Kapitel II: William Shakespeare – Wahrheit und Legende
Also. Um es gleich vorwegzunehmen, liebe Leserinnen und Leser, Bernd Lafrenz und ich, wir sind das, was man im Sprachgebrauch der modernen Shakespeare-Diskussion als „Stratfordianer“ zu bezeichnen pflegt.
Das bedeutet: Wir sind felsenfest, unerschütterlich und unverrückbar davon überzeugt, dass Shakespeare Shakespeare war.
Genauer: dass all die wunderbaren Werke, die unter dem Namen William Shakespeare einst das Licht der Öffentlichkeit erblickt und die Jahrhunderte überdauert haben, und die noch heute Publikum, Leser, Wissenschaftler, Schauspieler, Dramaturgen, Regisseure und viele andere gleichermaßen begeistern, tatsächlich, zweifellos und ohne Frage, einhundertprozentig von jenem William Shakespeare verfasst worden sind, der, vermutlich am 23. April 1564 geboren, am 26. April 1564 in das Taufregister der Holy Trinity Church in Stratford-upon-Avon als Sohn des Handschuhmachers und späteren Stadtrats und Bürgermeisters John Shakespeare mit den Worten „Gulielmus filius Johannes Shakspere“ eingetragen ist, und der am 23. April 1616 in Stratford verstarb.
Schließlich haben seinerzeit C. M. Ingleby, L. Toulmin Smith und F. J. Furnivall (The Shakspere Allusion-Book: A Collection of Allusions to Shakspere from 1591 to 1700) mehr als 300 zeitgenössische schriftliche Zeugnisse zusammengetragen, die Shakespeare als Verfasser seiner Werke ausweisen bzw. auf ihn anspielen.1 Und Shakespeares Zeitgenossen müssen es doch schließlich gewusst haben.
Ja, mögen sich jetzt die Uneingeweihten fragen, ist denn irgendjemand der Meinung, dass Shakespeare nicht Shakespeare war?
Oooooh, und ob!
Seit im Jahre 1857, also bezeichnenderweise erst mehr als 200 Jahre nach Shakespeares Tod, die amerikanische Autorin Delia Bacon ihren Namensvetter, den Philosophen und Staatsmann Sir Francis Bacon sowie den Schriftsteller, Seefahrer und Entdecker Sir Walter Raleigh und einige andere als vermeintliche Verfasser von Shakespeares Werken identifizierte, gibt es eine wahre Flut von Kandidaten, denen die Autorenschaft angedichtet wird, darunter sogar Königin Elisabeth I höchstselbst!
Die hartnäckigste Theorie jener Zweifler ist aber die, dass der Earl of Oxford, Edward de Vere, Shakespeares Werke geschrieben habe, und das, obgleich dieser bereits 1604 verstarb, während eine ganze Reihe von Shakespeares Meisterwerken erst nach diesem Datum entstanden sind – man vergleiche hierzu die scharfsinnige Bemerkung des Narren in der Thronsaalszene von Bernds König Lear –, weshalb man jene Gruppe von Forschern (man ist geneigt zu sagen: Verschwörungstheoretikern) auch „Oxfordianer“ nennt.
Selbst der weithin als „Master of Disaster“ bekannte Katastrophenfilm-Regisseur Roland Emmerich hat sich jüngst diesem Thema gewidmet und drehte in Berlin-Potsdam mit keiner Geringeren als Vanessa Redgrave als Elisabeth I und Ex-Globe-Leiter Mark Rylance in einer Nebenrolle einen Film mit dem Titel Anonymous, in welchem er sich ebendieser These anschließt.
Dabei hieße, um es in Ulrich Suerbaums treffenden Worten wiederzugeben, dieses Leugnen zeitgenössischer Aussagen „auch von Insidern des Theaterwesens und des Literaturbetriebs und von Personen, die dauernd mit ihm zusammenarbeiteten [...], ein ganzes Zeitalter habe sich zu einem Komplott zusammengetan, um die Nachwelt zu täuschen.“2
Mit welcher Begründung soll denn eigentlich nicht William Shakespeare aus Stratford, sondern Edward de Vere aus Oxford der Verfasser sein? Tja, man ist der Ansicht, dass jener Stratforder Shakespeare gar nicht über die umfassende Bildung verfügte, die notwendig sei, um solche Werke zu verfassen, da er ja nicht der Adelsschicht angehörte und daher nie eine Universität besucht habe.
Hm. Der bekannte, auch von Bernd Lafrenz sehr geschätzte Shakespeare-Übersetzer Frank Günther entkräftet dieses Argument mit dem Hinweis, dass die Bildung eines Adligen in jenen Zeiten vornehmlich aus Tanzen, Fechten, Reiten und Jagen bestanden habe.3
William Shakespeare hingegen, unser Shakespeare, hat in Stratford-upon-Avon die Lateinschule („grammar school“) besucht, wo er umfassende Lateinkenntnisse erwarb, was ihn befähigte, die Werke seiner antiken Vorbilder und Quellen wie Plautus, Plutarch und vor allem Ovid, den er in Der Widerspenstigen Zähmung sogar namentlich nennt,4 im Original zu lesen. Überdies gehörten neben Latein und Griechisch auch Mathematik, Geschichte, Rhetorik und Poetik, also die auf Aristoteles gründende Lehre der Dichtkunst, zu den Unterrichtsfächern. Sodann ließ man die Schüler zur Übung lateinische Stücke aufführen.
Schließlich darf auch nicht unerwähnt bleiben, dass der junge William Shakespeare in seiner Heimatstadt auch als Zuschauer mit dem Theater in Berührung gekommen sein muss: Außer Jahrmarktsdarbietungen und biblischen Laienspielen hatte er dank der gehobenen Stellung seines Vaters Gelegenheit, sich Gastspiele der führenden professionellen Schauspieltruppen, so z. B. der Earl of Worcester’s Men und der Earl of Leicester’s Men, anzusehen.5
Na, wenn das nicht die besten Voraussetzungen für den späteren Dramatiker, Schauspieler und Theaterleiter waren!
Die Zweifler jedoch berufen sich auf einige Lücken in der Biografie des Stratforder Shakespeares: Zum einen handelt es sich um den Abschnitt zwischen Schulzeit und Heirat (1578-82), zum anderen um jene sogenannten „verlorenen Jahre“ (1585-92), in denen sich Shakespeares Spur in Stratford verliert, bevor sein Name in London als Schauspieler und Theaterautor wieder auftaucht, und um die sich jahrzehntelang zahllose Spekulationen rankten.
Aufklärung bietet hier jüngst die Arbeit von Hildegard Hammerschmidt-Hummel. Sie hat in ihren Büchern Die verborgene Existenz des William Shakespeare und William Shakespeare – Seine Zeit – Sein Leben – Sein Werk, ausgehend von der im 19. Jahrhundert aufgekommenen Erkenntnis, dass Shakespeare, zumindest mütterlicherseits aus katholischer Familie stammend, selbst auch Katholik gewesen sein muss, bei äußerst sorgfältiger Recherche unter Zusammentragen vieler bis dato unberücksichtigt gebliebener Details über Shakespeares Umfeld und Zeit die Theorie entwickelt, dass er, da ihm aufgrund von Unterdrückung und Verfolgung der Katholiken unter Elisabeth I eine katholische Erziehung im protestantischen England verwehrt war, nach Absolvieren der Grammar School zwischen 1578 und 1580 am katholischen Collegium Anglicum studiert habe, welches 1568 in Douai, Flandern, gegründet worden und 1578 vorübergehend nach Reims übergesiedelt war, wo er die geisteswissenschaftliche Ausbildung erhielt, die die Grundlage für seine späteren Werke bildete.
Ferner geht sie, wie einige andere Wissenschaftler auch, davon aus, dass Shakespeare während der „verlorenen Jahre“ Italien bereiste und hierbei die Inspiration für seine dort angesiedelten Komödien fand. Ihr zufolge logierte er unter diversen Pseudonymen6 dreimal im Pilgerhospiz der englischen Exilkatholiken in Rom. Ein Indiz, das Hammerschmidt-Hummel für Shakespeares Verbindung zum Exilkatholizismus anführt, ist die Tatsache, dass Shakespeares Lateinschullehrer Simon Hunt 1575 nach Douai floh, wo er sich zum katholischen Priester ausbilden ließ, um schließlich das Amt des englischen Beichtvaters am Stuhl von St. Peter in Rom auszuüben, wo er auch starb.
Mit absoluter Sicherheit wissen wir dennoch nicht, ob Shakespeare sich in Italien aufhielt – schließlich war auch Karl May erst kurz vor seinem Tod in Amerika und schrieb dennoch zeitlebens sehr anschaulich über dortige Landschaften und Verhältnisse. So gibt z. B. Frank Günther die mangelnde Kenntnis Shakespeares hinsichtlich der (nicht vorhandenen) Auswirkung von Ebbe und Flut an der Adria auf die Seefahrt als Gegenargument für Shakespeares Italienreisen an.7 Ebenso irrte Shakespeare in Der Widerspenstigen Zähmung (Akt I, Szene 1, 3), als er den Schauplatz des Stückes, Padua, der Lombardei zuordnete. Im Mittelalter gehörte Padua zwar zum Lombardischen Städtebund, stand aber seit 1405 unter der Herrschaft Venetiens.
Eindeutig dokumentiert sind hingegen u. a. folgende Stationen im Leben des Dramatikers: 1582 heiratete Shakespeare die acht Jahre ältere Anne Hathaway, die Tochter eines Freisassen („yeoman“), mit der er drei Kinder hatte: Susanna, getauft am 26. Mai 1583, und die Zwillinge Hamnet und Judith, getauft am 2. Februar 1585. Leider starb Hamnet bereits im Alter von elf Jahren.
Ein Pamphlet des Dichters Robert Greene, in dem Shakespeare als Emporkömmling und Bühnenerschütterer („Shake-scene“) verspottet wird, belegt, dass sich Shakespeare 1592 in London aufhielt.
Darüber hinaus findet sich am 3. März desselben Jahres ein Eintrag im Notizbuch des Theaterunternehmers Philip Henslowe, der eine Aufführung eines Stückes mit dem Titel Harey the vj durch die Lord Strange’s Men am Londoner Rose Theatre dokumentiert. Es wird allgemein angenommen, dass es...