Kapitel 1
DER PALAZZO
Wie ein ausgehungertes Tier senkte der Winter seine Krallen ins Piemont, entwurzelte mit Stürmen ganze Waldstriche, ließ Dächer unter der Last von Schneemassen einstürzen und Straßen im Weiß verschwinden. Doch der betagte Trüffelhund Giacomo bekam von alldem gerade überhaupt nichts mit, denn er wurde im Fond eines alten Fiat Ducato mächtig durchgerüttelt. In eine Decke eingehüllt versuchte er, das unablässige Schaukeln zu vergessen und stattdessen an köstlichen Lardo di Arnad zu denken, und an Mocetta-Schinken, natürlich von der Gämse. Seine Nase schnupperte, als wäre sie nur wenige Zentimeter von dem mit Bergkräutern aromatisierten Fleisch entfernt und von dessen köstlicher, nussiger Würze. Er erinnerte sich an warme Sommertage, an denen er vor Marcos kleiner Trattoria stand und den letzten Zipfel einer frisch aufgeschnittenen Wurst abbekam.
Der Transporter hielt mit einem harschen Ruck, die Decke rutschte von Giacomos Körper, und Kälte nahm ihren Platz ein. Müde öffnete Giacomo die Augen. Das grelle Weiß des Schnees drang durch das verschmutzte Heckfenster herein. Dann öffneten sich die Türen, und zwei Hunde huschten an Giacomo vorbei, sprangen in den tiefen Schnee und schnappten nach den durch die Luft wirbelnden Flocken, welche die Größe von Parmesanhobeln hatten. Die überschwängliche Jugend, dachte Giacomo, biss sich einen Zipfel der Decke, zog sie wieder über den Rücken und schloss die Augen.
»Raus mit dir, du verlauster Faulpelz«, rief Isabella und wuschelte ihm über den Kopf. »Ich hab ein wohlig warmes Plätzchen für dich, und zu essen findet sich bestimmt auch noch was.«
Giacomo wäre sicher liegen geblieben, hätte sie nicht angefangen zu pfeifen. Er tat alles, um dieses schrille Geräusch zu vermeiden. Isabella beherrschte die Kunst des klangvollen Pfiffs nicht, bei ihr ähnelte es eher dem Geräusch eines quietschenden Schwerlasters.
Die beiden anderen Vierbeiner liefen bereits weit voraus. Das Italienische Windspiel Niccolò trug einen warmen Hundepullover aus Teddybärenfell, die rothaarige Spanielhündin Canini war lange nicht getrimmt worden und hatte dergleichen nicht nötig. Sie waren schon fast bei diesem weißen mächtigen Ungetüm angelangt, das unbeirrt in der Kälte saß. Es sah aus wie ein Gebirge, dessen höchster Punkt, gekrönt von einem prachtvollen Hirsch, genau in der Mitte lag. Von dort nahm seine Größe harmonisch zu beiden Seiten hin ab. Die Schneemassen wirkten wie Zuckerguss auf diesem ungeheuren Menschenwerk. Etwas Vergleichbares hatte Giacomo niemals zuvor gesehen. Wieso erschufen Menschen solche Gebilde? Alles, was man zum Leben brauchte, passte doch in eine kleine Hütte – allerdings mit einem großen Kühlschrank, Niccolò hatte ihm auf der Hinfahrt erzählt, dass es zum Palazzina di Caccia di Stupinigi gehen würde, einem Schloss, in dem einst bedeutende Menschen gehaust hatten, wenn sie zur Jagd gingen.
Giacomo sprang von der Ladekante in den Schnee. Sogleich spürte er den Temperaturunterschied an den Fußtatzen, doch sein gekräuseltes, leicht öliges Fell wärmte ihn wie stets. Der dürre Niccolò musste in dieser Jahreszeit ein Stück Stoff am Leib tragen, damit er nicht zu einem Eisblock erstarrte. Die Spanielhündin Canini hatte ganz andere Probleme. In ihren langen Ohren fing sich der Schnee und ließ sich nicht abschütteln.
Giacomo sog die eisige Luft ein, suchte in ihr nach Aromen, die ihm etwas über das Land erzählten, über die Menschen, die Tiere, das Leben. Doch es fand sich nichts. Die Luft war wie klares Gebirgswasser. Er tapste einige Schritte weiter, zu einer Stelle, wo der Wind vom Wald her wehte. Aber wieder spürte Giacomo nur diese Kälte, die alles Leben erbarmungslos gefrieren ließ. Keine Duftspuren.
Auch nicht die von Wölfen.
»Kommt schon, ihr verrückten Hunde!«, rief Isabella, strich sich die Schneeflocken aus den kurzen blonden Haaren und schwang sich ihren geliebten Wollschal um den Hals, in den sie alle Farben des Regenbogens gestrickt hatte. Die junge Biologin der Turiner Universität ergriff zwei schwere Koffer und machte sich auf den Weg zum westlichen Schlosstrakt. Seit dem Telefonanruf, der sie hierherbestellt hatte, war sie unheimlich fröhlich. Geradezu überdreht. Während der ganzen Autofahrt hatte sie gesungen.
Plötzlich schritt Niccolò neben Giacomo. »Sie hofft so sehr, dass es nicht ihr Wolfsrudel ist. Sie hat Angst, was dann passieren könnte. Ich kann es spüren, es sticht in ihrer Brust. Aber sie will nicht, dass wir es merken.«
»Und erst recht nicht, dass sie es selbst mitbekommt.«
Canini jagte vorbei, und Niccolò setzte ihr ohne zu zögern nach. Giacomo sah sich unruhig um. Auf diesem Gelände war also ein Wolfsrudel gesichtet worden. Viel zu nah an menschlichen Behausungen. Doch der Winter dauerte bereits lange an, und er war hart wie seit unzähligen Jahren nicht mehr. Die Wölfe würden nirgendwo Beute finden, das ließ sie verzweifelt werden. Aber so sehr, dass sie sich den Menschen näherten? Giacomo trottete hinter Isabella her und hob abermals die Schnauze. Endlich roch er etwas! Ein Pastagericht, das in einer der Schlossküchen zubereitet wurde. Ein Klassiker der Küche Norditaliens, Ragu alla bolognese mit Geflügelleber und einem ordentlichen Schuss Sahne. Köstlich! Aber immer noch keine Spur von Wölfen. Stattdessen fanden sich nun immer mehr Eiskristalle in der Luft, die der Wind ihm ins Gesicht peitschte. In jeden Zwischenraum seines Fells drangen sie ein. Unbarmherzig legten sie sich nicht nur auf die kleine Gruppe, sondern füllten auch die Ritzen im Mauerwerk des Schlosses. Der Piemonteser Winter nahm es immer mehr in seinen Besitz.
Schnell flohen sie ins Schlossinnere und richteten sich in ihren kargen Zimmern ein, die früher dem Gesinde zugewiesen waren. Nur eine Notbesetzung an Personal weilte in Stupinigi, ein einziger Trakt war einigermaßen beheizt. Das Schloss wurde aufwendig umgebaut, überall waren Absperrbänder und Gerüste. Doch nun werkelte niemand. Der Palazzo hielt Winterschlaf, sein Atem kaum vernehmbar. Giacomo rollte sich in einer Ecke zusammen, die zwar von Spinnweben überzogen war, dafür aber nahe der Küche lag. Also strategisch hervorragend. Er würde sicher nur etwas warten müssen, solange konnte er hier schlummern. Und wieder von Mocetta träumen.
»Wer kommt mit auf einen ersten Rundgang?«, hörte er Isabella rufen. Wieder war da diese Angst in ihrer sonst so heiteren Stimme, als habe man in eine köstliche Pannacotta eine Prise zu viel Salz gegeben. Giacomo rollte sich weiter zusammen, wie ein Igel bei Gefahr. Hoffentlich ging dies alles schnell vorbei, und sie konnten in ihr Dorf in der Langhe zurück. Mehr wollte er gar nicht.
»Kommst du?« Es war Niccolò.
»Ich schlafe schon.«
»Wir wollen gehen!«
»Wunderbar. Ich halte hier die Stellung.«
»Steh schon auf! Isabella hätte dich gern dabei.« Er stupste ihn mit der Schnauze an. »Ohne dich geht sie bestimmt nicht raus.«
Giacomo blickte auf. Das kleine Windspiel leckte sich nervös an der Brust. In einiger Entfernung stand Canini, die Rute eingeklemmt. Die beiden hatten Angst und wollten ihn dabeihaben. Sie wussten um die Gefahr, die von Wölfen ausging. Einem ausgehungerten, verzweifelten Rudel.
Isabella hielt bereits ungeduldig die Tür auf.
»Aber nur für Isabella«, sagte Giacomo und stemmte sich in die Höhe. Er spürte jeden seiner Knochen, die schon viel zu lange nicht mehr mit Barolo geölt worden waren, Hinter dem Schloss erstreckte sich ein kleines Wäldchen. Giacomo lief voran. Er wollte nicht, dass Isabella in Gefahr geriet. Und erst recht nicht diese beiden dummen, übermütigen Jungspunde. Im Gegensatz zu ihm hatten sie noch so viel vor sich.
Isabella blieb plötzlich stehen und setzte eine leere abgeschnittene Plastikflasche an den Mund. Dann begann sie zu heulen. Es klang so echt, dass Giacomo selbst in diesem Frost noch ein kalter Schauer durchfuhr. Es war, als hause ein Wolf in ihrem Leib, ein großes, furchteinflößendes Tier.
Doch es kam keine Antwort, und so schritten sie weiter.
Giacomo schärfte seine Sinne wie der Metzger seine Messer, spitzte die Ohren, sog die Düfte tief in seine gewaltige Nase ein, die in ihrer dunklen Verwarztheit an eine reife Albatrüffel erinnerte, und stach seinen Blick in Richtung jedes Schattens, der zwischen den vom Winter abgenagten Baumstämmen erschien. Kein Anzeichen von Wölfen. Doch das bedeutete nichts. Um die Grauröcke zu Enden, mussten sie tiefer in das Waldstück eindringen. Und weniger Lärm verursachen.
Aber die Nacht senkte sich schon über den Schlosspark, und Isabella sammelte ihre Hunde, um sich zurück ins Warme zu begeben.
»Morgen früh, mit neuer Kraft«, sagte sie. »Die Wölfe werden uns schon nicht weglaufen, oder?« Giacomo sah sich unruhig um.
Im Turiner Duomo di San Giovanni geschah in diesem Augenblick etwas, das für alle Anwesenden von größter Bedeutung war – von dem außerhalb der Kirchenmauem jedoch niemand etwas ahnte. Die Sonne war längst untergegangen, nur der matte Widerschein des Schnees fiel durch die großen Fenster. Er tauchte das Kirchenschiff in ein diffuses, lebloses Licht, ließ alles unwirklich erscheinen, was im Inneren vor sich ging. Ein junger Pharaonenhund stand zitternd und völlig allein vor dem Altar mit den hohen, gewundenen Säulen und dem Marienbild samt Kinde in der Mitte des goldenen Tryptichons. Jetzt senkte er den Kopf. Ursprünglich war seine seltene, uralte Rasse als »Kelb tal- Fenek« bekannt. Wenn es in der Welt der Hunde blaues Blut gab, so floss es in seinen Adern. Mit dem schlanken, eleganten Körper und den auffällig großen, spitz nach oben stehenden Ohren ähnelte er dem ägyptischen...