Wie im Kapitel 5 dargestellt, lassen sich unter dem Begriff Sozialkapital Kategorien wie der Abbau von Hierarchien(1), die Erzeugung von Gruppenzugehörigkeit durch die Netzwerkbildung in den Social Media (2, die Generierung von Vertrauen (3), die Erzeugung von Hilfeleistungen (4) sowie die Reduktion von Entfremdung (5) und die Erleichterung der Selbstverwirklichung zum Beispiel durch die Chance der Arbeitsplatzsuche (6) nennen. Legt man die obigen Kategorien der Nutzung der Social-Media-Plattformen in Bezug auf die Generierung von Sozialkapital zugrunde, so entsteht ein weitgehend positives Bild. Ellison et al. gelangten in ihrer Untersuchung zur Entstehung von Sozialkapital in den Social Media in den USA zu dem Schluss, dass die Nutzung von Facebook unter den Studenten der Universität von Michigan dort Sozialkapital akkumulierte.[71] Weitere Forschung zur Entstehung von Sozialkapital durch die Nutzung von Social Media stellten Büser et al. in einer Projektarbeit der Humboldt-Universität an. In ihrer Arbeit „Sozialkapital in Online-Communities“ untersuchten sie die diesbezügliche Thematik anhand der Nutzung des nicht mehr existierenden studieVZ (Stand 2017). Die Untersuchung ergab, dass sehr aktive Nutzer des Portals, die starke Beziehungen auf der Plattform unterhielten, auf der Gefühlsebene Sozialkapital erzeugten. Dies schlug sich darin nieder, dass die betreffenden Nutzer gegenüber häufig kontaktierten Personen Gefühle emotionaler Geborgenheit empfanden.[72]
Die These, dass Beziehungen, die online in den Social Media geknüpft werden, als oberflächlich und unpersönlich gelten können, lässt sich kaum halten.[73] Starke Beziehungen, die für die Akkumulation von Sozialkapital in der Form der Realisierung der oben genannten Kategorien sorgen, existieren online ebenfalls. Dies ergibt sich schon daraus, dass die Online- und Offline-Dimensionen der Social Networks im Alltagsleben der Nutzer dort tief verankert sind.
Facebook ist ein Freundschaftsnetzwerk, dessen grundlegende Funktionen in der Aufnahme, Pflege und Intensivierung sozialer Bindungen besteht.[74] Wie in Kapitel 6.2 dargestellt, bietet das Facebook-Portal umfangreiche Möglichkeiten individualisierter Selbstdarstellung, die zugleich als Brückenfunktion (1) gegenüber Offline-Kontakten in deutlich vereinfachter Kontaktaufnahme dienen. Insofern bildet sich auf dieser Grundstufe bereits ein Ansatz von Sozialkapital, da in vielen Fällen soziale Isolation reduziert oder aufgehoben wird.[75] Schon mit dieser Grundfunktion eines Freundschaftsangebots entsteht eine alternative Form der Interaktionsmöglichkeit, die in klassischen Kommunikationsmitteln (Radio, Presse usw.) auf der individuellen Ebene nicht existiert.
Sozialkapital entsteht durch die Freundschaftsfunktionen und nicht zuletzt durch die Simplizität ihrer Einrichtung durch die Integration des betreffenden Nutzers in eine global existierende Gemeinschaft. Die entsprechende Gruppenzugehörigkeit, die mit der Freundschaftsaufnahme entsteht, schließt die sozialen Barrieren aus, die Bourdieu in seiner Theorie der Macht darstellt. Laut Miller entsteht in dem Beziehungsmanagement, das sich mit den Freundschaftsebenen auf Facebook für die Nutzer ergib, weiteres Sozialkapital, da die betreffenden Nutzer Emotionen der sozialen Desintegration in den Freundschaftsnetzwerken reduzieren können.[76] Die scheinbar eher oberflächliche Freundschaftskommunikation auf Facebook gewinnt ihre Konsistenz durch die Vernetzung der Teilnehmer, die durch die Übersendung minimaler Kontakte oder Information miteinander verbunden sind. Miller spricht hier von der phatischen Ebene der Kommunikation in den Social Media.[77] Wesentliche Ebenen der phatischen Kommunikation bestehen laut Miller in einer Form gesellschaftlicher Inklusion, bei der die mediale Betätigung der Nutzer das Wesentliche bildet. Die kommunikativen Netzwerke, die Facebook global anbietet, entwickeln auf der medialen Ebene eine Dynamik, in der das Formale im Vordergrund steht. Die durch die Freundschafts-Netzwerke entstehenden Beziehungen bilden insofern weiteres Sozialkapital, als Vertrauen in die jeweiligen Selbstoffenbarungen der Nutzer auf beiden Seiten existiert: Einerseits vertraut der Nutzer mit seiner Selbstrepräsentation sich der globalen Facebook Community an, andererseits erwartet er von ihr seinerseits eine solche vertrauensvolle Selbstoffenbarung auf der Freundschaftsebene. Der Begriff Vertrauen verändert in den Social Networks seine Bedeutung dahingehend, dass er die Aufrechterhaltung des Netzwerks in seiner kollektiven Form als gemeinsame Zielstellung impliziert.[78] Der Grad des Vertrauens, den die individuelle Selbstoffenbarung auf Facebook mit dem Posting persönlicher Mitteilungen, Fotos und Videos (siehe Kapitel 6.2) erreicht, übertrifft auf der medialen Ebene bei weitem den, der offline in dieser Kategorie existiert: In der nichtvirtuellen Realität (offline) würden individualisierte Informationen über das Privatleben der Personen nicht in einer Geschwindigkeit wechselseitig preisgegeben, wie dies auf Facebook millionenfach geschieht.
Unter positiven Aspekten der Akkumulation von Sozialkapital finden sich in der Literatur auch die Ebenen der Selbstoffenbarung, wie sie auf Facebook Gang und Gebe sind, thematisiert. So stellt Frattaroli fest, dass Selbstoffenbarungsprozesse Emotionen auslösen, die Stress reduzieren, und ein positives Selbstverständnis erzeugen.[79] Wie in Kapitel 6.2 dargestellt, besteht zwischen den Ebenen der Selbstdarstellung und der Selbstoffenbarung auf Facebook keine feste Grenze. Abb. 2 (S. 20) zeigt, dass sowohl allgemeine Interessen wie etwa literarische Vorlieben aber auch Lebensereignisse auf der Seite mitgeteilt und offenbart werden. Niemann definiert Selbstoffenbarung als „jede Information über das Selbst …, die eine Person mindestens einer anderen mitteilt“.[80] Betrachtet man die entsprechenden Facebook-Postings unter der emotionalen Akkumulation von Sozialkapital, so lässt sich mit Collins / Miller eine Reihe von Effekten aufführen, die durch die Selbstoffenbarung Vertrauen produziert, dem Facebook-Freund Sympathie einbringt und damit zu seinem psychischen Wohlbefinden beitragen kann.[81] Mit der Erzeugung eines wie immer gearteten Vertrauens ist für die intensiveren Nutzer von Facebook auch die Erwartung möglicher Hilfeleistungen verbunden, wie sie in Kapitel 5 unter dem Begriff Sozialkapital dargestellt wurde. Facebook-User versprechen sich im Bereich der Hilfsdimension einen Nutzen von ihren Kontaktpersonen, die unter Freundschaftsbeziehungen registriert sind.[82] Zusätzlich bietet Facebook abstraktes Sozialkapital auch mit der Möglichkeit, Kontakte aufzufrischen, die man im Verlauf seiner biografischen Entwicklung aus den Augen verloren hat.[83] Auch die Arbeitsplatzsuche lässt sich mit Facebook-Postings in einer Form gestalten, die sich als Alternative zu den klassischen Methoden (Arbeitsagentur usw.) betrachten lässt. Auch dies lässt sich als Vertrauensebene interpretieren, die auf Sozialkapital beruht.
Gruppen, die sich in progressiv-emanzipatorischer Form um einen nachhaltigen Lebensstil bemühen, betätigen sich auf nahezu sämtlichen Social-Media-Kanälen, um ihre Zielstellungen publik zu machen. Die in Kapitel 6.3 dargestellten Nutzungsfunktionen von YouTube (individualisierter medizinischer Rat etc.) repräsentiert bereits Ebenen des Vertrauens in der Offenbarung intimer Krankheitsphänomene und ihrer Behelfsmittel sowie die mögliche Hilfestellung in diesem Bereich für andere Betroffene. Am Beispiel der Aktivitäten, die die Gruppe der LOHAS in den Social Media, besonders auf YouTube, betreibt, lässt sich darstellen, dass die Sozialmedien auch die Akkumulation von Sozialkapital auch auf der Gruppenebene des Community-Building fördern. So nutzen die LOHAS den YouTube-Kanal in intensiver Form, um einerseits die Information für ihre Anliegen und andererseits die Nachhaltigkeitsethik zu verbreiten, die diesen Anliegen zugrundeliegt. Der Begriff LOHAS bildet sich aus den Anfangsbuchstaben der Worte „Lifestyles of Health and Sustainability“. Die LOHAS sind eine Personengruppe, die sich eines ethischen Konsumverhaltens befleißigt, das besonderen Wert auf Nachhaltigkeit legt.[84] P. Ray beschreibt die Zielstellungen der LOHAS als eine Suche nach konsumkulturellen Alternativen, die dazu geeignet sind, die Zwänge einer auf Massenkonsum hin orientierten Gesellschaft zu vermeiden.[85] Die alternativen Konsumvorstellungen der LOHAS richten sich auf eine umfangreiche Palette verschiedener Lebenseinstellungen. Die Literatur beschreibt die LOHAS als eine Avantgarde von Konsumenten, deren Lebensstil zugleich soziale Verantwortung, gesundheitsorientierte Inhaltlichkeit und auch spirituelle Ebenen beinhaltet.[86] Kirig / Wenzel heben in...