Prolog
Als ich aufwachte, war es dunkel. Ich brauchte ein paar Sekunden, um mich zu orientieren. Wo war ich? Was war das für ein Raum, was für ein Bett, in dem ich da ausgestreckt lag? Als sich der Nebel des Fremden auflöste, begriff ich. Ich lag im Krankenhaus. Neben mir stand auf Rollen ein metallisch blitzender Galgen. An seinem Ende hing an einem halbrund gebogenen Haken eine Flasche. Langsam gewöhnten sich meine Augen an die Dunkelheit, und ich konnte erkennen, daß aus der Flasche, etwa in Fünf-Sekunden-Abständen, Tropfen in einen kleinen Behälter fielen und von dort in einen durchsichtigen Schlauch rannen, der in die Vene meines rechten Armes mündete. Das alles ging völlig geräuschlos vor sich, und doch glaubte ich es hören zu können: plop – plop – plop ...
Ich schaute auf meine Uhr, die gleich neben mir auf einem dieser weißen Nachttische lag, wie es sie nur in Krankenhäusern gibt. Komplett aus Metall, mit einer Schublade, die meist klemmt, darunter eine Ablage ohne Rückwand und eine Klapptür, die nur unter Zuhilfenahme beider Hände zu öffnen ist, weil sonst gleich das ganze Gestell davonrollt. Es war kurz vor Mitternacht. Ein paar Minuten noch, dann würde ein neuer Tag beginnen, der 28.Mai 1998. Gegen sechs Uhr käme eine freundliche Schwester mit einer häßlich dicken Nadel, würde mir freundlich lächelnd Blut abzapfen, dann den Puls messen und sich anschließend freundlich lächelnd verabschieden, weil Schichtwechsel wäre und sie, im Gegensatz zu mir, endlich heimgehen könnte.
Ich war gar nicht müde, und das wunderte mich fast. Den ganzen Tag über hatten sie sich gegenseitig die Klinke meiner Zimmertür in die Hand gegeben. Ein Journalist, dann noch einer, ein Fotograf, ein Kamerateam vom Fernsehen, meine Frau Brigitte, ein paar gute Freunde, Bekannte, Ärzte, Schwestern, die Laborantin, noch ein Journalist, noch zwei Fotografen und später erneut Brigitte. Ich mußte, gemessen an diesem Besucherstrom, der Star im Krankenhaus von Bruneck sein. Und während der ganzen Zeit läutete fast ohne Unterlaß das Telefon. Nicht, daß mir die Besuche und Anrufe lästig gewesen wären. Im Gegenteil, ich freute mich über jeden neuen Gast und über sämtliche Telefonate, die mich aus halb Mitteleuropa erreichten. Aber irgendwann war es genug, denn das alles ging nun schon seit vier Tagen so. Gleich nach dem Abendessen mußte ich dann eingeschlafen sein, und nun kroch der Minutenzeiger meiner Uhr im Schneckentempo um das Rund des Zifferblattes. So eine gute Uhr und doch so langsam. Jetzt war es erst kurz nach Mitternacht, und ich war weiterhin kein bißchen müde.
Mein Blick wanderte langsam durch das Zimmer und blieb schließlich am unteren Ende der Bettdecke hängen. Vorsichtig schob ich meine Beine heraus. Der linke Fuß steckte in einem für meine Begriffe viel zu dicken weißen Verband, am rechten waren sie etwas gnädiger gewesen. Über mir tropfte es aus der Flasche. Sie war nicht einmal halb leer. Am Morgen würde sie ausgetauscht und eine neue an den Galgen gehängt werden. Auch diesen Vorgang kannte ich mittlerweile, denn das ging ebenfalls bereits seit vier Tagen so.
Am 23.Mai hatten mich Brigitte und Werner Beikircher auf dem Franz-Josef-Strauß-Flughafen in München abgeholt und waren mit mir in das Innsbrucker Landeskrankenhaus gefahren. Dr. Werner Beikircher, spezialisiert als Anästhesist, ist ein befreundeter Arzt, der seine Patienten im Krankenhaus von Bruneck in den Tiefschlaf befördert. In Innsbruck hatte er hören wollen, ob die dort ansässigen Fachärzte jene Diagnose bestätigten, die bereits in der nepalesischen Hauptstadt Kathmandu gestellt worden war. Sie hatten sie – leider – bestätigt und einen entsprechenden Behandlungsplan vorgeschlagen. Mit dieser Therapieanweisung in der Tasche waren wir gleich weiter nach Bruneck gefahren, und ich hatte mich ohne Umwege in dieses Bett gelegt. Seither klopfte es ständig an die Tür, tropfte die Flasche und läutete das Telefon.
Die Zehen unter dem dicken Verband an meinem linken Fuß waren schwarz. So schwarz, daß einem beim Anblick fast schlecht werden konnte. Sie waren so dick geschwollen wie eine Bratwurst auf dem Grill – kurz vorm Platzen. Es sah scheußlich aus, und irgendwie war ich nun doch froh, daß sie den Verband so dick gemacht hatten. Die Zehen rechts sahen nicht ganz so schlimm aus, sie waren nur blau gefärbt. Blau ist besser als schwarz, das wußte ich aus der einschlägigen Literatur. So, wie sich die Sache darstellte, hatte ich mir schwere Erfrierungen zugezogen, und seit ich hier lag, versuchten die Ärzte meine Zehen zu retten und den schlimmsten Fall zu verhindern. Dieser schlimmste Fall würde mir eine Narkose von meinem Freund Dr. Beikircher einbringen und mich, was noch ärger war, meine Zehen kosten. Aber die Mediziner taten alles, um mich zumindest davor zu bewahren.
Durch den Schlauch des Tropfes rannen zunächst Heparin und später Prostavasin. Infusionen, die sonst Herzkranken verabreicht werden, weil sie gefäßöffnend und blutverdünnend wirken. Doch genau das brauchte auch ich. Sagten wenigstens sämtliche Spezialisten, die mit mir hofften, daß ich damit um eine Operation herumkam. Der große Zeh links war bis hinter das erste Glied erfroren, die vier kleinen bis hinter das Nagelbett. Damit war nicht zu spaßen, obwohl ich inzwischen einen Teil meines Humors wiedergefunden hatte. Ich hoffte ganz einfach mit den Ärzten und legte noch eine Schaufel Zuversicht zusätzlich oben drauf.
Mir tat überhaupt nichts weh, einmal abgesehen von den Armen, die inzwischen von den vielen Einstichen schon ganz blau waren und einen dumpfen Schmerz aussandten. Die betroffenen Zehen spürte ich nicht, da hätte einer mit dem Hammer draufschlagen können. Sie waren taub und bamstig, und wenn ich sie anfaßte, glaubte ich einen Fremdkörper zwischen den Fingern zu haben. In diesem Zustand waren sie, seit ich vom Berg heruntergekommen war. Wie ein Stück Holz. Wenigstens zehn Tage und Nächte lang sollte ich am Tropf bleiben, und irgendwann würden, wenn alles gutginge, meine Zehen zu bitzeln und zu kribbeln beginnen. Darauf wartete ich, während sich der Minutenzeiger wieder ein paar Mal um die eigene Achse gedreht hatte. Ich wartete darauf, daß endlich etwas weh tun würde und ich das als Glücksgefühl empfinden könnte. Doch vorerst regte sich unter dem Verband noch gar nichts, und ich hatte reichlich Zeit zum Nachdenken.
Am Kangchendzönga, einem gewaltigen Gletscherberg im Himalaya-Gebirge und mit 8586 Metern Höhe der dritthöchste der Erde, war mir ein Mißgeschick unterlaufen, das dazu geeignet war, mir meinen weiteren Weg erheblich zu verbauen. Wenn ich um eine Operation nicht herumkam, wenn ich einen Teil meiner Zehen verlor und sei es auch nur einen kleinen Teil, würde ich nicht mehr in der Lage sein, ganz schwierige Routen zu klettern. Doch gut und sicher klettern zu können ist in meinem Beruf eine Grundvoraussetzung, denn ich bin Bergführer. Während ich im Brunecker Krankenhaus auf meine Füße starrte, wurde mir zum ersten Mal richtig bewußt, was es bedeutet, ein gesunder Mensch zu sein. Wenn sich daran etwas änderte, würde sich auch mein Leben ändern. Ich dachte auch intensiv darüber nach, wer so alles in den anderen Zimmern dieses Hospitals lag. Menschen mit schweren Verletzungen nach Verkehrs- oder Arbeitsunfällen, deren Leben sich noch viel radikaler ändern würde, unheilbar Kranke ohne einen Funken Hoffnung und natürlich Menschen, denen, wie vielleicht auch mir, nur eine Kleinigkeit fehlte, wenn sie wieder nach Hause durften. So gesehen, war ich noch gut dran, und ich wollte mich auch nicht beschweren.
Als ich vor vielen Jahren das Bergsteigen zu meinem Beruf gemacht habe, ging ich mit mir selbst eine Vereinbarung ein. Ich erklärte mich damals mit meinem Schicksal einverstanden. Ich war bereit zu akzeptieren, was auch immer käme. Wäre das nicht der Fall gewesen, hätte ich schon lange nicht mehr aufbrechen dürfen, um in lotrechten Wänden zu klettern oder in eisiger Kälte auf Achttausender zu steigen. Das Leben als Bergführer und als Extrembergsteiger ist lebensgefährlich, die Statistiken belegen es deutlich. Aber ist nicht das Leben überhaupt lebensgefährlich? Weit über zwei Jahrzehnte war mir nie etwas Gravierendes passiert, obwohl ich das Schicksal herausgefordert und das Glück reichlich strapaziert hatte.
Und nun lag ich im Krankenhaus, mit ein paar erfrorenen Zehen, und fürchtete mich. Es war wohl nicht weit her mit jener Vereinbarung, die der Hans mit dem Hans getroffen hatte. Meine Freizeit war längst geprägt von Expeditionen zu den höchsten Bergen der Welt, an denen es allerdings zumeist genügte, wenn ich einfach nur gehen konnte. Dennoch war ich immer ein begeisterter Felskletterer geblieben. Es reizte mich immer noch ungemein, in die schweren Wände der Dolomiten oder der Westalpen zu klettern. Würde ich einen Teil meiner Zehen verlieren, könnte ich noch immer auf Expeditionen gehen, denn in Plastikstiefeln war das sicher kein großes Problem. Doch den Tanz in der Vertikalen, mit den leichten, hauchdünnen Kletterschuhen an den Füßen, könnte ich vergessen, denn dort war ich auf meine Zehen angewiesen, weil sie mir auf zentimeterschmalen Leistchen, in winzig kleinen Löchern und an mauerglatten Wänden Halt gaben.
In meinem Kopf nistete sich die Erkenntnis ein, daß ich ins Mittelmaß der Bergsteigerei abkippen würde. Davor hatte ich ganz gewiß keine Angst, aber es war ein ungutes Gefühl, das sich in mir unangenehm breitmachte. Ich war zweiundvierzig Jahre alt und wußte, daß ich irgendwann in den nächsten Jahren ohnehin zurückstecken müßte, weil ich mich nicht noch zehn Jahre am Limit bewegen konnte. Aber doch nicht so, nicht aufgrund einer Dummheit, nicht, weil ich meine...