Der Atem im Fokus der Forschung
Der Atem war lange Zeit ein Stiefkind der westlichen Forschung. Es scheint, als rücke er nun viel mehr in den Fokus der Aufmerksamkeit. Dabei zeigt sich, dass die Atmung nicht nur auf den Körper, sondern auch entscheidend auf die Psyche wirkt und buchstäblich alle Strukturen unseres Leibes und alle Bereiche unseres Lebens beeinflussen kann.
Alles verbindender Atem
Wenn man vom Atemgeschehen redet, so redet man auch von seinem Entstehungsort, dem Hirn. Man redet von den Elementen des Organismus, die ihn beeinflussen: von der emotionalen und körperlichen Befindlichkeit, den Gedanken, dem Geist.
In Indien und China, wo der Atem ganz selbstverständlich zu der ayurvedischen bzw. Traditionellen Chinesischen Medizin dazugehört und als Heilkraft anerkannt ist, gibt es ungezählte wissenschaftliche Studien zum Thema Atem. Wenn wir uns hier mit der Atemforschung beschäftigen, so bleiben diese Studien allerdings aussen vor. Das liegt daran, dass hier im Westen der Atem vor allem als notwendige Körperfunktion betrachtet wird. Wir atmen Sauerstoff ein, versorgen damit die Zellen, atmen aus und transportieren damit den Abfallstoff Kohlendioxid wieder ab. In den östlichen Medizinkulturen dagegen hat der Atem seit jeher einen ganz anderen Stellenwert: Er ist der König der Körperfunktionen, er transportiert Lebensenergie – und nicht nur das, er lässt sie sogar entstehen. Die Chinesen nennen diese Energie Qi (auch Chi, Ji, Ki geschrieben).
Kurioses aus der chinesischen Sicht
In der chinesischen Medizin besitzt das Qi eine heilende und lebensfördernde Wirkung, nicht nur für den Körper, sondern auch für Geist und Seele.
INFO Beim Qigong, der traditionellen Atem- und Bewegungstherapie der chinesischen Medizin, kann dem Organismus auch Lebensenergie von aussen zugeführt werden – sei es durch kombinierte Atem- und Bewegungsübungen oder sogar durch den Therapeuten.
Es gibt eine für das westliche Denken erhellende Untersuchung eines chinesischen Wissenschaftlers namens Xu. Er erklärt, dass Menschen, die mit dem Wissen um die grosse Bedeutung des Qi als lebensspendende, heilsame Kraft aufgewachsen sind, dieses schon fast eifersüchtig überwachen. Viele von ihnen sind überzeugt, dass es von aussen beeinflusst oder sogar gestohlen werden könnte. Xu beschreibt nun das Qigong Deviation Syndrome: Gemäss seinen Untersuchungen gibt es nicht wenige Chinesinnen und Chinesen, die, nachdem sie Qigong (siehe Seite 200) geübt haben, vorübergehend Angst und Unruhe verspüren. Sie nehmen ihren Körper nicht mehr richtig wahr, entwickeln Wahrnehmungsstörungen oder sogar wahnhafte Erlebnisse. Unsereins würde wahrscheinlich erschrecken und flugs den Notfall des nächsten Spitals aufsuchen. Nicht so die Chinesen; wenn eine Menge Qi zu fliessen beginnt, dann werden solche Reaktionen vom Körper erwartet. Daher ist Xu überzeugt, dass dieses Syndrom nur bei den Menschen auftritt, die dem Qi eine entsprechende Macht zumessen und mit diesen Wirkungen auch rechnen.
Vergleichbares ist aus der Placeboforschung bekannt. Ein Placebo ist ein Arzneimittel, das keinerlei Wirkstoffe beinhaltet; dennoch hilft es oft gegen Schmerzen, Schlaflosigkeit und andere Symptome. Übrigens ist es ein Irrglaube, dass Menschen einfach fest daran glauben müssen, damit es nützt. Im Gegenteil, bei vielen hilft das Mittel, obwohl sie genau wissen, dass es eigentlich gar nicht wirken kann. Vermutlich kann es eine Wirkung entfalten, weil im Hirn seit Urzeiten hilfreiche Programme gespeichert sind. Ein Programm beinhaltet die Gewissheit, dass bei Symptomen ein anderer Mensch mit einer Geste helfen kann. Nimmt das Hirn eine solche Geste wahr – sei es das Überreichen einer Substanz, das Verbinden eines Körperteils oder vielleicht auch schamanische Gesänge –, so besinnt sich der Organismus auf seine Selbstheilungskräfte.
Die inneren Programme und Überzeugungen des Menschen können also einen sehr starken Effekt haben.
Die westliche Perspektive
Manche Menschen haben eine verblüffende Fähigkeit, wissenschaftliche Tatsachen auf den Punkt zu bringen, lange bevor die Forschung den Sachverhalt bestätigt. Einer dieser Menschen war Friedrich Nietzsche. In seinem Buch «Also sprach Zarathustra» schreibt Nietzsche auch «Von den Verächtern des Leibes». Eigentlich ist es ein Brief an diejenigen, die die Leib-Seele-Geist-Einheit trennen und vor allem ihrem Geist, ihrem Verstand den Vorrang, die Steuerung im Leben überlassen. Nietzsche hat da eine ganz andere Meinung – ebenso wie die zeitgenössische Wissenschaft. Aber hier zunächst ein paar Sätze dieses exquisiten Denkers:
Der Leib ist eine grosse Vernunft, eine Vielheit mit Einem Sinne, ein Krieg und ein Frieden, eine Heerde und ein Hirt.
Werkzeug deines Leibes ist auch deine kleine Vernunft, mein Bruder, die du «Geist» nennst, ein kleines Werk- und Spielzeug deiner grossen Vernunft.
«Ich» sagst du und bist stolz auf dieses Wort. Aber das Grössere ist, woran du nicht glauben willst, – dein Leib und seine grosse Vernunft: die sagt nicht Ich, aber thut Ich.
Was der Sinn fühlt, was der Geist erkennt, das hat niemals in sich sein Ende. Aber Sinn und Geist möchten dich überreden, sie seien aller Dinge Ende: so eitel sind sie.
Werk- und Spielzeuge sind Sinn und Geist: hinter ihnen liegt noch das Selbst. Das Selbst sucht auch mit den Augen der Sinne, es horcht auch mit den Ohren des Geistes.
Immer horcht das Selbst und sucht: es vergleicht, bezwingt, erobert, zerstört. Es herrscht und ist auch des Ich’s Beherrscher.
Hinter deinen Gedanken und Gefühlen, mein Bruder, steht ein mächtiger Gebieter, ein unbekannter Weiser – der heisst Selbst. In deinem Leibe wohnt er, dein Leib ist er.
Es ist mehr Vernunft in deinem Leibe, als in deiner besten Weisheit.
Nietzsche tadelt mit anderen Worten die Einstellung, dass der Körper dumm sei; dass er zwar Funktionen wie Sehen, Hören, Riechen, Schmecken, Tasten, Stehen, Gehen, Sitzen, Liegen, Schlafen, Verdauen, Ausscheiden, Entgiften, Atmen wunderbar erledige, aber ansonsten zu nichts nütze sei. Der Philosoph plädiert für die Klugheit des gesamten Organismus. Er geht sogar noch weiter und sagt, dass der Leib eine sehr viel grössere Vernunft besitze als der bewusste, im Hirn siedelnde Verstand. Was ist da dran?
Nietzsche nennt unser Denken und Deuten die kleine Vernunft. Den Leib hingegen nennt er die grosse Vernunft. Die moderne Hirnforschung gibt ihm völlig recht: Während das bewusste Denken nur einen geringen Teil des Hirns in Anspruch nimmt, ist die sinnliche Wahrnehmung des Körpers, das Verknüpfen, Bewerten von Informationen und die Lösungsfindung im Unbewussten ein umfassendes Geschehen, das nicht nur in einzelnen Hirnbereichen, sondern buchstäblich im gesamten Organismus geschieht.
Die Möglichkeiten des Unbewussten
Ein anderer grosser Denker und Wissenschaftler der Neuzeit war Carl Gustav Jung, ein Schüler des Psychoanalyse-Pioniers Sigmund Freud. Jung fasste die Wahrnehmungsmöglichkeiten zusammen und erklärte, dass diese auf vier Ebenen stattfänden: Wir nehmen wahr auf der Ebene des Körpers, auf der Ebene des bewussten Denkens, auf der Ebene der Gefühle und Emotionen und auf der Ebene des Intuierens. Mit «Intuieren» ist z.B. die Fähigkeit des unbewussten Vernetzens und Bewertens aus dem Erfahrungsgedächtnis heraus gemeint.
In Bezug auf den bewussten Verstand, den Nietzsche anspricht, lässt sich das Hirn grob gesagt in zwei Bereiche unterteilen: den Bereich des bewussten Denkens und den Bereich des Unbewussten. Evolutionstechnisch entwickelte sich die Hirnrinde – jenes Areal, das für das bewusste Denken zuständig ist – zuletzt. Es ist die eigentliche Menschwerdung. Ohne die Hirnrinde, den Kortex (lat. cortex, Rinde), der sich direkt unter dem Schädelknochen befindet, würden wir wohl immer noch als eine Affenart im Dschungel weilen. Die Entwicklung der Hirnrinde machte den Weg frei für die Entstehung der Sprache, des logischen Denkens, des bewussten Planens. Das sind tolle Errungenschaften.
Denken führt nicht immer zum Ziel
Auf diesen besonderen Fähigkeiten gründen die meisten gesellschaftlichen Strukturen und Systeme: Kultur, Wissenschaft, das Bildungssystem, die Religionen und so weiter. Im Verlauf der Industrialisierung definierten die Menschen in unserer Weltgegend sich immer stärker über das bewusste Denken. Intelligenz wurde zu einer der erhabensten Tugenden und mittels Tests vermessen. Denken Sie an den grossen Philosophen der Aufklärung, René Descartes (1596–1650), mit seiner berühmten Aussage «Ich denke, also bin ich». Damals war dies eine umwälzende Erkenntnis, denn sie löste die Religionshörigkeit ab. Die Menschen waren gesellschaftlich gesehen nicht mehr dann am «wertvollsten», wenn sie sich Kirche...