Die Bindung einer Mutter an ihren Erstgeborenen
Von dem Tag seiner Geburt an, dem 10. Februar 1898, war Eugen Berthold Friedrich Brecht das Sorgenkind seiner Mutter Sophie Brecht. Die Mutter fand so viel von sich selbst in ihrem Sohn wieder, sie erdrückte ihn fast mit ihrer Liebe. Sie sagte immer, wenn einer von ihnen beiden sich eine Krankheit einfinge, bekäme der andere sie auch. So nah seien sie einander. Sie versuchte ihm beizubringen, dass man durch Sauberkeit vermeiden könne, überhaupt erst krank zu werden, doch war das vergebliche Liebesmüh. Sophies Ehemann Berthold hatte für Kranke nur Spott und Verachtung übrig. Und so erinnert Walter Brecht — Sophie und Bertholds jüngerer Sohn — seinen Vater: »Da er der Krankheit, die er als fremd und feindlich empfand, ablehnend gegenüberstand, war er hart gegen sich selbst. Er klagte nie«.1 Und wehe dem, der es ihm nicht gleichtat.
Als Herrin des Brecht'schen Haushalts trat Sophie Brecht als elegante Dame auf, doch war sie seit jeher kränklich und verträumt.2 In ihrer Jugend hielt man sie für eine Melancholikerin, ihre Beschwerden verstand niemand wirklich. Eugen sollte es nicht anders ergehen. 1919, ein Jahr vor ihrem Tod im Alter von nur 49 Jahren, schrieb er, sie liege schon seit dreißig Jahren im Sterben. Und er selbst wusste von Anfang an, dass er nicht alt werden würde. Die Mutter hatte ihm immer gesagt, wenn sie nur auf Gott vertrauen würden, werde er sie beschützen. Sophie lebte ihren Glauben auf eine tiefe, schlichte Weise, die für die arme protestantische Landbevölkerung Württembergs, umgeben von einer fremden katholischen Welt, typisch war. Ihre Mutter Friederike Brezing hatte ihren Kindern viele biblische Geschichten und Lieder beigebracht, um damit den Anfeindungen der Welt zu begegnen. Und so sang Sophie für den kleinen Eugen, ihren Genele, Lieder und erzählte sie ihm Geschichten in ihrer ärmlichen Mietwohnung, Auf dem Rain 7, die am Fuß eines Hügels zwischen zwei Kanälen des Lechs in der Augsburger Altstadt lag.
Unter ihnen hämmerte und klopfte es in der Werkstatt der Feilenhauerei den ganzen Tag: ein Höllenlärm. Sophie versuchte mit ihrem Lieblingschoral gegen den Krach anzusingen, Julie von Hausmanns Preisung des 73. Psalms, Vers 23-24, mit seiner tröstlichen Botschaft, dass auch arme und schwache Seelen wie Sophie und Genele dereinst vom Vater im Himmel erlöst werden:
So nimm denn meine Hände
Und führe mich,
Bis an mein selig Ende
Und ewiglich.
Ich mag allein nicht gehen,
Nicht einen Schritt;
Wo Du wirst geh'n und stehen,
Da nimm mich mit.
Es dauerte nicht lange, und sie zogen in eine ruhigere Wohnung ganz in der Nähe, Bei den sieben Kindeln 1.
Die Mutter füllte den Kopf ihres Kindes mit Geschichten aus der Bibel und den Liedern und Gedichten, die sie liebte. Sie besaß eine wunderschöne illustrierte Ausgabe der Werke des österreichischen Romantikers Nikolaus Lenau, ein Geschenk ihres Bruders Eugen. Der Kult des Weltschmerzes in Lenaus Poesie traf genau ihre Traurigkeit über das Leid in dieser Welt. Sophie Brecht hatte ein Notizbuch, in dem sie Gedanken dieser Art aufschrieb. Dort notierte sie auch die Worte eines anderen Romantikers, Jean Paul: »Wenn man einen einzigen Schmerz tief empfunden hat, so versteht man alle anderen Leiden.«3 Leiden, Melancholie und Liebe bewegten sie, ihr Glaube stützte sie. Jedermann dachte, dass ihr Interesse an Literatur und Kunst, sogar an Philosophie, sie zu einer sehr kultivierten Dame machte, bestens dafür geeignet, ihr bedürftiges Kind großzuziehen.
Sophie Brecht besaß ein Poesiealbum mit ihren Lieblingsgedichten, und auch in ihrem Notizbuch schrieb sie Verse auf:
Wer da liebt, kann der vergessen?
Wer vergißt, hat der geliebt?
Lieben heißt ja »Nichtvergessen« —
Und Vergessen: Nie geliebt!4
Ehe sie nach Augsburg geheiratet hatte, hatte sie eine ganze Reihe junger Männer in Cannstatt und Esslingen, ihren früheren Wohnorten, gekannt. Sie hatte immer gut ausgesehen, war dank ihrer Ausbildung als Näherin adrett gekleidet, hatte stricken und mit einer Nähmaschine umzugehen gelernt. Ohne höhere Bildung und von sentimentalem Geschmack träumte die junge Sophie dieselben Träume wie zahllose andere Mädchen, und sie schrieb Verse wie diese:
Der Frühling des Jahres
Blüht einmal im Mai —
Nur einmal im Leben die Liebe […]
Treue Liebe kommt von Herzen
Treue Liebe brennet heiß.
O wie gut hats mancher Mensch,
der nicht weiß, was Liebe heißt!!!!5
Sie hielt die Namen und Adressen ihrer Verehrer fest. Da gab es einen Frank, und es gab einen Wilhelm Klinger aus Esslingen. Von einem Hermann war sie ganz eingenommen, vielleicht von demselben Hermann, den ihre Schwester Amalia heiratete.
Eine Mischehe
Amalia Brezing fand ihren Traummann in dem gut aussehenden Hermann Reitter, einem Ingenieur in der Haindl'schen Papierfabrik in Augsburg. Als Sophie 1893 nach Augsburg zog, lebte sie für einige Zeit bei ihnen. Auch ihr zukünftiger Ehemann Berthold Brecht war ein ›Zugereister‹. Zwei Jahre älter als sie, 1869 geboren, kam er wie sie aus der alemannischen Provinz. Sophie Brezing und Berthold Brecht gehörten zu den Millionen Menschen, die in einer Massenbewegung vom Land in die rasant wachsenden Städte zogen, in die Kraftzentren von Deutschlands erstarkender wirtschaftlicher und industrieller Macht. Als ihr Sohn in den Zwanzigerjahren das Theater revolutionierte, erklärte er diese Migrationsbewegung zum Vorboten eines neuen städtischen Zeitalters, das von skrupellosen Unternehmern beherrscht werde, die aufgrund unerhörter finanzieller und technischer Mittel enorme Macht über ihre Arbeiter ausüben konnten.
Berthold Brecht hatte in Stuttgart als kaufmännischer Angestellter gearbeitet, bevor er nach Augsburg kam, aber seine Familie stammte aus Achern, einem jener kleinen idyllischen Orte des Rheintals am Fuß des katholischen Schwarzwalds, wo sein Vater Stephan eine Lithographie-Werkstatt besaß. Berthold begriff, dass unabhängig von den Qualitäten traditioneller Handwerker vom Schlage seines Vaters auf dem neuen Markt der Massenproduktion für den Umsatz in der Papier- und Druckindustrie der Vertrieb entscheidend war. In der Haindl'schen Papierfabrik fing er als Handlungsgehilfe auf der sozialen Leiter ganz unten an. Er befreundete sich mit Hermann Reitter und wurde von ihm nach Hause eingeladen, wo er dessen Frau und deren Schwester Sophie kennenlernte. Berthold und Sophie heirateten 1897. Pünktlich neun Monate später traf Eugen ein.
Sophie Brecht hatte geradezu Ehrfurcht vor ihrem Erstgeborenen, der sich schnell zu einem außergewöhnlich begabten Kind entwickelte. Sein Bruder Walter sah das so: »Es war ihr als Wunder erschienen, was da durch sie auf die Welt gekommen, vor ihren Augen aufgewachsen war — ein eng vertrautes und doch von ihr ganz unerwartet abrückendes Wesen.«6 Solange er noch ein kleines Kind war, nahm er ihre volkstümliche romantische Sentimentalität in sich auf. Doch in seinen Jugendjahren — er nannte sich nun Bert Brecht — fand er ...