1. Die Einzelperson: individuelle Resilienz verstehen
1.1 Risiko- und Schutzfaktoren für Resilienz: vom Risiko-Management zur Kompetenz
Um die individuellen Unterschiede von Resilienz verstehen zu können, müssen wir uns von der Arbeitsdefinition, wie wir sie in der Einführung vorgestellt haben, lösen und uns anschauen, wie dieses komplexe Konzept definiert und erforscht wurde. In der Vergangenheit nahm die Erforschung von Resilienz im Rahmen der therapeutischen Unterstützung von Personen, die Schwierigkeiten hatten, Krisen, Verluste oder das Leben im Allgemeinen zu meistern, ihren Anfang. Um zu verstehen, warum einige Menschen besser mit Belastungen umgehen als andere, konzentrierte sich die Wissenschaft hauptsächlich auf Resilienz in der Kindheit und Jugend.
In jüngerer Zeit rückte die Forschung von Resilienz im Erwachsenenalter stärker in den Vordergrund. Eine starke Ausprägung von Resilienz wird nun als Vorzug oder Vermögen angesehen, weniger als die Lösung für ein Problem oder Milderung einer Krise. Es mehren sich auch die Belege, dass Resilienz vielleicht sogar den Normalfall darstellt und danach Menschen im Allgemeinen resilienter sind als frühere Studien angedeutet haben. George Bonanno behauptet, dass Resilienz das häufigste Ergebnis eines überwundenen traumatischen Ereignisses sei, nicht Zusammenbruch und Wiedergesundung.9 Er nimmt außerdem die sinnvolle Differenzierung zwischen Resilienz und der Überwindung länger anhaltender Krisen bzw. Umgang mit einem „zermürbenden“ Umfeld auf der einen und Resilienz angesichts einmaliger Ereignisse auf der anderen Seite vor.
Diese aktuelleren Entwicklungen der Forschung sind besonders für unser Ziel relevant, die Stärkung von Resilienz in umfassendere Maßnahmen zu integrieren, um das Wohlbefinden von Arbeitnehmern und die Produktivität des Unternehmens zu steigern. Durch diese Entwicklungen wird die Idee, Resilienz zu fördern, „gesellschaftsfähig“ und nicht länger in den „Weiße-Kittel“-Kontext von Krankheit, Therapie und Krisenmanagement gerückt.
1.2 Resilienz definieren: eine Herausforderung
Auf eine Aussage können sich alle einigen, nämlich, dass es keine allgemeingültige Definition von Resilienz gibt. In der Tat geschieht es nicht selten, dass man innerhalb ein und desselben Buches oder Artikels verschiedene Definitionen antrifft. Als Beispiel dient hier das Handbuch von John Reich und Kollegen10 (s. Kasten).
Definitionen und Beschreibungen von persönlicher Resilienz aus den Beiträgen in Handbook of Adult Resilience (2010)
„… Resilienz lässt sich am besten als das Ergebnis der erfolgreichen Anpassung an Widrigkeiten definieren. Die Charaktereigenschaften einer Person und die Besonderheiten der Situation können den Resilienzprozess beeinflussen, doch nur, wenn sie zu gesünderen Haltungen nach dem Erleben von widrigen Umständen führen“ (Zautra et al., S. 4).
„In der bisherigen Forschung hat Resilienz verschiedene Bedeutungen, doch im Allgemeinen bezieht sich der Begriff auf das Muster einer funktionierenden Indikation von ‚positiver Anpassung’ im Kontext von ‚Risiko‘ oder Widrigkeiten“ (Ong et al., S. 82).
„Resilienz ist ein Begriff, den Psychologen verwenden, um die Fähigkeit zu beschreiben, mit belastenden Ereignissen umgehen zu können und einen Sinn zu sehen, auf die Individuen mit einer sinnvollen intellektuellen Reaktion und unterstützenden sozialen Beziehungen reagieren müssen (Richardson, 2002).“ (in Mayer & Faber, S. 95)
„Resilienz bezieht sich auf die individuellen Unterschiede oder Lebenserfahrungen, die Menschen helfen, in positiver Weise auf Widrigkeiten zu reagieren, ihnen erlauben, in der Zukunft besser mit Stress umzugehen, und sie davor schützen, unter Belastungen mental-psychische Störungen zu entwickeln (Richardson, 2002).“ (in Skodol, S. 113)
„Resilienz ist ein breit gefasstes Konzept, das sich im Allgemeinen auf eine positive Anpassung in einem beliebigen dynamischen System bezieht, das sich einer Herausforderung oder Bedrohung gegenübersieht“ (Masten & Obradovic´, 2008).
„Menschliche Resilienz bezieht sich auf die Prozesse oder Muster positiver Anpassung und Entwicklung im Kontext von wesentlichen Bedrohungen des Lebens oder der Funktion einer Person“ (Masten & Wright, S. 215).
Es ist sogar umstritten, ob man Resilienz eher als Ergebnis, als Prozess oder als Reihe von Charaktereigenschaften sehen soll. Diese Meinungsverschiedenheiten schlagen sich in den vorhandenen Erhebungen von Resilienz nieder. Während einige Forscher den Begriff Resilienz verwenden, um den Prozess von den individuellen Charaktereigenschaften abzugrenzen, nutzen andere nur einen dieser Begriffe oder beide synonym.
Folgende Definitionen sind ebenfalls zu berücksichtigen:
- Resilienz ist „das Phänomen, dass einige Individuen angesichts der Erfahrung von Risiken ein relativ gutes Ende erleben, obgleich man annehmen könnte, dass sie unter ernsten Spätschäden leiden sollten.“11
- „Das Konstrukt von Resilienz bezieht sich auf die Fähigkeit von Individuen, sich angesichts akuten Stresses, Trauma oder fortwährenden Widrigkeiten erfolgreich anzupassen und psychologisches Wohlbefinden und physiologische Homöostase zu behalten oder wiederzufinden.“12
- „Psychologische Resilienz bezieht sich auf das erfolgreiche Bewältigen und Anpassen trotz Verlustes, Mühsal oder Widrigkeiten.“13
- „Resilienz ist der Prozess, mit wichtigen Auslösern von Stress oder Trauma umzugehen, sie zu bewältigen und sich anzupassen.“14
Die Vielzahl der Definitionen verwirrt und lässt aus akademischer Sicht Präzision vermissen, aber dem Praktiker bietet sie auch ein umfassenderes Verständnis der unterschiedlichen Perspektiven und Erkenntnisse. Wie die Psychologen Christopher Peterson und Martin Seligman in ihrem Buch über Charakterstärken und Vorzüge nahelegen, ist Resilienz kein einheitliches Konstrukt und ist am besten wohl als Überbegriff zu verstehen.15 Wir haben entschieden, es genau so in diesem Buch zu handhaben: Mit anderen Worten beschränken wir den Begriff Resilienz nicht auf ein spezifisches akademisches Konstrukt.
Unsere Haltung zeigt sich in der sehr weit gefassten Arbeitsdefinition, die wir in der Einführung vorgestellt haben: Resilienz ist die Fähigkeit, sich von Rückschlägen zu erholen und auch angesichts großer Herausforderungen und schwieriger Umstände weiterzumachen, dazu gehört auch eine nachhaltige Stärke, die daraus entsteht, mit herausfordernden oder belastenden Ereignissen fertigzuwerden. Unsere Beschreibung betont bewusst den prozess- und ergebnishaften Aspekt von Resilienz. Wir verstehen die Persönlichkeit und andere individuelle Charaktereigenschaften neben äußeren Umständen und Ereignissen als prädiktive Faktoren, die erklären, warum einige Menschen besser mit Krisen umgehen und am Ende stärkere Resilienz zeigen als andere. In diesem Kapitel erläutern wir unsere Sicht auf individuelle Charaktereigenschaften als die Faktoren, die Resilienz untermauern.
„Vier Wellen“ in der Resilienzforschung
In ihrer Zusammenfassung der wissenschaftlichen Erforschung von Resilienz sprechen Ann Masten und Margaret Wright16 von „vier Wellen in der Resilienz-Forschung“. Die erste Welle konzentrierte sich auf die Beschreibung, Definition und Erhebung von Resilienz. Sie brachte sehr konsistente Ergebnisse hervor, was die Charaktereigenschaften von Individuen, Beziehungen und Ressourcen angeht, die einen Schluss auf Resilienz zuließen (wenn nicht sogar hinsichtlich dessen, wie Resilienz definiert werden sollte!). Die zweite Welle beschäftigte sich mit den Prozessen, durch die Resilienz entsteht, während die dritte Welle versuchte, anhand des Verständnisses dieser Prozesse Maßnahmen für die Entwicklung von Resilienz zu entwerfen.
Die vierte Welle kombiniert die Erkenntnisse und Methoden verschiedener Gebiete, wie Psychologie, Genetik, neurobehavioristische Entwicklung und Statistik. Wie bereits erwähnt, liegt das Augenmerk mehr auf den positiven, die Stärken betonenden Aspekten von Resilienz. Dem Praktiker in Organisationszusammenhängen kommt dieser Ansatz sehr entgegen, denn er ermöglicht die Förderung von Resilienz in einem Kontext, wo Abhilfemaßnahmen mit Argwohn betrachtet oder in die Ecke der Arbeitsmedizin geschoben werden.
Was wissen wir also über die Prädiktoren von Resilienz? Aus der Untersuchung von Resilienz in der Kindheit sind folgende Faktoren als die kritischen hervorgegangen: Beziehungen (besonders die frühen Eltern-Kind-Beziehungen), individuelle Ressourcen (dazu gehören die Fähigkeit, Probleme zu lösen, Selbstmotivation, Selbstkontrolle und Optimismus bzw. positive Haltung) und kulturelle Einflüsse. Unter kulturellen Einflüssen ist die potenzielle Schutzfunktion von kulturellen oder religiösen Glaubenssätzen und Praxen zu verstehen. Beispielsweise zeigen in den USA lebende Lateinamerikaner einen ähnlichen Status physischer Gesundheit wie die nicht lateinamerikanischen weißen Amerikaner oder sogar einen besseren, obgleich erstere Gruppe einer ganzen Reihe sozioökonomischer und anderer Belastungen ausgesetzt ist.17 Kulturelle Unterschiede sind ein wichtiger Aspekt, der bei der Planung und Umsetzung von Maßnahmen zur Resilienz-Stärkung am Arbeitsplatz berücksichtigt werden...