II. Einleitung:
Kapital und
Humankapital
Bossing ist ein Phänomen unserer Arbeitswelt. Es wird zwar kaum als solches bezeichnet, tritt jedoch relativ häufig auf. Wie alles im Wirtschafts- und Sozialleben ist auch Bossing nur in Zusammenhang mit den Rahmenbedingungen zu verstehen.
Bossing bedeutet einen Umgang mit Menschen, der an die Arbeitswelt des 19. Jahrhunderts erinnert: Das Kapital und seine industrielle Verwertung regierten, Karl Marx erkannte die entstandene Entfremdung der Arbeiter und Arbeiterinnen. Sie waren in doppelter Hinsicht entfremdet, von den Produkten ihrer Arbeit einerseits, der von ihnen produzierte Mehrwert nährte nur das Konto des Kapitalisten, und von ihren Arbeitsverhältnissen. Sie wurden kaum als Menschen wahrgenommen, sondern als entmenschlichte Anhängsel der Maschinen, die sie bedienten.
Im heutigen Mobbing und Bossing werden Menschen wie überalterte, nutzlos gewordene Maschinen behandelt, die man wegwirft, die nicht einmal mehr als Restmüll einen Wert haben. Die Härte dieser Aussage trifft die Wirklichkeit; in den folgenden Kapiteln wird dies näher ausgeführt werden.
Am Anfang des 21. Jahrhunderts hat sich die Wirtschaftswelt grundlegend gewandelt. Die Wissensgesellschaft ist viel stärker vom Humankapital bestimmt, Gegenwart und Zukunft werden dem Wissen und der Persönlichkeitsbildung gehören, dem modernen Dienst-Leisten. Im Mittelpunkt stehen nicht mehr die Maschinen und maschinelle Strukturen, sondern die Menschen mit ihren kommunikativen Prozessen. Die Marktdynamik moderner Dienstleistungen und ihre Wertschöpfungskette bestimmen Humanressourcen und Kompetenzen wie Beraten und Fördern, Informieren und Verkaufen, Entwickeln und Produzieren, Gestalten und Kreieren, Kommunizieren und Kooperieren.
Geld alleine schafft auch in der globalisierten Welt kein Geld – das geht nur über real produzierte Waren und geleistete menschliche Dienste. Dies gilt für alle Akteure – auch für den Mikrokosmos der Firmen und ihre Führungskräfte. In den Unternehmen ist Mobbing und besonders Bossing allerdings weiterhin eine Art betrieblicher Massensport: Jahr für Jahr wird in kleinen und großen Unternehmen gegen unzählige Menschen Psychokrieg geführt. In Deutschland sollen 1 Million Menschen betroffen sein, in Österreich 200 000 bis 300 000, in der Schweiz etwa 100 000. Die meisten Mobbingopfer, etwa drei Viertel, sind weiblich. Experten schätzen das volkswirtschaftliche Minus durch Fehlzeiten, Krankheit und Behandlungskosten, Produktionsausfälle und Frühpension in Deutschland auf mindestens 15 Milliarden Euro pro Jahr. Der Deutsche Gewerkschaftsbund (DGB) nennt 25 Milliarden, andere Analytiker 50 Milliarden. In Österreich geht man von einem Schaden in Höhe von 1,2 Milliarden Euro pro Jahr aus; in der Schweiz von 20 Milliarden Franken.
Warum ist das so?
Wie können Opfer und Täter aus ihren desaströsen Handlungsroutinen und Rollen ausbrechen?
Wie verfallen sie gar nicht erst in kriegerische Machtspiele?
Dieses Buch versucht eine Analyse und gibt einen Ausblick im Sinne einer speziellen Anti-Bossing-Strategie: Wir entwickeln unter dem Label Motivationale Umwertung einen Coaching-Ansatz für Frieden und Fairness, durch den beiden Parteien geholfen werden kann, von dem beide profitieren können. Als übergeordnete, gemeinsame Chefsache. Zur Stärkung und zum nachhaltigen Wachstum unseres wichtigsten Wirtschaftsgutes – des Humankapitals und unserer Human Resources. Zudem erhalten Bosser und Gebosste Anregungen zum Eigencoaching bzw. zu Schritten, die vorbeugend oder in akuten Fällen gegen das Bossing hilfreich sein können.
Noch ist weitgehend unklar, welche Dynamik die Entwicklung nehmen wird. Eines ist jedoch jetzt schon klar: Die Destruktivität von Mobbing und Bossing verweist auf nach wie vor wirksame Trägheitskräfte aus der Zeit der Maschinenindustrie. Wer sich aber der neuen Entwicklung verschließt, wird vom weiteren Berufsleben früher oder später abgemahnt. Wie viele Kultur-, Sozial- oder Wirtschaftswissenschaftler und Trendforscher wie Matthias Horx gehen wir davon aus, dass in der Wirtschaft der Zukunft die »kulturellen Industrien« vorherrschend sein werden. Dabei geht es nicht um Kultur im Sinne von großer Literatur oder Oper. Viel mehr haben wir es mit einem grundlegenden mentalen, ganzheitlich-psychologischen Wandel zu tun. Die Wertschöpfung verläuft entlang der Human Resources, betont unter anderem Horx. Dies geschieht in den Bereichen Gesundheit, Lebensqualität, Wissen, Bildung, Vernetzung, Empowerment. Und Führung natürlich.
So möchten wir allen Unternehmen, die Bossing in seinen vielen Schattierungen für akzeptabel halten, es strategisch einsetzen und operativ fördern, allen Führungskräften, die manifest oder latent bossen, folgende Analyse über die »Geschichte der Zukunft« von Eric Händeler mit auf den Weg geben:
»Im nächsten Strukturzyklus werden sich Aktien von Firmen rentieren, die in der Informationsgesellschaft am effizientesten mit Information umgehen, also weniger Ressourcen verlieren durch destruktive Streitereien, Statuskämpfe, Wichtigtuerei, fehlende soziale Kompetenz; Firmen, in denen ein belastbares gegenseitiges Vertrauen gewachsen ist durch Transparenz, Integrität und Verlässlichkeit; Firmen, die Jahre in ihre Mitarbeiter investieren, bis diese die Erfahrung haben, die Firma bahnbrechend weiterzubringen; Firmen, die in die umfassende Gesunderhaltung ihrer Leute investieren und deswegen auch produktivere Lösungen vorweisen.«
Diese Entwicklung betrifft nicht nur die soften Branchen, sondern den gesamten Kapitalismus. Der alte Industriekapitalismus ist auch in seiner neoliberalen Spielart längst zum Wettcasino geworden. Die aktuelle Krise hat schmerzlich klar gemacht, dass es allerhöchste Zeit ist, die Spielregeln zu verändern. Das neue Regelwerk wird dem amerikanischen Unternehmensberater Dov Seidman zufolge vor allem einen »Wettbewerb um Anstand, Ehrlichkeit und Fairness« fördern müssen. So beantwortete er im November 2008 in einem Spiegel Online-Interview die Frage, was in der Weltwirtschaft falsch laufe, folgendermaßen:
»Die Wirtschaft funktioniert nach dem Grundsatz: Bring Ergebnisse, egal wie. Welchen Charakter eine Firma hat, wie Menschen ihre Ergebnisse erzielen, spielt keine Rolle in dieser Welt. Das war aber mal anders. Denken Sie an Fußball! Guter Kapitalismus funktioniert so, dass man in eine Mannschaft investiert und viel dafür tut, dass sie gewinnt. Man ist der Mannschaft verbunden. Vielleicht wettet man sogar, aber nur auf den Sieg.«
Warum bedeuten Ehrlichkeit und Fairness letztlich Vorteile für Firmen? »Eine hypertransparente Welt bedeutet, dass wir alle überprüfbar sind wie noch nie«, sagt Seidman, »man muss so leben, dass diese Transparenz zum eigenen Vorteil wird. So erreichen Sie Loyalität Ihrer Kunden, menschliches Vertrauen wird zur Währung von Interaktion.«
Das Humankapital, die Menschen machen den Wert eines Unternehmens aus, sie sind wertschöpfender Wirtschaftsfaktor, an den Finanzmärkten ebenso wie in den kleinen und großen Märkten. Deswegen werden viele Führungskräfte auf allen Hierarchieebenen umdenken müssen: Die alte Zeit der Krieger und Haifische ist vorbei. Der neue Kapitalismus braucht integere Wirtschaftsführer, Manager und Vorgesetzte.
In diesem Sinne kann ein gesundes Anti-Bossing nur ein Ziel haben: Fairness als Grundkategorie konstruktiven Führens und Arbeitens zu verankern, und zwar auf allen Ebenen. Angesichts des weltweiten GAUs der Finanz- und Wirtschaftsmärkte wird dies ohnehin notwendig. Schon seit Jahren weiß man um die postmaterialistisch eingestellte Generation der Nachwuchsmanager: Sie wollen nicht mehr um jeden Preis Karriere machen, sie schätzen neben ihrer Individualität auch Kommunikation, Umwelt und Fairness. Ein interessanter Vorfall ereignete sich im Oktober 2008 an der Frankfurter Börse: Attac-Aktivisten waren als Besucher getarnt auf das Börsenparkett gesprungen und entrollten ein großes Plakat. Darauf stand: »Finanzmärkte entwaffnen! Mensch und Umwelt vor Shareholder-Value!« Die Reaktion vieler Börsianer überraschte – sie klatschten Beifall!
Als Psychologen und Coaches ist unser Handlungsfeld zunächst die individuelle Ebene. Der von uns propagierte Ansatz der »motivationalen Umwertung« setzt dort an, wo unsere kulturellen Quellen liegen: Erkenne dich selbst!, lautet eine Inschrift am Apollontempel in Delphi. Der mittlerweile 2500 Jahre alte Wegweiser zeigt weiter in die richtige Richtung – das Hinweisschild wird nur leider von manchen Zeitgenossen wie Führungskräften übersehen. Wir arbeiten in der Beratung und im Coaching schon länger mit einem sehr effizienten Tool in Sachen Selbsterkenntnis: der MotivStrukturAnalyse MSA.
Die MSA erfasst 18 sogenannte Grundmotive als Traits (von deutschen Psychologen der Vorkriegszeit auch als Wesensmerkmale oder »Charakterzüge« bezeichnet). Traits sind sehr stabil und überdauern lange. Alles spricht dafür, dass sie vererbt werden und ein Leben lang als emotionale Veranlagung neben unserem (Wohl-)Fühlen auch unsere Wahrnehmung, unser Denken, Sprechen und Handeln bestimmen. Zu den Grundmotiven zählen der Wunsch nach Anerkennung, Beziehung, Wissen, Macht, Status oder Wettkampf. Diese insgesamt 18 Grundmotive sind im Zuge der menschlichen Evolution entstanden und bei einzelnen Menschen höchst unterschiedlich ausgeprägt. Sie sind sozusagen unser »motivationaler Fingerabdruck« und bestimmen von der Wiege bis zur Bahre, was uns persönlich guttut. Sie beeinflussen, wonach...