1. Übergangscoaching im Beruf – wozu?
Der Autor und Management Consultant Peter Drucker hatte recht, als er sagte, wenn man seine Zukunft nicht selbst in die Hand nimmt, wird es jemand anderes tun. Wie wahr. Aber es geht um mehr ...
Die Arbeitswelt war noch nie so chaotisch wie heute, aber auch nicht so chancenreich – für bewusst selbstbestimmte Menschen. Zwischen 2001 und 2007 nahm in Großbritannien der wachstumsstärkste Beruf bei Frauen um 93 Prozent zu, während der am stärksten rückläufige um 66 Prozent zurückging, bei Männern 49 bzw. 39 Prozent (Sissons 2011). Laut Kelly Services (2011a) erwarteten 57 Prozent von 97000 Menschen weltweit für die nächsten fünf Jahre eine berufliche Veränderung: ein potenziell riesiger Markt für Übergangscoachs.
Die Veranlassung für das Schreiben dieses Buches kam, als ich nach Literatur für Coachs suchte, die in allen denkbaren Kontexten mit Menschen in beruflichen Übergangsphasen arbeiten, und zu meiner Überraschung nichts fand – es gab kein einziges Buch! In der Masse der berufsbezogenen Ratgeber stieß ich auf einige wenige Bücher, in denen einzelne Aspekte dieses Themas behandelt oder „Rezepte“ angeboten wurden. Doch nirgends fand sich eine so ausführliche Darstellung wie in der vorliegenden Veröffentlichung.
Dieses Buch gibt ein umfassendes Bild ab. Es ist ein praktischer Leitfaden mit anregenden Geschichten von Coachs und ihren Coachees, den man bei jeder Gelegenheit, bei der man jemanden berät, der im Beruf mit Veränderungen zu tun hat, einfach aus dem Regal ziehen kann.
In diesem Kapitel untersuche ich zunächst detailliert, welcher Wandel sich im 21. Jahrhundert an dem Begriff „Beruf“ vollzieht, und an welcher Stelle und auf welche Weise Coachs Unterstützung gewähren können. Sie erfahren darin, für wen das Buch geeignet ist, aus welchen ökonomischen oder menschlichen Gründen Coaching in beruflichen Übergangsphasen empfehlenswert ist und wie andere Formen des Coachings und der Berufsberatung damit zusammenhängen. Zum Abschluss gebe ich einen Überblick über alle folgenden Kapitel.
1.1 Kontext und Bedeutung des Begriffs „Beruf“ im 21. Jahrhundert
Was ist heutzutage, im 21. Jahrhundert, ein Beruf? Gibt es so etwas überhaupt? Nein!, sagt Daniel Priestley (2010). Die Welt verändert sich so schnell wie noch nie und damit auch die Erwartungen, Wünsche und Bedürfnisse, die viele in Bezug auf ihr Arbeitsleben haben. Ein „Beruf“ kann zahlreiche Vorteile bieten: Geld, Status, Selbstwertgefühl, Fähigkeiten, Wissen, Zugehörigkeitsgefühl, Sinn und Zweck. Wahrscheinlich erleben wir gerade einen geschichtlich einzigartigen Moment, denn noch niemals haben berufliche Ansprüche und Bestrebungen so sehr gezählt, haben Menschen so viel Einfluss auf die eigene Erwerbstätigkeit – wenn sie sich denn dafür entscheiden und in der Lage sind, von dieser Wahlfreiheit Gebrauch zu machen. Woher kommt das?
Damals und Heute
Im Lauf der letzten 20 Jahre hat sich ein exponentieller, vorrangig von technologischen Entwicklungen, der Globalisierung sowie sozialen und demografischen Faktoren angetriebener Wandel vollzogen, dessen Geschwindigkeit in den letzten fünf Jahren sogar noch zugenommen hat. Man könnte einwenden, dass die Wirtschaft in den zehn Jahren vor 2008 von einer noch stärkeren Kraft angetrieben wurde: institutionelle und individuelle Habgier und Risikobereitschaft. Man denke nur an den Film Wall Street, wo Gordon Gekko davon schwärmt, wie gut und richtig Habgier sei. Und wie bitter war die Erkenntnis, dass dies gar nicht stimmt!
Im Zuge der Kreditklemme im Jahr 2008 und der darauf folgenden Rezession dachte man, dass nun alles anders würde. Und? Tatsächlich kommt man nicht mehr so leicht an einen Kredit heran; die meisten entwickelten Volkswirtschaften stecken in einem „Zeitalter der Sparsamkeit“. Während die Wirtschaft in China und Indien stetig – wenn auch langsamer – weiterwächst, geht es in westlichen Ländern nur zaghaft voran. Stellenabbau, Arbeitsstundenreduzierung und „Unterbeschäftigung“ sind verbreitet, und das wird – dank der Einsparungsprogramme besonders auf dem öffentlichen Sektor in Großbritannien, den USA und der Eurozone – noch nicht alles sein. Sind dies wirklich nur kurzfristige Probleme oder längerfristige Katalysatoren für einschneidende Veränderungen?
Die Faktoren, die die globale Entwicklung seit dem Ende des 20. / Anfang des 21. Jahrhundert bestimmen, wirken sich auch auf die Arbeitswelt aus, und zwar immer schneller. So vernichtet die Technologie einerseits Arbeitsplätze (z. B. in der Filmbearbeitung und im Einzelhandel), schafft dafür aber an anderer Stelle neue Arbeitsplätze (z. B. für Designer von Computerspielen und Webseiten) und ermöglicht andere Arbeitsweisen, beispielsweise zu Hause, über Callcenter im Ausland und soziale Medien. „Arbeit“ ist immer weniger ein Ort, an den man sich begibt, sondern etwas, das man tut.
Dies hat zur Entstehung neuer Begriffe wie „Wissensökonomie“ und „Wissensarbeit“ geführt. Leider gibt es dafür noch keine allgemeingültigen Definitionen, doch wenn man die drei obersten Berufsgruppen (Manager, Angestellte und freie Fachkräfte) als Näherungswerte für „Wissensarbeiter“ heranzieht, ist deren Anzahl in Großbritannien von knapp 7,9 Mio. im Jahr 1984 auf 12,5 Mio. im Jahr 2004 gestiegen. Hochgerechnet (45 Prozent) ergibt das für 2014 14,2 Mio. (Brinkley, 2006, 2008).
Für sein Buch „The hourglass und the escalator: Labour market change und mobility“ analysierte Paul Sissons (2011) den anhaltenden Trend im Wandel der Wirtschafts- und Arbeitswelt und stieß dabei auf eine „Aushöhlung“ des Arbeitsmarkts in Form einer „Sanduhr“: In der oberen Hälfte nimmt die Anzahl der Menschen, die hoch qualifiziert sind oder Führungspositionen innehaben zu, während weniger gut ausgebildete in die untere Hälfte der Niedriglohnbeschäftigung, der Hilfsarbeiterjobs oder der Arbeitslosigkeit hinuntergedrückt werden, da das mittlere Segment (etwa in der Verwaltung, im Sekretariat sowie in der Verfahrens- und Maschinentechnik) seit der Rezession von 2008 immer weiter und immer schneller schrumpft.
In den meisten Branchen sind die Tage der „lebenslangen Stelle“ gezählt und schwinden nun sogar auch in gewissen Nischen des öffentlichen Sektors, wo sie sich bisher noch halten konnten. Sissons‘ Bericht für die britische Stiftung „The Work Foundation“ ist ein Appell an die Verantwortlichen in der Politik, „für eine qualifizierte Berufsberatung zu sorgen“, damit Arbeitskräfte sich beruflich verändern können. Des Weiteren sollen der Wissenstransfer vom öffentlichen zum privaten Sektor gefördert und Umschulungen und Weiterbildungen durchgeführt werden. Für Übergangscoachs, denen an solchen kulturellen Veränderungen gelegen ist und die ein lebender Beweis dafür sind, dass Coaching durch einen Menschen aus Fleisch und Blut besser ist als reines Kompetenztraining oder Selbsthilfebücher, schlummern hier ungeahnte Möglichkeiten zur umfassenden Unterstützung. Ratgeber sind überall erhältlich und hilfreich, aber womöglich erreicht man die erwünschten Veränderungen durch Coaching um einiges schneller.
Auch der Trend zur verlängerten Lebens- und Arbeitszeit birgt potenzielle Klienten, die sich während ihrer gesamten Berufslaufbahn verändern möchten. Laut dem britischen Gewerkschaftsdachverband (TUC, 2011) lag der Anteil der berufstätigen 50–64-Jährigen 1992 bei 56,5 Prozent und 2010 bei 64,9 Prozent – eine Steigerung von 8,4 Prozent. Der Anteil der Über-65-Jährigen stieg im selben Zeitraum von 5,5 auf 9 Prozent.
Außerdem ist die Bevölkerung im Großen und Ganzen besser ausgebildet, besser informiert und besser vernetzt. Laut OECD (2011b) haben weniger Menschen keinen höheren Schulabschluss und mehr Menschen ein abgeschlossenes Studium. Zwischen 1998 und 2009 fiel der Anteil der Erwachsenen ohne höheren Schulabschluss von 37 auf 27 Prozent; im selben Zeitraum stieg der Anteil derjenigen mit abgeschlossenem Studium von 21 auf 30 Prozent. Daher ist zu befürchten, dass die Änderungen in der Hochschulfinanzierung und bei den Studienbeträgen in Großbritannien langfristige Folgen haben werden, die noch nicht absehbar sind.
Dass Menschen heutzutage über mehr Informationen verfügen, liegt sicher auch an dem vereinfachten und schnelleren globalen Zugang. So gab es laut Internet World Stats Ende März 2011 2.095.006.005 Internetnutzer (Miniwatts Marketing Group, 2001–2012). Ofcom (2012) zufolge verfügten im Mai 2011 74 Prozent der Erwachsenen in Großbritannien über einen Breitbandanschluss und 500.000 Haushalte über Hochgeschwindigkeitsinternet, fünfmal so schnell als im Jahr 2010. 90 Prozent der 35–44-Jährigen haben Internet zu Hause, während es 2000 nur 25 Prozent waren; 2011 hatten 48 Prozent in den ersten drei Monaten soziale Netzwerke genutzt, 2010 dagegen nur 40 Prozent; 27 Prozent der Erwachsenen und 47 Prozent der Teenager besitzen ein Smartphone – 28 Prozent nutzen es, um ins Internet zu gelangen (2010 22 Prozent) und 57 Prozent für den Besuch sozialer Netzwerke. Das Tempo nimmt zu: Innerhalb eines Jahres kauften 59 Prozent ein Smartphone; 37 Prozent der Erwachsenen und 60 Prozent der Teenager gaben zu, „stark süchtig“ nach ihrem Smartphone zu sein.1
In ihrem Bericht für das Jahr 2012 machte die Weltbank (2012) auf den globalen Zuwachs von neuen Arbeitsplätzen und unternehmerischen Chancen durch die mobile Technologie aufmerksam. Demnach kommen nicht nur in...