzug in Österreich Tagebuch aus Paris (1810 - 11) Tagebuch von 1813-1814 (Paris, Deutschland, Italien) Tagebuch aus Italien (1815-1816) Aus dem Tagebuch ..

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Leseprobe

Erstes Kapitel
Rückblick des Fünfzigjährigen


Inhaltsverzeichnis


Heute morgen, am 16. Oktober 1832, war ich in San Pietro in Montorio auf dem Janiculus in Rom. Die Sonne schien prächtig. Ein leichter, kaum merkbarer Scirocco wehte ein paar weiße Wölkchen über die Albaner Berge hin. Köstliche Wärme lag in der Luft. Ich genoß mein Leben. Deutlich erkannte ich die vier Miglien entfernten Orte Castel Gandolfo und Frascati mit der Villa Aldobrandini, in der sich Domenichinos herrliche Judith-Freske befindet. Deutlich sah ich die weiße Mauer der letzten Neubauten des Fürsten Francesco Borghese, desselben, den ich bei Wagram als Oberst eines Kürassierregiments gesehen habe. Weiterhin erblicke ich die Felskuppe von Palestrina und das weiße Haus von Castel San Pietro, dessen frühere Festung. Unter der Mauer, an die ich mich lehne, stehen die hohen Orangenbäume des Kapuzinergartens. Weiterhin sehe ich den Tiber und die Maltheservilla, etwas weiter rechts dahinter das Grabmal der Cäcilia Metella, San Paolo fuori und die Cestiuspyramide. Mir gegenüber Santa Maria Maggiore und die lange Linie des Quirinalspalastes. Das ganze alte und neue Rom von der alten Via Appia mit den Ruinen ihrer Grabmäler und Aquädukte bis zu dem herrlichen Garten auf dem Pincio, einer Schöpfung der Franzosen, entfaltet sich vor meinen Blicken.

Dieser Ort ist einzig in der Welt, sagte ich mir traumverloren, und unwillkürlich zog ich das alte Rom dem neuen vor; alle Erinnerungen an Titus Livius wurden in mir wach. Auf dem Albanerberg, zur Linken des Klosters, erkannte ich das Hannibalslager.

Welch prachtvoller Blick! Hier also hat man Raffaels »Verklärung« zweiundeinhalbes Jahrhundert lang bewundert. Welch ein Unterschied gegen die düstere graue Marmorgalerie im Vatikan, in der sie heute begraben ist! Zweihundertundfünfzig Jahre lang war dies Meisterwerk hier, zweihundertundfünfzig Jahre! … Ach, in drei Monaten werde ich fünfzig Jahre alt! Ist’s möglich? 1783 … 1793 … 1803 … ich zähle es mir an den Fingern ab … und 1833 fünfzig! Ist’s möglich? Fünfzig? Bald bin ich in den Fünfzigern und kann mit Grétry singen:

»Ist man erst fünfzig Jahre alt.«

Diese unverhoffte Entdeckung regt mich keineswegs auf. Ich war bei Hannibal und den Römern. Größere als ich sind gestorben! … Alles in allem, sagte ich mir, habe ich mein Leben nicht schlecht angewendet. Angewendet? Nun, das heißt, der Zufall hat mir nicht allzuviel Unglück beschert. Denn fürwahr: habe ich selbst irgendwie planvoll gelebt?

Wie hätte ich mich sonst in Fräulein von Griesheim verliebt? Was konnte ich von einem Edelfräulein erhoffen, der Tochter eines Generals, der zwei Monate vorher, nach der Schlacht bei Jena, den Dienst quittiert hatte! Brichaud hatte ganz recht, als er mir mit gewohnter Bosheit sagte: »Wenn man eine Frau liebt, so fragt man sich: ›Was will ich von ihr?‹«

Ich habe mich auf die Stufen von San Pietro gesetzt und da ein bis zwei Stunden dem Gedanken nachgehangen: ich werde bald fünfzig Jahre alt; es wäre wohl Zeit, mich kennen zu lernen. Was war ich? Was bin ich? Fürwahr, ich wäre sehr in Verlegenheit, es zu sagen.

Ich gelte für einen sehr geistreichen und fühllosen Mann, selbst für einen Roué, und doch sehe ich, daß ich immerfort unglücklich geliebt habe. Wahnsinnig geliebt habe ich Fräulein Kably, Fräulein von Griesheim, Frau von Diphortz, Mathilde, und keine von ihnen habe ich besessen. Mehrere dieser Liebschaften haben drei bis vier Jahre gedauert. Mathilde hat in den Jahren 1818 bis 1824 mein ganzes Dasein erfüllt. Und ich bin noch nicht von ihr geheilt, muß ich hinzufügen, nachdem ich über eine Viertelstunde von ihr geträumt habe. Hat sie mich je geliebt?

Ich war gerührt, begeistert, in frommer Stimmung. Und Menta – welchen Kummer hat sie mir nicht bereitet, als sie mich verließ. Mich schaudert bei dem Gedanken an den 15. September 1826 in San Remo nach meiner Rückkehr aus England. Was für ein Jahr habe ich vom 15. September 1826 bis zum 15. September 1827 durchlebt! An diesem furchtbaren Jahrestage war ich auf der Insel Ischia. Ich fühlte eine merkliche Besserung. Statt unmittelbar an mein Unglück zu denken, wie ein paar Monate vorher, schwebte mir nur noch die Erinnerung an den unseligen Zustand vor, in dem ich zum Beispiel im Oktober 1826 war. Diese Beobachtung war mir ein großer Trost.

Was war ich also? Ich werde es nie wissen. Welchen noch so scharfblickenden Freund könnte ich befragen? Selbst di Fiore könnte mir keine Auskunft geben. Welchem Freunde habe ich je etwas über meinen Liebeskummer gesagt?

Und das Sonderbarste und Unglücklichste war – so sagte ich mir heute morgen –, daß meine Siege (so nannte ich es damals, den Kopf voll militärischer Anschauungen) mir nicht halb soviel Genuß bereitet haben, wie meine Niederlagen mich grämten.

Die Freude an dem erstaunlichen Sieg über Menta war nur ein Hundertstel so groß, als das Leid, das sie mir angetan hat, als sie mich um Herrn v. Bospiers willen verließ.

War ich also von schwermütigem Charakter?

Da ich darauf keine Antwort wußte, begann ich unbewußt wieder den herrlichen Anblick der Ruinen Roms und seiner jetzigen Größe zu genießen. Mir gegenüber ragt das Kolosseum, und mir zu Füßen liegt der Palazzo Farnese mit seinen schönen offenen Bogenstellungen, dicht unter mir der Palazzo Corsini.

War ich geistreich? War ich zu irgend etwas befähigt? Graf Daru sagte, ich sei unwissend wie ein Karpfen. Ja, aber dies Wort hat mir Mareste hinterbracht, und der grämliche alte Generalsekretär beneidete mich um meinen fröhlichen Charakter. Aber war ich von fröhlichem Charakter?

Kurz, ich bin erst vom Janiculus herabgestiegen, als der leichte Abendnebel mich vor der plötzlichen, sehr unangenehmen und ungesunden Kälte warnte, die hierzulande unmittelbar auf den Sonnenuntergang folgt. Ich kehrte schleunigst in den Palazzo Conti auf der Piazza Minerva zurück. Ich war matt. Ich trug Beinkleider aus weißer englischer Baumwolle. Innen auf den Gürtel habe ich geschrieben: »16. Oktober 1832: Je vais avoir la cinquantaine« (bald werd’ ich fünfzig Jahre alt), und zwar, damit es niemand versteht, abgekürzt in: »J. vaisa voir la 5.«

Abends, als ich ziemlich gelangweilt von dem Empfang beim Botschafter heimkehrte, sagte ich mir, ich müsse mein Leben aufschreiben. Wenn das vollbracht ist, in zwei bis drei Jahren, werde ich vielleicht endlich wissen, was ich war: heiter oder schwermütig, geistreich oder dumm, tapfer oder feige, und schließlich alles in allem: glücklich oder unglücklich. Und dies Manuskript kann ich meinem Freunde di Fiore zu lesen geben.

Dieser Gedanke lächelt mir zu. Ja, aber die schreckliche Häufung von Ichs und Michs! Das kann auch den wohlwollendsten Leser verdrießen. Ich und Mich, das wäre – bis auf das Talent – wie bei Herrn von Chateaubriand, dem König der Egotisten:

»Und immer fällst du in das Ich und Mich.«

Ich sage mir diesen Vers jedesmal auf, wenn ich etwas von ihm lese. Man könnte freilich in der dritten Person schreiben: Er tat, er sagte. Ja, aber, wie soll man da die inneren Seelenregungen wiedergeben? Gerade darüber möchte ich di Fiore um Rat fragen. Ich komme erst am 23. November 1835 zur Fortsetzung. Der Gedanke, my life zu beschreiben, ist mir zuletzt auf meiner Reise nach Ravenna gekommen. Allerdings habe ich ihn seit 1832 recht oft gehegt, aber stets hat mich die furchtbare Schwierigkeit des Ich und Mich abgeschreckt, durch die sich der Autor unleidlich macht, und ich weiß nicht, wie ich sie umgehen soll. Tatsächlich bin ich nichts weniger als sicher, etwas schriftstellerische, Begabung zu haben. Ich schreibe manchmal nur sehr gern, das ist alles.

Wenn es eine andere Welt gibt, so werde ich nicht verfehlen, Montesquieu zu besuchen. Sagt er mir: »Armer Freund, Begabung hatten Sie ganz und gar nicht«, so wird mich das zwar ärgern, aber durchaus nicht überraschen. Ich fühle das oft: welches Auge kann sich selbst sehen? Erst vor drei Jahren habe ich das »Warum« gefunden.

Ich sehe deutlich, daß viele Schriftsteller von großem Rufe unerträglich sind. Was heute über Chateaubriand zu sagen eine Lästerung wäre, wird im Jahre 1880 ein truism (Gemeinplatz) sein. Ich habe mein Urteil über Chateaubriand nie geändert: als sein »Génie du Christianisme« um 1803 erschien, fand ich es lächerlich. Aber die Fehler eines andern herauszufühlen, heißt das, selbst Begabung haben? Ingres ist gegen Gros völlig im Rechte, ebenso Gros gegen Ingres. (Ich wähle zwei Künstler, von denen man im Jahre 1935 vielleicht noch reden wird.)

Diese Überlegung hat mich betreffs dieser Denkwürdigkeiten beruhigt. Angenommen, ich setze dies Manuskript fort und verbrenne es nicht, wenn ich es vollendet habe. Ich vermache es nicht einem Freunde, der fromm werden oder sich einer Partei verkaufen kann, wie der junge Leichtfuß Thomas Moore. Ich vermache es einem Verleger, z. B. Herrn Levavasseur in Paris. Somit bekäme nach meinem Tode ein Verleger...

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