13Vorwort
Immer wenn sie etwas kaufen oder verkaufen, tauchen die sozialen Akteure in die Warenwelt ein, von der zu weiten Teilen und häufig mehr, als sie zuzugeben bereit sind, ihre Erfahrung dessen abhängt, was sie für die Realität halten. Waren sind zirkulierende Dinge, und was sie eint, ist der Vorgang, dass jedes Mal ein Preis für diese Dinge anfällt, wenn sie gegen Bargeld in andere Hände übergehen. Trotzdem bleiben diese Dinge weiter vielgestaltig, sodass die Warenwelt sich nicht als opake Totalität darstellt, was sie undurchschaubar machen würde, sondern als strukturiertes Ganzes. Die Bezugnahme auf solche Strukturen erlaubt die Identifizierung der getauschten Dinge. Und weil sie über ein stillschweigendes Verständnis dieser verinnerlichten Strukturen verfügen, können die sozialen Akteure sich in der Warenwelt orientieren, Handelsgeschäften nachgehen und vor allem Urteile über das Verhältnis zwischen den Dingen und ihrem Preis fällen.
Doch diese Strukturen und die Beziehungen, die sie zwischen den Dingen, ihrem Preis und dem ihnen zuerkannten Wert herstellen, beruhen auf einer räumlich verankerten Ausdifferenzierung und sind historisch bedingt. Sie verändern sich mit der Zeit ‒ je nachdem, wohin der Kapitalismus sich verlagert, unter dessen Joch der Handel mit Dingen in den meisten Gesellschaften der Gegenwart steht. Wenn man die Warenstrukturen, auf die sich der Handel im 21. Jahrhundert in einem Großteil Europas und womöglich der Welt stützt, mit den Strukturen im 19. Jahrhundert vergleichen möchte, geben Walter Benjamins diesbezügliche Analysen einen nachvollziehbaren Rahmen an die Hand: In »Paris, die Hauptstadt des XIX. Jahrhunderts«[1] speisen sich seine 14Überlegungen zur Geschichte und seine Kritik an einer »verdinglichten Vorstellung von Kultur« aus einer Reflexion über die Ware im Zeitalter des triumphierenden Kapitalismus. Waren »manifestieren sich« in der »Unmittelbarkeit sinnlicher Präsenz« und untrennbar davon ‒ behauptet Benjamin ‒ »als Phantasmagorien«, in denen der »Flaneur« sich verliert, »der sein Asyl in der Menge sucht«. Benjamin hebt die seinerzeit radikal neuen Formen hervor, die die »Weltstadt« annimmt, die nicht nur die Finanzwelt, Luxusartikel und den »Geist der Mode« zusammenführt, sondern auch die durch Blanqui verkörperte revolutionäre Boheme sowie vor allem die Industrie und das Proletariat. In erster Linie interessiert Benjamin der Nachweis, inwiefern die Wesen ‒ Personen und Dinge, die sich auf dem selben Raum zusammendrängen ‒ einen radikalen Bruch mit der Vergangenheit verkörpern ‒ einen Bruch, der durch die Entstehung des Industrie- und des Finanzkapitalismus gekennzeichnet ist und in den von Haussmann veranlassten Zerstörungen und der mit ihnen einhergehenden Neuordnung des städtischen Raums konkrete Gestalt annimmt. Das Zeitalter des »Fetisch Ware« meine, seine Legitimität aus einer futuristischen Inszenierung der Segnungen der »Technik« zu beziehen, und »der sture Fortschrittsglaube« mache den Historiker, der sich in den »Sieger« »einfühlt«, unweigerlich »zum Werkzeug der herrschenden Klasse«.[2]
Wenn man die Figur des Flaneurs ins Paris des 21. Jahrhunderts versetzt, findet sie sich nun aber in einer ganz anderen Realität wieder. Diese ist nicht weniger kapitalistisch als die, mit der es der Flaneur zu tun hatte, den Benjamin heraufbeschwört. Doch die »Luxusartikel« brüsten sich jetzt nicht mehr damit, »industriell« zu sein, im Gegenteil: Sie bemühen sich, ihre Wurzeln in einer Serienproduktion vergessen zu machen, welche sich um15so leichter unterschlagen lässt, als sie weitgehend in das Umland anderer, weit entfernter »Weltstädte« ausgelagert worden ist. Die kapitalistische Akkumulation setzt sich fort und wird sogar stärker, aber sie stützt sich auf neue ökonomische Instrumente und geht mit einer Diversifizierung der Warenwelt einher, die sich nach den Modalitäten richtet, wie der Wert der einzelnen Waren ermittelt bzw. zur Geltung gebracht wird.[3] Dieses Buch widmet sich der Beschreibung dieser Transformation, die in den Staaten besonders spürbar ist, die ‒ wie insbesondere Frankreich ‒ die Wiege der industriellen Leistungsfähigkeit Europas darstellten; es analysiert die Verteilung der Waren auf verschiedene Wertermittlungsformen.
Von daher ist unsere Arbeit in zwei Richtungen orientiert, die wir versuchen werden, miteinander zu verknüpfen. Die erste ist eher historischer Natur. Ihr Gegenstand ist ein ökonomischer Wandel, der ab dem letzten Viertel des 20. Jahrhunderts die Art und Weise zutiefst verändert hat, wie in jenen westeuropäischen Ländern Werte geschaffen wurden, die zum einen durch die Deindustrialisierung gekennzeichnet sind und zum anderen durch die zunehmende Ausbeutung von Ressourcen, die zwar nicht völlig neu sind, aber eine beispiellose Bedeutung gewonnen haben. Unserer Ansicht nach wird das Ausmaß dieses Wandels nur sichtbar, wenn man Gebiete miteinander in Verbindung bringt, die im Allgemeinen getrennt voneinander betrachtet werden, nämlich vor allem die Künste, und zwar besonders die bildenden Künste, die Kultur, den Antiquitätenhandel, die Gründung von Stiftungen und die Schaffung von Museen, die Luxusindustrie, die Patrimonialisierung und den Tourismus. Wir werden versuchen zu zeigen, dass man mit Hilfe der beständigen Interaktion zwischen diesen verschiedenen Gebieten die Art und Weise versteht, wie in jedem von ihnen Profit generiert wird, und unsere 16These lautet, dass sie alle auf der Ausbeutung einer einzigen Quelle beruhen, nämlich auf der Ausschlachtung der Vergangenheit.
Wir werden diese Art von Ökonomie »Bereicherungsökonomie« nennen. Dabei spielen wir mit der Mehrdeutigkeit des Ausdrucks »enrichissement«, den wir zum einen in dem Sinne verwenden, in dem man von der Anreicherung eines Metalls spricht, von der Bereicherung eines Lebens, dem Reicherwerden einer Kultur, der Veredelung eines Kleidungsstücks oder auch von der Bereicherung, die es darstellt, wenn eine Sammlung um eine Reihe von Objekten erweitert wird. Damit soll die Tatsache hervorgehoben werden, dass diese Ökonomie weniger auf der Produktion von neuen Dingen beruht, als vielmehr bereits vorhandene Dinge vor allem dadurch reicher zu machen versucht, dass sie sie mit Geschichten verknüpft. Zum anderen verweist der Ausdruck »Bereicherung« auf eine Besonderheit dieser Ökonomie, dass sie sich nämlich den Handel mit Dingen zunutze macht, die vornehmlich für Reiche bestimmt sind, die mit ihnen als zusätzliche Bereicherungsquelle Handel treiben. Unserem Eindruck nach ist die Beachtung dieser Bereicherungsökonomie und ihrer Auswirkungen erforderlich, um die Transformationen der französischen Gesellschaft der Gegenwart sowie bestimmte Spannungen zu erfassen, die ihr innewohnen.
Die zweite Richtung, in die unsere Arbeit geht, ist eher analytischer Natur. Sie zielt darauf zu verstehen, wie ganz verschiedene Waren zu Transaktionen führen können, die in den Augen der entweder als Anbieter oder als Interessenten beteiligten Akteure zumeist völlig normal wirken und den vorher ausgebildeten Erwartungen mehr oder weniger entsprechen. Mit dem Ausdruck »Ware« bezeichnen wir alle Dinge, für die ein Preis anfällt, wenn sie den Besitzer wechseln. Denn wenn die Warenwelt nicht auf teilweise impliziten Organisationsmodi beruhen würde, bliebe unverständlich, wie die Akteure sich in Anbetracht ihrer sagenhaften Verschiedenheit in ihr orientieren sollen. Das kommerzielle Geschick der Akteure ist zwar ganz verschieden und vom Niveau ihrer kaufmännischen Sozialisierung abhängig. Doch ohne eine Minimalkompetenz würde ein Akteur sich schlicht und ein17fach verirren und wäre nicht in der Lage, sich einen Weg durch eine Welt zu bahnen, in der die Rolle und die Zahl der Markttransaktionen so sehr an Bedeutung gewonnen hat wie in den modernen Gesellschaften. In diesem Sinne werden wir von Warenstrukturen sprechen.
Wenn sie sich auf solche untergründigen Strukturen stützen, können die Akteure eine reflexive Haltung gegenüber dem Verhältnis jener beiden heterogenen Arten von Entitäten ‒ nämlich einerseits den Dingen und andererseits den Preisen ‒ einnehmen, aus denen die Ware als solche sich zusammensetzt, anstatt diese Verbindung bloß als Synthese zu rezipieren und ihre Auswirkungen passiv hinzunehmen. Doch wenn man verstehen möchte, wie...