II. Kapitel
Voraussetzungen für das Gebet
Das Gebet kann nicht getrennt werden von der Art und Weise, wie wir täglich leben. »Wir beten, wie wir leben, weil wir leben, wie wir beten« (KKK 2725). Es genügt nicht, nur zu beten, und dem Leben seinen Lauf zu lassen. Ich kann nicht »am Leben vorbei beten«. Vielmehr muss das ganze Leben auf Gott ausgerichtet sein, damit wir auch in rechter Weise beten können.
Alles, was wir von uns aus tun können, um das Gebet aufzunehmen, könnte man – in klassischer Terminologie – als »Askese des Gebets« bezeichnen. Die Askese, d.h. unser menschliches Mühen, ist ein Ausdruck unserer Sehnsucht. Sie zeigt dem Herrn, dass es uns ernst ist mit unserem Wunsch, allezeit zu beten. Die Askese ist keine Methode, die automatisch zum gewünschten Ziel führt. Sie ist nichts anderes als ein Ruf der Sehnsucht nach Gott. Er allein kann uns die Gnade eines Lebens im Gebet schenken. Dennoch wartet er auf den Ruf unserer Sehnsucht. Die heilige Thérèse von Lisieux drückt diesen Zusammenhang in einem Bild aus. Ein kleines Kind möchte eine Treppe hinaufsteigen. Es ist aber nicht einmal fähig, die erste Stufe emporzusteigen, weil es zu klein ist. Der Vater jedoch wartet oben an der Treppe. Als er die Bemühungen seines Kindes sieht, nach oben zu gelangen, kommt er selbst ihm entgegen. Er steigt die Treppe hinab und hebt es zu sich herauf.
1. Entschiedenheit
Der Katechismus betont, dass das Gebet immer eine »entschlossene Antwort« (KKK 2725) unsererseits auf das Geschenk Gottes hin darstellt. Konkret bedeutet das: »Die Wahl und die Dauer des Gebetes beruhen auf einem entschlossenen Wollen, in dem sich das Verborgene des Herzens offenbart. Man betet nicht, wenn man Zeit hat, sondern man nimmt sich die Zeit, um für den Herrn da zu sein. Man tut dies mit dem festen Entschluss, ihm diese Zeit nicht wieder wegzunehmen, auch wenn die Begegnung mühevoll und trocken sein mag« (KKK 2710).9
Wenn wir uns von unseren Gefühlen und Launen leiten lassen, werden wir den Weg des Gebets bald wieder aufgeben. Es braucht eine tief im Willen verwurzelte Entscheidung, diesen Weg des Gebets auch durch Durststrecken hindurch weiterzugehen. Diese Entschiedenheit, betont Teresa von Avila, ist die wichtigste Voraussetzung: »Auf die Frage, wie man diesen Weg beginnen soll, kann ich nur antworten: Es ist vor allem wichtig, ja es ist alles daran gelegen, mit ganz fester Entschlossenheit zu beginnen und dann nicht mehr stehen zu bleiben, bis man das Ziel erreicht hat – und dies, was auch immer geschehen mag, was auch immer uns begegnet, selbst wenn die Mühe noch so groß wird oder wenn andere über uns reden.«10
Diese Entschiedenheit wird also besonders dann wichtig, wenn wir mit Schwierigkeiten im Gebetsleben zu kämpfen haben, seien es äußere oder innere. Dann brauchen wir diese Entschlossenheit, weiter zu gehen auf dem Weg des Gebets, uns nicht irre machen zu lassen und an der täglichen Gebetszeit festzuhalten.
2. Sehnsucht nach Heiligkeit
Das II. Vatikanische Konzil definiert die Heiligkeit als »vollkommene Liebe« und ruft in Erinnerung, dass alle Christen zur Heiligkeit gerufen sind.11 Zwischen der Heiligkeit unseres Lebens und unserem Gebetsleben besteht ein tiefer innerer Zusammenhang: Gebet und Heiligkeit verhalten sich sozusagen proportional zueinander. Oder, wie es die heilige Teresa ausdrückt: »Gebet und weichliches Leben vertragen sich nicht.« Um also wirklich in das kontemplative Leben einzutreten, muss in uns auch die Sehnsucht nach Heiligkeit leben. Das heißt nicht, dass wir erst vollkommene Heilige sein müssen, bevor wir anfangen können zu beten. Vielmehr geht es darum, sich nach der Heiligkeit zu sehnen und nach ihr zu streben.
Heiligkeit bedeutet zunächst, ganz konkret die Liebe zum Nächsten zu leben. Die Nächstenliebe führt uns direkt hinein in die Liebesbeziehung mit Gott, d.h. ins Gebet. In den Worten Papst Benedikts: »Wenn ich die Zuwendung zum Nächsten aus meinem Leben ganz weglasse, dann verdorrt die Gottesbeziehung. Nur meine Bereitschaft, auf den Nächsten zuzugehen, ihm Liebe zu erweisen, macht mich auch fühlsam Gott gegenüber.«12
Die Heiligkeit, zu der Gott uns ruft, konkretisiert sich also vor allem in der Nächstenliebe, dann aber auch in einer Vielzahl von weiteren Tugenden wie Gerechtigkeit, Klugheit, dem rechten Maß, Selbstbeherrschung, Güte, Freundlichkeit, Treue usw. Zwischen dem Gebet und den Tugenden besteht eine Wechselwirkung. Frucht des Gebets wird ein Wachstum in den Tugenden sein. Aber umgekehrt ist es genauso notwendig, dass wir nach diesen Tugenden streben, soweit es in unserer Kraft steht, damit unser Gebet echt und tief wird. Die heilige Teresa schreibt: »Der König der Herrlichkeit wird nicht in unsere Seele kommen – um eins mit ihr zu sein, meine ich –, wenn wir uns nicht anstrengen, in den Tugenden zu wachsen.«13
Zum Streben nach Heiligkeit gehört nicht nur die Übung der Tugenden, sondern auch die Überwindung der Laster. »Selig, die reinen Herzens sind, denn sie werden Gott schauen« (Mt 5, 8). Die Reinheit des Gewissens ist eine Voraussetzung für eine »klare Sicht« im geistlichen Bereich. So wie man bei verdreckter Windschutzscheibe schlecht Auto fahren kann, so behindern unsere Sünden den Blick auf Gott. Die Erfahrung zeigt, dass der regelmäßige Empfang des Sakraments der Versöhnung hilft, ein tieferes Gebetsleben zu führen. Oft kann man die Erfahrung machen, dass man nach einer Beichte wieder ganz anders beten kann. Was die Beziehung zu Gott blockiert hat, ist weggeräumt. Das Gebet ist einfacher und tiefer als zuvor.
Noch einmal: Es geht nicht um Perfektionsstreben, um überhaupt erst »gebetsfähig« zu sein. Es geht darum, dass wir die Heiligkeit genauso ersehnen wie ein Leben im Gebet. Beide sind geeint in der Liebe zu Gott. Gebet und Heiligkeit können nie voneinander getrennt sein, weil sie aus derselben Liebe hervorgehen.
3. Innere Freiheit
Auch hier handelt es sich um eine ganz wesentliche Voraussetzung für das Gebet: die innere Freiheit im Verhältnis zu den irdischen Gütern. Die heilige Teresa unterweist ihre Schwestern, sich »nur noch an den Schöpfer zu klammern und alles Geschaffene hinter sich zu lassen«14. Es geht hier nicht um eine Abwertung oder gar Ablehnung der Geschöpfe oder der geschaffenen Güter. Aber es geht darum, dass wir uns nicht an sie hängen und nicht die ganze Erfüllung unseres Lebens von ihnen erwarten. So sagt die heilige Teresa beispielsweise im Zusammenhang mit der Freundschaft: »Wir preisen den Schöpfer für einen Freund, aber in ihm die Erfüllung sehen – nein!«15 Es geht also um die Frage: Wovon, bzw. von wem erwarte ich das tiefste und eigentliche Glück? Wir brauchen eine realistische Einschätzung der irdischen Güter, d.h. der menschlichen Beziehungen, des materiellen Besitzes, unserer Hobbies usw. Sie sind Geschenke des Schöpfers, Grund zur Freude über seine Liebe, die er uns in ihnen erweist. Aber sie allein sind nicht genug, unsere tiefste Sehnsucht nach Erfüllung und Glück zu stillen. Eine mit der Ursünde zusammenhängende Verkehrtheit des Menschen liegt darin, die Wahrheit Gottes mit der Lüge zu vertauschen, das Geschöpf anzubeten und es anstelle des Schöpfers zu verehren (vgl. Röm 1, 25). Gerade unsere Zeit ist allzu sehr auf das Diesseits ausgerichtet und viele erwarten alles Glück von den Gütern dieser Welt. Wir müssen sehr aufpassen, dass wir uns davon nicht anstecken lassen, denn auch in uns steckt der »alte Mensch« und der Sog unserer Zeit kann uns leicht mitziehen. Es ist wesentlich zu verstehen, dass der »Motor« aller dieser irdischen Wünsche letztlich die Sehnsucht nach Gott ist – ob uns das bewusst ist oder nicht. Durch die Erbsünde jedoch hat diese Sehnsucht ihre wahre Orientierung verloren und greift sozusagen zu kurz. Sie richtet sich auf die innerweltlichen Güter, in denen sie aber nie die Erfüllung finden kann, die sie sucht. Zur inneren Freiheit kommt der Mensch erst, wenn er die Sehnsucht seines Herzens wieder ausweitet und auf Gott hin ausrichtet, den Geber aller irdischen Gaben: »Ich sage zum Herrn: Du bist mein Herr! Mein ganzes Glück bist du allein« (Ps 16, 1). »Gott nahe zu sein ist mein Glück« (Ps 73, 28) – und nichts anderes kann mir dieses Glück schenken. »Meine Seele hängt an dir« (Ps 63, 9) – und an keinem irdischen Gut. Wenn wir das tief im Herzen verstehen, werden wir innerlich frei. Auch frei, um die irdischen Güter in rechter Weise zu genießen!16 Edith Stein schreibt: »Wer sich von aller Anhänglichkeit an zeitliche Güter freimacht, der erlangt Freiheit des Geistes, Klarheit des Verstandes, tiefe Ruhe und friedvolles Vertrauen auf Gott. Man gewinnt sogar mehr Freude an den Geschöpfen in der Entäußerung: eine Freude, wie sie der Habsüchtige nicht kosten wird, weil es ihm in seiner Unruhe an der nötigen...