SELBST IN GEMÜSEABSCHNITTEN STECKT NOCH VIEL ENERGIE.
DIE BLÄTTER DER ROTEN RÜBE WACHSEN RASCH WIEDER NACH (→SEITE 129 F.).
Beim Gärtnern am Fenster wird das ganze Jahr hindurch geerntet.
Kleinstflächen draußen auf dem Fensterbrett, aber auch im Haus werden genutzt. Auf zusätzliches Kunstlicht wird dabei verzichtet.
Je nachdem, was der Rahmen vorgibt, können Gemüse, Kräuter, Keimsprossen, Pilze und sogar einige Obstarten kultiviert werden.
Gründe für das Gärtnern am Fenster
DIE SEHNSUCHT NACH DEM EIGENEN GRÜN
Immer mehr Menschen zieht es vom Land in die Stadt. Immer weniger haben einen eigenen Garten, der es ermöglicht, Kräuter, Obst und Gemüse aus eigenem Anbau zu ernten. Auch Wohnungen mit Balkon oder Terrasse sind keine Selbstverständlichkeit im urbanen Raum. In der weitgehend verbauten städtischen Landschaft sind Parkanlagen und Blumenrabatten oft die einzigen grünen Inseln. Für den Anbau von essbaren Pflanzen werden sie in der Regel nicht genutzt.
Unter Wohnhäusern und städtischer Infrastruktur befindet sich oft der fruchtbarste Boden. Mindestens 100 Jahre dauert es, bis ein Zentimeter davon entsteht. 20 Hektar Fläche werden in Österreich täglich versiegelt, das heißt verdichtet und mit Stein, Beton oder Asphalt bedeckt. Das Gärtnern am Fenster erlaubt es, Fragmente dieser für den Pflanzenbau verloren gegangenen Flächen zurückzuerobern und einen Teil der eigenen Nahrung selbst herzustellen. Das kann einen äußerst kreativen Umgang mit Kulturpflanzen bedeuten. Vorhandene Ressourcen wie ein limitiertes Platzangebot, ein spezifisches Mikroklima und variierende Lichtverhältnisse werden dabei optimal genutzt – draußen auf dem Fensterbrett und auch im Innenraum.
Wachsende Mobilität ist ein weiteres Kennzeichen unserer Zeit. Trotz steigender Tendenz zum wiederholten Wechsel des Wohnorts haben viele Menschen das Bedürfnis, etwas wachsen und gedeihen zu sehen, sich über den Umgang mit Pflanzen sozusagen zu „verwurzeln“. Gut umsorgt, können neben herkömmlichen Zimmerpflanzen auch ausdauernde essbare Gewächse zu langjährigen Begleitern werden, die einem von Ort zu Ort folgen. Der neu bezogenen Wohnung geben sie rasch Atmosphäre.
AUF NEUE GESCHMÄCKER KOMMEN – MUT ZU RARITÄTEN
Von manchen Gemüsearten gibt es eine unglaubliche Vielfalt, die man jedoch in Geschäften kaum findet. Viele Sorten scheiden von vornherein für den Anbau im größeren Stil aus, da sie nicht gut transportiert und gelagert werden können oder nur kleine Erträge bringen, die wirtschaftlich nicht interessant sind. Der Gärtnerin und dem Gärtner am Fenster erschließt sich aber die Farben-, Formen- und Aromenvielfalt der essbaren Pflanzen. Mit seltenen Gemüsesorten und Kräutern, die man im Supermarkt üblicherweise nicht erhält, kann das saisonale Angebot auf Märkten wunderbar ergänzt werden.
Der kulinarische Wert einiger in diesem Buch porträtierter Pflanzen ist im mitteleuropäischen Raum noch weitgehend unbekannt. Die Geschichte der Nutzpflanzenmigration ist schon viele Tausende Jahre alt. Sie erzählt von Austausch, Anpassung an neue Anbaugebiete, Vergessen- und Wiederentdeckt-Werden und ist noch lange nicht zu Ende geschrieben. Laufend bereichern „neue“ Arten die Welt der Nutzpflanzen und erobern anfangs oft noch skeptische Gaumen. Zitronengras, Handama, Langer Koriander, Thai-Basilikum oder eine ganz besondere Chili-Sorte, die notwendig ist, um einem Gericht die gewünschte Authentizität zu verleihen, können am eigenen Fensterbrett gezogen werden und machen es möglich, exotische Gerichte ohne lange Transportwege der Zutaten zu kochen. So habe ich zum Beispiel entdeckt, dass es geschmacklich einen sehr großen Unterschied macht, wenn man für die in Spanien häufig als Tapas servierten frittierten Paprikaschoten tatsächlich Piquillos verwendet oder fruchtig-scharfe Vogelaugenchilis für ein Thai-Curry.
Der Anbau exotischer Nutzpflanzen eröffnet neue kulinarische Möglichkeiten.
KLEINE FLÄCHE MIT GROßEM NUTZEN
Manche essbaren Pflanzen sind sehr dekorativ, aber Erntegut fällt nur in kleineren Mengen an. Hier steht der Zierwert im Vordergrund, und der kulinarische Aspekt ist ein Zusatznutzen. Mit der richtigen Pflanzenwahl und der passenden Pflege können sehr kleine Flächen aber auch verhältnismäßig gute Erträge bringen.
Küchenfertige Schnittkräuter sind relativ hochpreisig. Ein eigener kleiner Kräutergarten am Fensterbrett macht sich deshalb bald bezahlt. Frische Kräuter können so auch genau zur richtigen Zeit und in der passenden Menge geerntet werden. Gerade noch an einem sonnigen Platz am Fenster gestanden, geben sie Selbstgekochtem das gewisse Etwas. Kaufen kann man diese Art der Frische nicht, und nebenbei werden das Einwässern von übriggebliebenen und das Entsorgen von verwelkten Kräutern überflüssig. Auch der Sprossenanbau ist ohne großen Aufwand möglich und ergibt Sinn, wenn man auf die Preise achtet, die für eine Tasse Keim- oder Sprossengemüse im Handel verlangt werden. Gemüsekulturen, die wiederholt eine Ernte zulassen oder in mehreren Sätzen gesät werden können, wie Spinat oder Pflücksalate, sind aus ökonomischer Sicht ebenfalls interessant. Ebenso Arten mit einer sehr kurzen Kulturdauer wie Radieschen, die rund 25 Tage nach der Aussaat schon wieder geerntet werden können und dann Platz für den Anbau wärmebedürftigerer Arten machen. Schlussendlich geht es beim Gärtnern am Fenster aber vordergründig nicht um große Erträge, sondern um das gute Gefühl, wenn man die ersten Keimlinge beim Durchbrechen der Erdoberfläche beobachtet, bunte, knackige Salatblätter pflückt und nach dunklen Wintertagen mehrjährige Kräuter wieder kraftvoll austreiben sieht.
Die Zitronenmelisse ist ein mehrjähriges Gewächs und kann immer wieder aufs Neue beerntet werden.
VERÄNDERTE WAHRNEHMUNG UND GESTEIGERTES WOHLBEFINDEN
Das Gärtnern am Fenster ist eine lebendige, kreative Tätigkeit mit therapeutischem Nebeneffekt, die einen in der Gegenwart ruhen und freudige Blicke in die Zukunft werfen lässt. Kaum eine andere Beschäftigung ist derart energie- und freudebringend im Vergleich zum damit verbundenen Aufwand. Bleibt der Blick an feinen grünen Blattstrukturen, reifen Früchten und bunten Blüten am Fenster hängen, merkt man sofort, wie erfrischt Auge und Kopf plötzlich sind. Langsam verändert sich auch die Wahrnehmung: Man erlebt die Jahreszeiten intensiver, beobachtet den Weg der Sonne und die Intensität und Dauer von Regenfällen. Schrittweise erscheint die Umgebung in einem völlig neuen Licht. Die lebensnotwendigen Prozesse, von denen wir abhängen, werden klarer. Auch Kinder, die in der Stadt groß werden, können durch das Gärtnern am Fenster Keimung, Wachstum und Ernte von Anfang an miterleben.
Spinat hat eine kurze Kulturdauer und bringt mehrmals Ernte.
Gärtnern am Fenster kann auch dazu führen, sich mit anderen pflanzenbegeisterten Menschen zu vernetzen und Erfahrungen, selbst geerntetes Saatgut, Kräuterstecklinge oder Lieblingsrezepte auszutauschen. Vielleicht bekommt man auch Lust, sich in einem Gemeinschaftsgarten einzubringen, eine Parzelle in einem Selbsterntefeld zu pachten oder sich um die Bepflanzung einer Baumscheibe in der Nachbarschaft zu kümmern.
Pflanzen am Fenster wirken auf das Wohlbefinden.
Tipp: Pflanzentauschbörsen
Pflanzentauschbörsen gewinnen zunehmend an Beliebtheit. Hier werden von HobbygärtnerInnen Pflanzen und Saatgut getauscht oder gegen eine kleine Spende abgegeben. Man kann sich entweder selbst ans Organisieren machen oder recherchieren, was es schon gibt. In Wien werden diese Börsen unter anderem von der Gebietsbetreuung veranstaltet. Unter www.gbstern.at findet man im Internet auch Informationen, wenn man sich für die Gestaltung und Pflege einer Baumscheibe interessiert.
ÜBERSCHÜSSIGE SALATJUNGPFLANZEN KÖNNEN VERSCHENKT ODER GETAUSCHT WERDEN.
GRÜN AM FENSTER FÜR BESSERES KLIMA IM RAUM
Neben dem positiven Einfluss auf unsere Psyche können essbare Pflanzen auch das Raumklima deutlich verbessern. Dafür verantwortlich ist die Fotosynthese: Tagsüber nehmen Pflanzen durch kleine Öffnungen, hauptsächlich an der Blattunterseite, Kohlendioxid auf. Durch Lichtenergie werden Wassermoleküle in Sauerstoff und Wasserstoff aufgespalten. Während sich der Wasserstoff mit dem Kohlendioxid zu Kohlenhydraten verbindet, die den Pflanzen als Nahrung dienen, gelangt der Sauerstoff in die Umgebung und verbessert die Raumluft. Durch die kleinen Blattöffnungen wird auch Wasser verdunstet, das die Luftfeuchtigkeit im Raum teilweise spürbar erhöht – dieser Wasserdampf in der Luft macht auch den Schatten eines Baumes so angenehm.
Im Sommer...