KAPITEL 1
Einige Fragen
Reichsgründer. Modernisierungsverhinderer oder weißer Revolutionär. Militarist, Erzzivilist; Kriegstreiber, Friedenspolitiker. Nationalheld und Genie, böser Geist und Dämon der Deutschen.
Die Liste der Beinamen, die Otto von Bismarck in den letzten anderthalb Jahrhunderten gegeben worden sind, ist lang. Und nur an einem lassen sie keinen Zweifel: An Bismarck scheiden sich die Geister. Über die Politik keiner anderen Persönlichkeit der deutschen Geschichte sind mehr Kontroversen geführt worden. Keine andere historische Gestalt ist umstrittener. Und nur über einen anderen Politiker sind hierzulande mehr Bücher geschrieben worden – über Adolf Hitler. Im Gegensatz zu Hitler ist das Urteil über Bismarck jedoch alles andere als eindeutig.
Einigkeit besteht in Bismarcks Fall lediglich über die Bedeutung seiner Politik. Selbst eingefleischte Strukturhistoriker, die den Einfluss einzelner Personen auf historische Entwicklungen gering schätzen, sehen in ihm eine Ausnahme von dieser Regel. Bismarck, urteilte etwa Hans-Ulrich Wehler, sei «eine politische Potenz sui generis». Das müsse «auch der konzedieren, der nicht an das ‹Männer machen die Geschichte› glaubt».[1] Ohne Bismarck wäre die deutsche Geschichte von Grund auf anders verlaufen: Das wird in historischen Darstellungen, und beileibe nicht nur in Biographien des «eisernen Kanzlers», oft postuliert oder zumindest angedeutet.
Allerdings bleibt es fast immer beim Postulat oder der Andeutung. Autoren historischer Belletristik sind in dieser Hinsicht mutiger. Die intellektuell vielleicht anregendste, sicher aber amüsanteste kontrafaktische Spekulation zur Zeit Bismarcks hat wohl Carl Amery vorgelegt. In seinem historischen Schelmenroman «An den Feuern der Leyermark» lässt Amery nicht Preußen unter Bismarcks Führung den Krieg von 1866 gewinnen, sondern einen ausgesprochen unwahrscheinlichen Kandidaten – nämlich Bayern. Augenzwinkernd schildert er, wie ein fränkischer Beamter im Münchner Kriegsministerium eigentlich mit dem Ziel, die bayerischen Rüstungsanstrengungen zu sabotieren, im Vorfeld des Krieges 500 Revolverhelden aus dem Wilden Westen anheuert. Diese unterbrechen dann nach dem Sieg der Preußen über die Österreicher in der Schlacht bei Königgrätz die preußischen Nachschublinien. Im sächsischen Bad Schandau an der Elbe, über das tatsächlich der Nachschub für die preußische Böhmenarmee lief, in dessen Sandsteingebirge aber auch Karl May die Inspiration für seine Wildwestgeschichten erhielt, vernichten die mit modernsten Schnellschussgewehren ausgerüsteten Waldläufer und Indianer die Gardetruppen der Hohenzollern.
Das besiegte Preußen und sein plötzlich marginalisierter Ministerpräsident Bismarck sehen sich daraufhin gezwungen, die revoltierende Rheinprovinz an einen von Bayern geführten süddeutschen Bund abzutreten. Nebenher lässt Amery in Frankreich Napoleon III. von einem Volksaufstand unter Führung von Victor Hugo entthronen. Ludwig II. von Bayern wird mit seinem Komponistenfreund Richard Wagner verschüttet, als die lautstarke Uraufführung von dessen «Ring des Nibelungen» eine unterirdische Opernbühne einstürzen lässt, die der kunstverrückte Monarch mit der preußischen Kriegsentschädigung im Kyffhäuser hat bauen lassen. Bayern, Frankreich und die deutschen Staaten westlich der Elbe werden zu Republiken mit einer genossenschaftlich-kommunitarischen Gesellschaftsordnung. Durch den Zusammenschluss dieser Republiken mit der Schweiz entstehen schließlich die «Centraleuropäischen Eidgenossenschaften». Statt des Deutschen Reichs aus «Blut und Eisen» steht am Ende von Amerys kontrafaktischer Geschichte eine Art antikapitalistische, basisdemokratische Version der Europäischen Union. Bismarck aber landet, wie Karl Marx sich ausgedrückt hätte, auf dem Misthaufen der Geschichte.
«An den Feuern der Leyermark» ist ein brillant geschriebenes Schelmenstück voll überschäumender Phantasie. Auf den ersten Blick scheint es sich um pure Einbildungskraft zu handeln, die den Leser so weit wie möglich weg von wirklichen historischen Entwicklungen führt. Doch Carl Amerys kontrafaktischer Roman ist ganz und gar ein Kind seiner Zeit – der Zeit der 1970er Jahre, als das Buch entstand. Angesteckt von der gesellschaftlichen Aufbruchstimmung in der westdeutschen Linken, die ihren Kristallisationspunkt in Willy Brandt fand, trat der Autor 1967 der SPD bei. Dort engagierte er sich dafür, mehr Demokratie zu wagen und den Kapitalismus durch eine Politik fundamentaler Sozialreformen zu überwinden. Desillusioniert verließ er die Sozialdemokratie nach dem Rücktritt des Hoffnungsträgers Brandt vom Amt des Bundeskanzlers 1974 wieder. Als «An den Feuern der Leyermark» erschien, bereitete Amery gerade den Gründungskongress der Grünen mit vor.
Sein Buch reflektiert eine Sicht, nach der die Bismarck zugeschriebene Reichsgründung der Anfang einer verhängnisvollen historischen Entwicklung war. Diese Sicht gewann während der 1970er Jahre in Geschichtswissenschaft und historisch interessierter Öffentlichkeit fast den Status einer neuen Orthodoxie. 1871 steht darin für den Beginn eines deutschen Sonderwegs. Deutscher Nationalismus habe seitdem mit preußischem Militarismus, industriellem Kapitalismus und autoritärer Staatsform eine brandgefährliche Mischung gebildet. Das Bild Bismarcks, bezeichnenderweise häufig in Uniform und mit Pickelhaube dargestellt (siehe Farbabbildung 1), gilt dabei nicht nur als Symbol für diese fatale Symbiose, durch die schließlich gleichsam pfadabhängig der Nationalsozialismus heraufbeschworen worden sei. Dem ersten Reichskanzler wird auch zugeschrieben, durch seine Politik aktiv den Weg in den Abgrund gewiesen zu haben.
Eine solch kritisches Bismarckbild hatte etwa Erich Eyck schon in einer Biographie gezeichnet, die während des Zweiten Weltkriegs in der Schweiz erschien. Doch erst in den 1970er Jahren trat es weitgehend an die Stelle der früheren Bismarckverehrung. Seinen typischen Niederschlag fand die kritische Sicht in Büchern wie Hans-Ulrich Wehlers «Das deutsche Kaiserreich». Carl Amery griff sie in «An den Feuern der Leyermark» auf – mitsamt der darin enthaltenen basisdemokratischen und antikapitalistischen Untertöne. Er projizierte die Utopien der 1970er Jahre in die Vergangenheit. Was die Fachwissenschaftler als These nur andeuteten, macht Amery explizit – nämlich dass die Realisierung dieser Utopien durch Bismarck für über ein Jahrhundert verzögert, wenn nicht ganz verhindert worden sei.
Diese Ansicht wurde und wird von vielen geteilt. Bald ist ihr freilich aber auch widersprochen worden. Am nachhaltigsten geschah das durch Lothar Gall. Sein 1980 erstmals aufgelegtes Buch über Bismarck ist wohl die bis heute einflussreichste Biographie des ersten deutschen Reichskanzlers. Ohne in die frühere Praxis der kritiklosen Bismarckverehrung zu verfallen, zeichnet Gall doch ein Bild, das sich von der kritischen Sicht, die sich im Jahrzehnt davor verbreitet hatte, deutlich abhebt. Vor allem bewertet er die deutsche Reichseinigung von 1871 als zeitgemäße Form der Nationsbildung, ohne die der moderne Staat undenkbar erscheine. Wie bei Wehler und Amery klang so auch bei Gall 1980 eine aktuelle Utopie an, die sich allerdings nicht auf die innere Entwicklung der alten Bundesrepublik bezog, sondern auf die Wiederherstellung der deutschen Einheit.
Damit waren die beiden Pole etabliert, zwischen denen die Diskussion um Bismarck seitdem weitgehend verläuft. Biographische Darstellungen Bismarcks bewegen sich bis heute mehr oder weniger in einem Koordinatensystem, dessen Bezugspunkte in den 1970er und 1980er Jahren etabliert worden sind. Für Anhänger der «Historischen Sozialwissenschaft» wie Hans-Ulrich Wehler war und ist Bismarck vor allem derjenige, der eine Demokratisierung und Modernisierung Deutschlands nach angelsächsischem Muster verhindert hat. Als Meister «bonapartistischer» oder «cäsaristischer» Herrschaftstechnik habe er den Weg für Hitler bereitet. Bismarck wird dabei als Teil eines negativen Bildes der deutschen Nationalgeschichte gezeichnet, in dessen Mittelpunkt der Nationalsozialismus steht. Dagegen gab und gibt Lothar Gall die Stichworte für ein deutlich positiveres Bild vor. Er griff das Image von Bismarck als Reichseiniger in differenzierterer Form auf und verband es mit der Modernisierungstheorie. Insbesondere wies Gall darauf hin, dass auch die Bildung von Nationalstaaten und der Ausbau der Staatstätigkeit zur Moderne gehörten.
Neuere Bismarck-Biographien haben diese mittlerweile klassischen Interpretationen variiert, zugespitzt oder abgetönt, oft miteinander verbunden, aber im Wesentlichen wiederholt. So beurteilten etwa Rainer Schmidt, Theo Schwarzmüller und Jonathan Steinberg im Anschluss an Gall den «Reichsgründer» als «Staatsmann» positiv, während sie – wie die Vertreter der «Historischen Sozialwissenschaft» – seine Innenpolitik kritisierten. Eberhard Kolb hat in einer konzisen Darstellung die Reichsgründung unter ausdrücklichem Hinweis auf die deutsche...