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E-Book

Das Nacheinander-Prinzip

Vom gelasseneren Umgang mit Familie und Beruf

AutorEva Corino
VerlagSuhrkamp
Erscheinungsjahr2018
Seitenanzahl230 Seiten
ISBN9783518757376
FormatePUB
KopierschutzWasserzeichen
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis14,99 EUR
Die gute Nachricht: In den vergangenen fünfzig Jahren hat sich die Lebenserwartung von Frauen um 15 Jahre verlängert. Warum aber hetzen sie trotz ihrer gewonnenen Zeit immer schneller durchs Leben? Weil auch die Erwartung an sie gestiegen ist, nur leider auf ein ungesundes Maß. Kindererziehung, Fortbildung, Studium, Partner, Karriere, soziales Engagement - Frauen sollen und müssen heute selbstverständlich alles liefern und beherrschen, gleichzeitig, nebeneinander. Zeitmangel und Überforderung sind noch die harmlosen, das Scheitern von Beziehungen oder Burn-outs gravierende Folgen dieses neuen, gefährlichen Lebensmodells.
Ob Vierfachmutter, die sich am Laptop neu erfinden muss, Friseurin, Polizistin, Managerin, kreative Quereinsteigern - dieses Buch erzählt von ihren modernen Leben und privaten und beruflichen Anforderungen. Gemeinsam mit Experten aus Politik, Wirtschaft oder Soziologie analysiert die Autorin Erwerbsbiografien im digitalen Zeitalter. Erläutert die Vor- und Nachteile gehypter Phänomene wie »Mompreneurs«, deckt Risiken, aber auch versteckte Chancen in der derzeitigen Sozial- und Familienpolitik auf.
In diesem engagierten Ratgeber beschreibt Eva Corino die Gefahren des modernen Gleichzeitigkeitswahns sowie seine Alternativen. Und sie fordert: Damit wir alle Lebensphasen voll ausschöpfen und endlich ein schönes, erfülltes Familien- und Berufsleben haben können, muss die Gesellschaft umdenken und kostbare Schonzeiten schaffen. Vergessen wir bei all dem nie: Die Gesellschaft - das sind wir!

<p>Eva Corino, geboren 1972 in Frankfurt am Main, war von 1997 bis 2002 Theaterkritikerin und Kolumnistin bei der Berliner Zeitung. Sie hat bereits zwei Bücher veröffentlicht und wurde 2009 für den Reporterpreis nominiert. Nach Auslandsstationen in Washington D.C., Duschanbe und Brüssel lebt sie mit ihrem Mann und ihren vier gemeinsamen Kindern in Erfurt.</p>

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Leseprobe

Im Gleichzeitigkeitswahn


Nehmen wir meine Schulfreundin Marie*. Sie ist 36 Jahre alt, hat einen attraktiven Franzosen geheiratet, beide sind aufstrebende Ingenieure. Marie arbeitet als Managerin bei der französischen Eisenbahn. Sie managt den Bahnhof von Toulouse*, hat 230 Leute zu beaufsichtigen. Sie stellt sicher, dass die Züge auf den richtigen Gleisen einfahren, die technischen Störungen behoben werden, dass der Bahnhof sauber ist, die Geschäfte pünktlich öffnen. Außerdem überwacht sie den Bau einer neuen TGV-Trasse.

Ein ganz normaler Tag in ihrem Leben, sagen wir, ein Mittwoch, sieht so aus: Sie hetzt früh los, um ihre beiden Kinder, ihre fast dreijährige Tochter und einen sechs Monate alten Sohn, in die Krippe zu bringen, dann gleich weiter ins Büro. Dort muss sie als Erstes die Gleisarbeiter beschwichtigen, denn für den kommenden Tag ist ein Streik angekündigt. Es folgt ein Meeting nach dem anderen. Um 17 Uhr hetzt sie zurück zur Krippe, um ihre beiden Kinder abzuholen. Sie bugsiert die Babyschale in den Van, lässt ihre Aktentasche auf dem Autodach liegen und merkt erst zu Hause, dass sie fehlt. Sie kehrt um, findet sie, macht noch ein paar Einkäufe auf dem Weg, kocht dann ein warmes Abendessen, badet die Kinder, schläft beim Vorlesen in Kleidern ein, wacht um Mitternacht wieder auf und spült die schmutzigen Töpfe ab.

Mittlerweile ist Donnerstagnacht. Früher hat ihr Mann Jean* am Donnerstagnachmittag die Tochter abgeholt und im Park mit ihr gespielt. Aber seit er in die Privatwirtschaft gewechselt ist, macht er viele Dienstreisen. In dieser Nacht wird Marie vier Mal geweckt. Der kleine Jacques* braucht seine Flasche, will getragen werden, holt sich vermutlich die Nähe, die seine Mutter ihm am Tag vorher nicht geben konnte. In den frühen Morgenstunden küsst sie seine Stirn und stellt fest, dass er hohes Fieber hat. Sie ruft bei ihren Eltern an, in der Hoffnung, dass ihre Mutter anreisen und Jacques versorgen kann; in den nächsten Tagen soll der zweite Streckenabschnitt der TGV-Trasse eingeweiht werden. Am Telefon sagt die Mutter, sie könne nicht kommen, der Vater müsse ins Krankenhaus. Marie hat das Gefühl, dass sie eigentlich stehenden Fußes nach Deutschland reisen müsste, um den Eltern Beistand zu leisten. Aber das geht jetzt leider nicht, sie bestellt ihre Babysitterin, zwängt sich in ihr Kostüm und los, ein neuer Tag beginnt -- und dieser ganz normale Wahnsinn, den man heute gerne »Vereinbarkeit« nennt.

»Vereinbarkeit – wer weiß, wie es geht?«, titelt die ZEIT. »Die Lüge von der Vereinbarkeit«, beklagt die Wirtschaftswoche. Vereinbarkeit ist der Fetisch, das Sehnsuchtswort der Stunde, und das hat natürlich einen tieferen Grund. Vereinbarkeit ist ein beschönigendes Wort für etwas, das sich in Wirklichkeit oft anfühlt wie Zerrissenheit. Heute fällt die Zeit der Familiengründung mit der beruflichen Profilierung beider Eltern zusammen. Zeitnot und das ständige Gefühl von Überforderung sind die Folge. Kinder, Partnerschaft: ein logistisches Problem statt Glücksversprechen! Am Arbeitsplatz muss man so funktionieren, als hätte man keine familiären Aufgaben. Und wenn die Großeltern nicht mehr helfen können, sondern selbst hilfsbedürftig werden, bewegt sich die »Generation Sandwich« hart an der Grenze der eigenen Belastbarkeit.

Phasen der Entspannung und der äußersten Anspannung aller Kräfte sind heute zu ungleich über den Lebenslauf verteilt. Im Alter haben die meisten Menschen weniger Verantwortung, als gut für sie wäre. Die Pubertät wird in die Länge gezogen, die Familiengründung immer weiter hinausgezögert – aus Angst vor Festlegung und den anstrengenden Aufgaben, die sich in der Lebensmitte drängeln. Den richtigen Partner finden und »dingfest machen«, solange die biologische Uhr noch tickt. Familie gründen, sich hingebungsvoll um die eigenen Kinder kümmern. Ein Zuhause schaffen, bauen, renovieren, einrichten. Für das Alter vorsorgen. Alles geben im Beruf, zwei Karrieren voranbringen, wenn nötig, sogar umziehen und pendeln. Dabei gutaussehend und sportlich sein, kulturell und politisch auf dem Laufenden bleiben. Wie soll man das alles gleichzeitig schaffen und bewältigen? Das ist kaum möglich. Und ich kenne viele, die an dieser Quadratur des Kreises gescheitert sind, die ihre Gesundheit ruiniert, ihre Ehen beschädigt, ihre Kinder vernachlässigt haben. Mit teilweise äußerst dramatischen Folgen.

Der Familiensoziologe Hans Bertram hat dieses Phänomen die »Rushhour des Lebens« genannt. Noch treffender finde ich es, von einem »Gleichzeitigkeitswahn« zu sprechen: Weil es wahnsinnig ist zu glauben, dass moderne Mütter all das gleichzeitig leisten könnten, was sie leisten müssten, um in Familie und Beruf ihr »Soll« zu erfüllen. Das schaffen nur sehr wenige, die Happy Few, die besonders stark sind, besonders begabt und besonders gute Bedingungen haben. Aber was ist mit den anderen? Mit der großen Mehrheit der Frauen, die unter ganz normalen Bedingungen leben? Sollen die sich trotz der ständigen Selbstausbeutung als ungenügend empfinden?

Frauen werden nicht ermutigt, Familienphasen einzulegen. Weil die ökonomische Faktenlage es so will: Die Sozialforscherin Ute Klammer etwa, die 2011 im Auftrag des Familienministeriums am ersten Gleichstellungsbericht mitgeschrieben hat, warnt vor längeren Erwerbspausen. Mütter, die über das gesetzlich zugesicherte Maß hinaus vom Arbeitsmarkt fernbleiben, haben oft ein sehr geringes Lebenserwerbseinkommen. Und das Armutsrisiko ist groß, vor allem, wenn sie sich scheiden lassen und als Alleinerziehende große Lasten schultern müssen.

Aber was ist die Alternative? Marie hielt den gnadenlosen Takt ihrer Arbeitstage knapp zwei Jahre durch. Kurz nach der Geburt ihres dritten Kindes brach sie vor Erschöpfung zusammen und brauchte lange, um sich wieder zu erholen.

Nehmen wir eine andere Freundin, Stephanie*. Sie arbeitete bis vor ein paar Jahren in Brüssel bei der Europäischen Kommission* und sanierte daneben ein marodes Haus, hochschwanger, während ihr Sohn sich in der Krippe ständig irgendwelche Keime einfing, so dass sie ihn den halben Winter lang zu Hause behalten und ihre liegengebliebene Arbeit in Nachtschichten erledigen musste. Leider hatte ihr Mann das Gefühl, dass sie den Aufbau seiner Karriere nicht hinreichend unterstützte. Und leider hatte Stephanie das Gefühl, dass er sich nicht genug um die Kinder kümmerte – so dass sie ihre knappe Zeit zu zweit mit Streit und Vorwürfen zubrachten. Und als dann eine fröhliche Praktikantin an seine Bürotür klopfte, ging die Ehe endgültig in die Brüche.

In Deutschland werden heute 49 Prozent der Ehen geschieden, in Belgien, wo beide Eltern in der Regel Vollzeit arbeiten, sind es sogar 71 Prozent. Natürlich gibt es immer persönliche Gründe für das Scheitern von Beziehungen. Aber sie scheitern auch, weil die Druckzustände der Rushhour so schwer auszuhalten sind. Und weil die Paare ein unrealistisches Bild von Vereinbarkeit im Kopf haben, dem nur Supermänner und Superfrauen gerecht werden könnten. Ein familienpolitischer Diskurs, der dieses unrealistische Bild zum Leitbild erhebt, ist gefährlich und alles andere als nachhaltig. Er führt nämlich dazu, dass viele Frauen sich als Versagerinnen fühlen. Sie können sich abrackern, wie sie wollen. Sie haben trotzdem das Gefühl, immer im Defizit zu sein: Die Kinderlosen, weil sie Teil der demografischen Krise sind. Die hauptberuflichen Mütter, weil sie kein Geld in die Rentenkasse einzahlen. Und die berufstätigen Mütter, weil sie im Büro weniger verfügbar sind als die kinderlosen Kolleginnen und ihren Kindern weniger Aufmerksamkeit schenken können als die hauptberuflichen Mütter.

Die hellsichtige amerikanische Soziologin Arlie Russell Hochschild hat analysiert, dass berufstätige Mütter heute mindestens in zwei Schichten arbeiten: die erste Schicht am Arbeitsplatz und die zweite Schicht zu Hause. Wenn sie Pech haben, kommt auch noch eine dritte Schicht hinzu: die Auseinandersetzung...

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