9Anstelle eines Vorworts
Wollte Langmut aus Kairos früher, vor der Erfindung der Technik, seinem Freund Kurzweil in Chronos, das ebenfalls im Reich Utempus lag (es war die Zeit, da man es mit der Unterscheidung griechischer und lateinischer Morpheme nicht mehr so genau nahm), eine Nachricht zukommen lassen, so musste er den Weg dorthin mühsam zu Fuß zurücklegen, wofür er sechs Stunden benötigte, oder mit dem Esel, der für dieselbe Strecke immerhin noch dreieinhalb Stunden brauchte. In beiden Fällen kam er dadurch gehörig in Zeitnot, weil er nicht vor dem Mittagessen wieder zurück sein konnte oder, wenn er erst danach losging, gar in Chronos übernachten musste, was ihm nicht nur Streit mit seiner Frau, sondern auch den Verlust eines Arbeitstages einbrachte. Jetzt aber griff Langmut lächelnd zum Telefon, übermittelte Kurzweil die Nachricht und plauderte mit ihm ein wenig über das Wetter, ehe er gemütlich und gemächlich noch ein Pfeifchen schmauchte, die Katze fütterte, eine halbe Stunde arbeitete und dann mit seiner Frau zusammen das Mittagessen kochte – meist benutzten sie dafür die Mikrowelle.
Ach ja, auch mit der Arbeit war es nicht mehr so wie früher. Vor der Einführung der Technik hatte er den ganzen Tag über an den Büchern gearbeitet, die er als Stadtkopist zu vervielfältigen hatte. War das Buch dick, hatte er am Abend dennoch manchmal noch nicht einmal eines abgeschrieben. Heute dagegen schaltete er in aller Ruhe morgens den Kopierer ein, trank dann eine Tasse Kaffee, bis das Gerät betriebsbereit war, und kopierte die Vorlage 10, 20 Mal, je nachdem, wie groß der Bedarf an Abschriften in Kairos gerade war, wofür er nicht länger als 20 Minuten brauchte. Danach ging er zum Schwimmen an den Strand. Nachmittags arbeitete Langmut inzwischen gar nicht mehr.
Endlich hatte er Zeit, im Garten zu sitzen, mit seiner Frau zu plaudern, zu musizieren oder zu philosophieren oder die kopierten Bücher zu lesen, wenn sie interessant waren. Es war herrlich, sich ganz ohne Zeit- und Terminnot seines Lebens erfreuen zu können. Wollte er von seiner Frau, seiner Katze oder dem Sonnenuntergang am Meer ein Bild haben, damit die Urenkel einst ihrer gedenken mochten, holte er gemächlich seine Digitalkamera aus dem Wohnzimmer und drückte auf den Knipser – herrlich detailgetreu erschien das fertige Bild nach wenigen Augenblicken aus dem Drucker, er brauchte nicht mehr erst seinen 10Freund, den Maler Aeternus zu beauftragen, der früher stundenlang den Pinsel geführt und nie Zeit gehabt hatte, währenddessen Langmut die Katze mit allerlei Schmeicheleien und manchmal auch mit Gewalt hatte festhalten müssen. Aber Langmut verspürte jetzt nur noch selten den Wunsch, etwas im Bild festzuhalten, um es später zu genießen oder es der Nachwelt zu überliefern.
Wollte er, wenn es draußen an den Abenden einmal kühl wurde, es drinnen trotzdem behaglich warm haben, musste er nicht etwa in den Wald gehen und Holz sammeln, um es dann später mühsam zu entzünden und dennoch nur für eine begrenzte Zeit sich der Wärme erfreuen zu können. Er drehte einfach die Heizung auf, welche mit den Windrädern am Meer verbunden war, und buchstäblich im Handumdrehen wurde es warm im Wohnzimmer wie an einem milden Sommernachmittag. Langmut war glücklich, und er fühlte sich reich – er hatte Zeit gewonnen, nahezu unerschöpflich viel Zeit, und das Seltsame war, dass er auch nicht mehr, wie früher immer wieder einmal, von dem unbehaglichen Gefühl der Langeweile heimgesucht wurde. Er hatte, wie die Menschen früher gesagt hätten, endlich Muße gefunden. Der Überfluss der Zeit, der unermessliche Zeitwohlstand hatte aus ihm einen neuen Menschen gemacht – und aus Utempus eine andere Gesellschaft.
So – oder so ähnlich – könnten wir uns eine Welt vorstellen, in welcher ein bis weit ins 20. Jahrhundert hinein geträumter Traum der technischen Verheißung Wirklichkeit geworden ist; eine Welt, die sich aller Zwänge der Zeitknappheit und der Hektik entledigt, die sich gegenüber der Zeit emanzipiert und dieselbe von einem knappen in ein im Überfluss vorhandenes Gut transformiert hat.
Dass die moderne technologische und ökonomische Effizienz eine ebensolche ›utempische‹ Gesellschaft produzieren werde, ist eine Überzeugung, an der die Advokaten des ökonomisch-technischen Fortschritts kaum jemals zweifelten und die sich beispielsweise noch bei Ludwig Erhard findet.1 »We had always expected one of the beneficent results of economic affluence [hervorgebracht durch technischen Fortschritt, H. R.] to be a tranquil and harmonious manner of a life, a life in Arcadia«, bemerkt der schwedische Ökonom Staffan B. Linder daher treffend,2 und der englische 11Philosoph Bertrand Russell vertritt in seinem 1932 verfassten ›Lob des Müßiggangs‹ die Auffassung, ebenjene arkadisch-utempische Gesellschaft sei im Prinzip bereits verwirklicht; lediglich ein unvernünftiges (›protestantisches‹) Arbeitsethos sowie eine Fehlallokation der Arbeit verhinderten ihre volle Realisierung.3 Selbst noch 1964 warnte das amerikanische Life-Magazine vor einem bevorstehenden massiven Zeitüberfluss in der modernen Gesellschaft, der gravierende psychologische Probleme aufwerfe: »Americans Now Face a Glut of Leisure – The Task Ahead: How to Take Life Easy« lautete die Schlagzeile der Ausgabe vom 21. Februar des Jahres.4
Unsere heutige Gesellschaft gleicht der ›utempischen‹ Stadt Kairos in vielerlei Hinsicht – und doch ist sie auch wiederum radikal verschieden von ihr. Aber warum? »Das Tempo des Lebens hat zugenommen« und mit ihm Stress, Hektik und Zeitnot, so hört man allerorten klagen – obwohl wir, ganz wie in Kairos, auf nahezu allen Gebieten des sozialen Lebens mithilfe der Technik enorme Zeitgewinne durch Beschleunigung verzeichnen können. Wir haben keine Zeit, obwohl wir sie im Überfluss gewinnen. Dieses ungeheure Paradoxon der modernen Welt zu erklären, seiner geheimen Logik auf die Spur zu kommen soll das Ziel dieses Buches sein.
Dafür, so die leitende These der Arbeit, ist es erforderlich, die Logik der Beschleunigung zu entschlüsseln. Eine nahe liegende Vermutung im Kontext der Eingangsgeschichte ist es zunächst, dass Langmuts gewonnene Zeit dadurch wieder verloren geht, dass ja der Kopierer, der Fotoapparat und die Heizung, mit deren Hilfe er so viel Zeit spart, selbst erst hergestellt bzw. verdient werden müssen. Geht man davon aus, dass auch in Kairos arbeitsteilig produziert wird, muss Langmut nach ›Erfindung‹ der Technik entsprechend mehr Bücher vervielfältigen als zuvor (was wiederum voraussetzt, dass auch der Bedarf an Büchern in Utempus entsprechend gestiegen ist). Auf diese Weise könnte sich der Zeithaushalt entgegen den Verheißungen der Technik in ein Nullsummenspiel (oder gar in ein Negativsummenspiel) verwandelt haben: Die Bewohner von Utempus bräuchten ebenso viel oder gar noch mehr Zeit, um die Zeitspargeräte zu produzieren und sich leisten zu können, als sie dadurch gewinnen. Das erinnert an jene inzwischen in vielerlei 12Varianten und an vielen Orten erzählte Geschichte vom armen Fischer und dem erfolgreichen Unternehmer.5
In einer abgeschiedenen ländlichen Gegend Südeuropas sitzt ein Fischer am flachen Meeresstrand und angelt mit einer alten, herkömmlichen Angelrute. Ein reicher Unternehmer, der sich einen einsamen Urlaub am Meer gönnt, kommt auf einem Spaziergang vorbei, beobachtet den Fischer eine Weile, schüttelt den Kopf und spricht ihn an. Warum er hier angle, fragt er ihn. Draußen, auf den felsigen Klippen könne er seine Ausbeute doch gewiss verdoppeln. Der Fischer blickt ihn verwundert an. »Wozu?«, fragt er verständnislos. Na, die zusätzlichen Fische könne er doch am Markt in der nächsten Stadt verkaufen und sich von den Einnahmen eine neue Fiberglasangel und den hoch effektiven Spezialköder leisten. Damit ließe sich seine Tagesmenge an gefangenem Fisch mühelos noch einmal verdoppeln. »Und dann?«, fragt der Fischer, weiterhin verständnislos. Dann, entgegnet der ungeduldig werdende Unternehmer, könne er sich bald ein Boot kaufen, hinausfahren ins tiefe Wasser und das Zehnfache an Fischen fangen, sodass er in kurzer Zeit reich genug sein werde, sich einen modernen Hochseetrawler zu leisten! Der Unternehmer strahlt, begeistert von seiner Vision. »Ja«, sagt der Fischer, »und was tue ich dann?« Dann, schwärmt der Unternehmer, werde er bald den Fischfang an der ganzen Küste beherrschen, dann könne er eine ganze Fischfangflotte für sich arbeiten lassen. »Aha«, entgegnet der Fischer, »und was tue ich, wenn sie für mich arbeiten?« Na, dann könne er sich den ganzen Tag lang an den flachen Strand setzen, die Sonne genießen und angeln. »Ja«, sagt der Fischer, »das tue ich jetzt auch schon.«
Natürlich ist diese Geschichte ziemlich naiv. Sie suggeriert, dass der höchst unwahrscheinliche Endpunkt der mühsamen Entwicklungsgeschichte, die der Unternehmer dem Fischer schmackhaft machen will, identisch mit der Ausgangssituation ist; dass der Fischer also letztlich, selbst wenn er Erfolg haben sollte, gar nichts gewinnt. Der Unternehmer scheint daher ein eindeutiges Opfer des von Russell beklagten ›protestantischen Arbeitsethos‹ zu sein: Arbeit wird ihm zum reinen Selbstzweck, der Weg vom Ausgangszustand zum Endergebnis gleicht einem Nullsummenspiel – im günstigsten Fall. Aber natürlich ist die Geschichte in Wirklichkeit nicht zirkulär: Anfangs- und Endpunkt sind nur scheinbar identisch, in 13Wahrheit aber höchst verschieden. Der Fischer muss angeln, weil er sich dadurch seinen...