KAPITEL 2
MEIN HAUS
Donnerstagabend, Sperrmüllabend. Wir sind gerüstet und bereit zuzuschlagen. Wir sitzen im 1940er Sedan meines Großvaters und warten auf den Einsatzbefehl, all den Sperrmüll zu durchwühlen, der sich entlang der Bordsteine unserer Stadt aufhäuft. Zuerst machen wir uns auf den Weg zur Brinckerhoff Avenue, wo das Geld zu Hause und der Müll vom Feinsten ist. Wir sind gekommen, eure Radios zu holen, sämtliche Radios, egal in welchem Zustand. Wir werden wie die Geier über euren Müll herfallen, werden unsere Beute in den Kofferraum werfen und sie in den »Schuppen« schaffen, die vier Quadratmeter große ungeheizte Holzzelle in einem Eckchen unseres Hauses. Hier geschehen winters wie sommers wahre Wunder. Hier, in einem »Raum« voller Elektrokabel und Radioröhren, sitze ich nimmermüde neben ihm. Er verdrahtet, lötet und tauscht kaputte Röhren gegen heile aus, und wir warten beide gleichermaßen auf den einen Moment, auf den Augenblick, wenn das Atemwispern, das wunderbar leise statische Brummen und das warme Sonnenuntergangsglühen der Elektrizität den Radiogerippen, die wir vor der Zerstörung bewahrt haben, neues Leben einhauchen.
Hier an der Werkbank meines Großvaters wird die Wiederauferstehung greifbar. Die tonlose Leere wird gefüllt von den fernen Knisterstimmen der Sonntagsprediger, vom Geschwätz der Werbesprecher, von Big-Band-Sounds, frühen Rock’n’Roll-Songs und Hörspielserien. Es sind die Klänge der Welt dort draußen, die uns erreichen will, die in unsere kleine Stadt ruft und noch viel tiefer herein: in unser hermetisch verschlossenes Universum hier in der 87 Randolph Street. Sobald die Radios wieder leben, wird eins ums andere zum Preis von fünf Dollar in den Camps der Wanderarbeiter verkauft, die jeden Sommer die Felder am Rand unseres Landkreises säumen. Der »Radiomann« kommt. Unter diesem Namen ist mein Großvater bei den vorwiegend schwarzen Wanderarbeitern aus den Südstaaten bekannt, die immer zur Erntezeit in Bussen in das damals noch ländliche Monmouth County anreisen. Auf unbefestigten Wegen kutschiert meine Mutter meinen nach dem Schlaganfall verwirrten Großvater bis zu den hintersten Bretterbuden, wo noch Bedingungen herrschen wie in den Dust Bowls der Dirty Thirties. Dort macht er seine Geschäfte mit »den Schwarzen« in ihren »Micky-Maus-Zeltlagern«. Ich fuhr ein einziges Mal mit und wurde fast verrückt vor Angst, als ich mich in der Dämmerung von verwitterten schwarzen Gesichtern umringt sah. Das Verhältnis zwischen den Bevölkerungsgruppen, das in Freehold nie besonders gut gewesen war, sollte zehn Jahre später in Krawalle und Schießereien münden, aber noch herrscht gespannte Ruhe. Ich bin hier lediglich der junge Schützling und Enkel des »Radiomanns« inmitten einer Kundschaft, die meine Familie braucht, um über die Runden zu kommen.
Besonders weit davon entfernt, bettelarm zu sein, waren wir nicht, aber darüber habe ich nie nachgedacht. Wir hatten Klamotten am Leib, Essen auf dem Tisch und ein Dach über dem Kopf. Ich hatte sowohl weiße als auch schwarze Freunde, die deutlich schlechter dran waren. Meine Eltern standen in Lohn und Brot, meine Mutter als Sekretärin eines Rechtsanwalts, mein Vater bei Ford. Unser Haus war alt und seine Baufälligkeit kaum mehr zu übersehen. Ein Petroleumofen im Wohnzimmer war die einzige Wärmequelle. Oben, wo die Familie schlief, gefror einem morgens beim Aufwachen der Atem. In einer meiner frühesten Kindheitserinnerungen rieche ich das Petroleum und sehe meinen Großvater, der es an der Rückseite des Ofens nachfüllt. Gekocht wurde auf einem Kohleherd in der Küche. Als Junge beschoss ich die aufgeheizte Eisenplatte mit der Wasserpistole und sah zu, wie der Dampf aufstieg. Die Asche trugen wir zur Hintertür hinaus auf den »Aschehaufen«. Tagaus, tagein kam ich staubgrau ins Haus zurück, weil ich in der Asche gespielt hatte. Wir besaßen eine kleine Gefriertruhe und eins der ersten Fernsehgeräte in der Stadt. In einem früheren Leben, bevor ich zur Welt gekommen war, hatte mein Großvater den Springsteen Brothers Electrical Shop besessen, und als das Fernsehen aufkam, hatte es unser Haus zuerst erreicht. Meine Mutter hat mir mal erzählt, dass aus dem ganzen Viertel Nachbarn vorbeischauten, um das Wunder zu bestaunen, um Milton Berle, Kate Smith und Your Hit Parade zu sehen. Um mitzuerleben, wie Wrestler wie Bruno Sammartino im Ring auf Haystacks Calhoun trafen. Mit sechs Jahren konnte ich Kate Smiths Erkennungssong »When the Moon Comes Over the Mountain« Wort für Wort mitsingen.
Dank Geburtenfolge und der Umstände war ich bei uns zu Hause Herr, König und Messias in Personalunion. Für meine Großmutter wurde ich als erstes Kind nach dem Tod meiner Tante Virginia der Ersatz, an den sie sich klammerte. Mir wurde nichts verwehrt. Ein solches Leben ohne Grenzen ist alles andere als gut für einen kleinen Jungen – und ich nutzte es hemmungslos aus. Obwohl ich erst fünf, sechs Jahre alt war, blieb ich bis drei Uhr morgens wach und schlief bis drei Uhr nachmittags. Ich sah fern, bis das Programm zu Ende war, und durfte anschließend sitzen bleiben, um das Testbild anzustarren. Ich aß, wann und was immer ich wollte. Meine Eltern wurden für mich zusehends zu entfernten Verwandten. Überfordert und auf häuslichen Frieden bedacht, überließ meine Mutter meiner Großmutter die uneingeschränkte Oberherrschaft. Als empfindlicher kleiner Tyrann war ich schon bald der Überzeugung, dass sämtliche Regeln nur für den Rest der Welt und nicht für mich galten – zumindest bis mein Vater von der Arbeit kam. Missmutig übernahm dann wieder er die Herrschaft über die Küche, ein Monarch, der auf Betreiben seiner Mutter von seinem Erstgeborenen entthront worden war. Unser heruntergekommenes Haus, meine Extravaganzen und die Macht, die ich in jenen jungen Jahren innehatte, beschämten mich und waren mir insgeheim peinlich. Mir war schließlich nicht entgangen, dass der Rest der Welt ein wenig anders tickte, und meine Kumpels aus der Nachbarschaft verspotteten mich nicht selten wegen meiner Eigenheiten. Ich genoss die Vorzugsbehandlung, wusste aber auch, dass sie verkehrt war.
Als ich eingeschult wurde und mich mit einem Mal in einen festen Zeitplan fügen sollte, packte mich eine Wut, die fast meine gesamte Schulzeit anhalten sollte. Meiner Mutter war klar, dass es längst überfällig war, die Verhältnisse zu ordnen, und es ist ihr hoch anzurechnen, dass sie versuchte, mich zurückzuholen. Wir zogen aus dem Haus meiner Großeltern in die 39 ½ Institute Street und richteten uns in der Hälfte eines kleinen Hauses im Shotgun-Stil ein: ohne warmes Wasser, in vier winzigen Räumen, vier Blocks von meinen Großeltern entfernt. Dort versuchte meine Mutter, mir ein paar normale Grenzen aufzuzeigen. Allerdings war es dafür zu spät. Selbst wenn es eine Million Meilen statt vier Blocks gewesen wären: Ich tobte vor Wut und Trauer und nutzte jede sich mir bietende Gelegenheit, um wieder bei meinen Großeltern unterzuschlüpfen. Bei ihnen war ich zu Hause, und in ihnen sah ich meine wahren Eltern. Ich konnte und wollte dort nicht weg.
Mittlerweile war bei ihnen nur mehr ein Zimmer bewohnbar – das Wohnzimmer. Den Rest des Hauses hatten sie geräumt, eingemottet und seinem Schicksal überlassen. Der einzige Ort, um sich zu erleichtern, war ein bitterkaltes, zugiges Bad. Die Badewanne funktionierte nicht. Meine Großeltern ließen Hygiene und Körperpflege allmählich auf eine Weise schleifen, die mich heute schockieren und abstoßen würde. Ich weiß noch, wie beklemmend und beschämend ich die frisch gewaschene, immer noch fleckige Unterwäsche meiner Großmutter fand, die im Garten hinter dem Haus an der Leine hing – Zeichen unangemessener physischer wie emotionaler Intimität, die das Heim meiner Großeltern für mich ebenso verwirrend wie unwiderstehlich machte. Ich liebte die beiden, und ich liebte dieses Haus. Meine Großmutter schlief auf einem verschlissenen Federkernsofa, mich quetschte sie neben sich, während mein Großvater auf der anderen Seite des Zimmers auf einem kleinen Feldbett lag. Das war’s. Das war aus der Grenzenlosigkeit meiner Kindheit geworden. Nur dort fühlte ich mich zu Hause, geborgen und geliebt.
Die zermürbend hypnotische Macht des verfallenden Hauses und der Menschen darin sollte mich für immer in ihrem Bann halten. Noch heute besuche ich den Ort in meinen Träumen, immer wieder zieht es mich dorthin zurück, an einen Ort, an dem ich absolute Sicherheit, Narrenfreiheit und eine entsetzliche, entgrenzte Liebe empfand. Er hat mich verdorben und gleichzeitig zu dem gemacht, was ich bin. Verdorben insofern, als ich mein Lebtag darum ringen musste, mir selbst Grenzen zu setzen, um meinen zwischenmenschlichen Beziehungen zumindest ein wenig Normalität zu verleihen. Zu dem gemacht, was ich bin, insofern, als er mich auf die lebenslange Suche nach einem eigenen »einmaligen« Ort entließ und eine wilde Gier in mir entfachte, der ich wie besessen in meiner Musik Ausdruck verleihen musste. Es war eine verzweifelte, lebenslange Anstrengung, auf den erlöschenden Flammen der Erinnerung und Sehnsucht meinen eigenen Tempel der Sicherheit zu errichten.
Für die Liebe meiner Großmutter gab ich meine Eltern, meine Schwester und einen Großteil der Welt auf. Doch dann brach diese Welt gewaltsam über uns herein. Meine Großeltern wurden krank. Die Familie zog wieder zusammen, in die 68 South Street. Bald sollte meine kleine Schwester Pam zur Welt kommen, mein Großvater sterben und meine Großmutter vom Krebs zerfressen werden. Mein Haus, mein Garten, mein Baum, mein Schmutz, meine Erde, mein Zufluchtsort...