1. The Age of Cheap
Warum (fast) alles billiger wird
„Consumer Democracy is the gasoline for the bulldozer of globalization.“1
„Billig“ ist die wichtigste Entwicklung hin zur nächsten Etappe in der Modernisierung von Wirtschaft und Gesellschaft. Billig meint nicht einfach „billig“ – es geht um eine grundsätzliche Einstellung von Menschen in einer Zeit, in der alles, was man haben kann, sofort verfügbar ist. Dass wir uns heute vorwiegend um Discount- und Schnäppchenjäger-Themen kümmern, ist eine logische und wichtige Folge der Entwicklung in satten Märkten. Wir können davon ausgehen, dass der Preis in den kommenden Jahren eine noch dominantere Rolle spielen wird – beim Einkaufen, in der Politik, in der Moral, in der Familie, in der Ausbildung, in der Freizeit. Erfolg hat mit Popularität und Prominenz zu tun, alles andere – wie Privilegien oder Tradition – kommt nachher. Das Populärste und Prominenteste in einer reifen, voll entwickelten demokratischen Marktwirtschaft ist der Preis.
1.1. Warum der Billigtrend unser Leben verändert
Der Zusammenhang von Wohlstand, Demokratie und Preisorientierung
Discount wird also zum wichtigsten und maßgebenden Lebensstil. Daraus wachsen neue, legitime Verhaltensweisen hervor:
- Die „neue Bescheidenheit“ nobilitiert Knausrigkeit.
- Armut verlangt nach billigen Produkten.
- Geiz ist geil.
- Wer zu viel bezahlt, ist blöd.
Was einst als Untugend galt, prägt heute ungeniert unseren Lebensstil. Wir entwickeln uns zu einer billigen Gesellschaft.
Für die Anbieter-Seite lauten daher die Fragen: 1. Wer ist besser? 2. Wer ist unter den Besten der Billigste? 3. Wer gewinnt den Zeitkampf? Also: Wer ist der Schnellste? Auf diese Modernisierung müssen wir uns in freieren Märkten einstellen. Für den Kunden ergeben sich dadurch billigere Preise.
In dieser Stufe der Marktdemokratie stellt sich auch die Frage nicht mehr, was zuerst da war, das Angebot oder die Nachfrage. Sicher scheint auf jeden Fall: Das Discount-Phänomen ist da, und es wird sich durch Konjunkturresistenz auszeichnen. Wir haben an einer Spirale zu drehen begonnen, die sich nicht so leicht stoppen lässt. Tiefere Preise bringen tiefere Löhne. Tiefere Löhne bringen tiefere Preise. Das Vabanquespiel zwischen Lust am Discount und Frust am Discount ist losgetreten und wird die Effekte von Dominosteinen erzielen. Es wird unsere Wirtschaft und unsere Gesellschaft nachhaltig verändern und damit auf bislang ungeahnte Weise modernisieren.
Wir haben in den letzten Jahren viel gehört über Globalisierung und zuletzt in den depressiven Post-New-Economy-Jahren 2001 bis 2003 noch mehr über Deglobalisierung. Anfang des Jahres 2003 hat uns der Ahold-Skandal mit seinen gar zu kreativen Accounting-Techniken erschüttert und vermeintlich bestätigt, was wir nach dem Börsenhype und den Übertreibungen in der Telekom-Industrie vermutet haben. Doch Deglobalisierung wäre die Rücknahme des Begonnenen, die Rückkehr zu so genannten „guten alten Zeiten“ national orientierter Ökonomien. Lassen wir uns aber nicht beirren. Jeder Megatrend hat einen Gegentrend. Globalisierung wird weiterschreiten, es gibt keine Anzeichen, dass dem nicht so wäre. Denn Globalisierung bringt vor allem eine Verheißung: Consumer Democracy. Das ist das Versprechen, dass die Menschen Zugang haben zu einer unglaublichen Vielfalt von Angeboten, dass sie daraus frei wählen können, das zu kaufen, was sie wirklich wollen. Consumer Democracy macht die Menschen erst wirklich gleich, unabhängig von Klasse und Rasse. Und das erst noch zu einem günstigen Preis. Was könnte man dem schon vernünftigerweise entgegensetzen?
Was aber ist Consumer Democracy? Consumer Democracy ist eine logische Weiterentwicklung aus der politischen Demokratie. Fast alle entwickelten Länder sind heute Demokratien. Die Grundrechte sind gegeben, Teil einer Tradition geworden, die man gar nicht mehr zur Diskussion stellen will, weil sie so selbstverständlich geworden ist. Dass die Menschen politisch Einfluss nehmen können mit ihrem Wahlzettel, ist für sie „geschenkt“, in positivem Sinne gegeben. Sie haben auch gelernt, dass das wichtig ist, aber nicht alles. Sie sind klug genug, diese Rechte zu schätzen. Sie wissen aber auch: Politische Macht in einer modernen Demokratie ist indirekt, relativ schwach und vor allem langsam. Die Menschen lernen heute, dass sie auf andere Weise Einfluss nehmen können, und zwar direkt, unmittelbar und mit sofortiger Wirkung auf ihr eigenes Leben. Und dass diese Wirkung durchaus auch politischer Natur sein kann. In der heutigen Consumer Democracy können sie mit ihrem Portemonnaie oder vielmehr mit Plastikgeld, mit ihrer Kreditkarte abstimmen: Ich wähle diesen Anbieter und nicht jenen. Consumer Democracy ist niemals ausschließend, sie eröffnet Optionen. Die Menschen haben gesehen, wie ihre Freiheit dadurch steigt. Heute lernen sie aber auch die Kehrseite kennen: Mehr Freiheit braucht auch mehr persönliche Verantwortung. Eine dank wachsender Angebotsvielfalt auch immer individualistischere Welt mit immer neuen Ansprüchen und Wünschen funktioniert nur, wenn jeder Einzelne die Verantwortung, statt sie in Systeme abzuschieben, selbst übernehmen kann.
Je mehr die Vernetzung erleichtert wird, je einfacher Informationen abgeholt werden können, desto mehr sind nämlich die Individuen auch aufgefordert, ihr Lebensarrangement selbst zu gestalten und das Richtige zu wählen. Sie können sich dabei also nicht mehr auf Traditionen verlassen (Wie haben wir es früher gemacht?), sondern müssen sich an der Vielfalt der Möglichkeiten der globalen Informationskanäle orientieren, den Trends, die sich als Kreuzung oder aktuelle Konstellation von Netzwerken ergeben. Trends ersetzen Traditionen. Das betrifft auch die persönliche Risikoallokation. Letztendlich lernen wir, dass uns im Notfall nicht mehr der Staat (siehe soziale Sicherheit), nicht mehr das Unternehmen (siehe Pensionskassen und die Frage nach den Renditen) oder andere Institutionen (z. B. NGOs) helfen, sondern wir für uns selbst verantwortlich sein werden. Wenn ich also keine verlässliche Abfederung von Risiken mehr habe, dann muss ich mich auf mich selbst verlassen können. Und das heißt: Die Menschen verhalten sich wie ein Unternehmen, das Gewinne maximiert. Verdeutlichen wir uns das mit drei Fragen, die jeder Leser selbst beantworten kann:
- Wie viele von Ihnen möchten morgen lieber einen höheren Lohn als heute?
- Wie viele von Ihnen möchten lieber tiefere Preise als höhere Preise, wenn Sie einkaufen und shoppen gehen?
- Wenn Sie zu den Privilegierten gehören, die zusätzlich Geld sparen können, möchten Sie lieber eine höhere oder tiefere Rendite erzielen?2
Das muss man nicht weiter erklären, denn die Antworten sind evident. Dass ich das Erste erreiche, ist nicht (mehr) selbstverständlich. Dass ich Letzteres erreiche, auch nicht (mehr). Aber das Zweite ist sehr wahrscheinlich. In der Consumer Democracy geht es darum, dass viele Menschen Zugang haben zu den Früchten der Zivilisation. Und es werden immer mehr. Es war noch nie so einfach, Zugang zu haben zu Produkten und Dienstleistungen, die man gerade will. Das bringt das Gefühl: Eigentlich ist alles da. Wir leben in der besten aller Welten. Wir brauchen es nur abzuholen. Die Consumer Democracy ist letztendlich ein gigantisches Buffet mit erlesenen Speisen, zu denen man unabhängig von Klasse, Rasse oder Tradition Zugang hat. Dank dem Zeitalter von Billig können sich selbst einkommensschwache Haushalte Champagner und Lachs leisten – man denke an Aldi und Lidl. Unser Freiheitsverständnis hat sich dahin entwickelt, dass mehr Auswahl immer besser ist als weniger Auswahl. 10 TV-Kanäle sind besser als 5, 50 sind besser als 20. Und 30 Erdbeerjoghurtsorten sind besser als 20. Wie noch nie zuvor gilt in der Consumer Democracy: Wir sind frei zu tun, was wir wollen. Wir sind frei zu sein, was wir wollen. Wir sind frei zu wissen, was wir wollen. Und vor allem: Wir sind frei, dahin zu gehen, wohin wir wollen. Aber wiederum mit der Konsequenz, dass wir mehr Verantwortung für uns selbst übernehmen. Denn wir müssen selbst wählen. Keine Tradition hilft uns mehr dabei.
Erleichterte Zugänglichkeit bringt aber auch als weitere Konsequenz die erhöhte Austauschbarkeit. Ich kann nun noch mehr wählen – oder negativ formuliert: Es gibt einen Zwang, ständig Optionen auszutesten. Vielfalt kann auch mühsam werden, ein Stressfaktor. Soll ich nach Ibiza in die Ferien gehen oder doch wieder einmal nach Rimini, oder ist das Last-Minute-Angebot nach Belek nicht noch viel besser? Wenn ich Biofood nicht mag, kaufe ich Labelfood. Und wenn ich mein Aussehen nicht mag, kaufe ich Skin Care oder gehe zum Chirurgen. Wenn mir die Heirat nicht mehr passt, wähle ich die Scheidung. Wenn ich Kinder bekomme, kann ich das Mercedes-Coupé nicht mehr finanzieren. Was ist die Konsequenz? Dadurch gewinnt das in reifen Ländern stärkste Argument an Gewicht: der...