Aus „Mein Lebenslauf“ von Walter Exner
1811 Großvater
Mein Urgroßvater Johann, 1811 in Friedland geboren, zog 1850 nach Wien, wo er eine Slowakin, angeblich von der Schüttinsel in der Donau (Ungarn), heiratete. Sie soll eine sehr liebe Frau gewesen sein. Dieser Urgroßvater kann kein Kind von Traurigkeit gewesen sein. Denn auf der Rückfahrt von einer Landpartie – zu solchen Ausflügen benutzten die Wiener sogenannte Zeiselwega, einfache Bauernleiterwagen mit über die Seitenwände gelegten Sitzbretter – ging mein Urgroßvater auf der Rückfahrt, von den anderen unbemerkt, verloren. Man fand ihn später mit gebrochenem Genick im Straßengraben.
Mein Großvater Josef Johann Exner trat in die Fußstapfen seines Vaters. Der Hufschlag seines Pferdes traf seine Leber und so ließ er im Alter von 45 Jahren Frau und 5 Kinder als Halbwaisen zurück. Er hatte eine Frau, Christiane, die noch zu Fuß aus Asch in Böhmen nach Wien gegangen war. Weil sie evangelisch war, waren die ersten 5 Kinder auch evangelisch und die weiteren 4 aus der 2. Ehe, die bald nach der Geburt starben, katholisch getauft worden. Meine Großmutter musste nun mit Heimarbeit für sich und die Kinder sorgen, die ihrerseits gezwungen waren, so rasch wie möglich auf eigenen Füßen zu stehen.
1882 Vater
Mein Vater, als zweiter Sohn und drittes Kind wurde am 4.1.1882 in Wien geboren. Er hatte noch 2 Brüder, Josef und Karl, und eine Schwester namens Emma.
Als mein Großvater starb, war mein Vater Anton Exner 13 Jahre alt. Er verbrachte einen Teil seiner Kindheit in der Nähe Wiens, im Dorf Lassee im Marchfeld. Später übersiedelte die Familie nach Hainburg an der Donau, wo er die Volksschule besuchte. Mein Vater war ein begabter und strebsamer Schüler, bildete sich in Kursen weiter, wurde Kontorist und später Vertreter einer Schuhfabrik. Mit dem Ziel, sich einmal in der Welt umzusehen, lernte er Englisch. Er war begeisterter Ruderer, Mitbegründer des Rudervereins Austria und wurde als Sieger in vielen Bewerben bekannt.
Bedauerlicherweise ist es mir nicht möglich, näheres über das Leben meines Vaters in den Jahren vor dem Ersten Weltkrieg mitzuteilen, weil in meiner Jugend kaum von der Vergangenheit, sondern nur von der Gegenwart und Zukunft gesprochen wurde. Doch kann ich aus erhaltenen Reisepässen einige Schlüsse ziehen. So liegt der am 15. August 1908 ausgestellte erste Reisepaß vor, der dem damaligen Buchhalter Anton Exner mit einjähriger Gültigkeit für Amerika ausgestellt worden war. Anscheinend hatte er seine Reise dorthin knapp vor Jahresende angetreten, denn öfter war davon die Rede, dass mein Vater Glück gehabt hätte. Denn wenige Tage nachdem sein Schiff von Triest kommend, dem Haupthafen der ehemaligen österreichisch-ungarischen Monarchie an der Adria, die Straße von Messina durchfahren hatte, ereignete sich dort am 28. Dezember 1908 ein schreckliches Erdbeben:
Eine drei Meter hohe Flutwelle tötete 84.000 der 120.000 Einwohner der Stadt. Wäre er wenige Tage später abgereist, hätte auch mein Vater ein Opfer dieser Katastrophe werden können.
Leider enthält der von meinem Vater mit Nr. 1 bezeichneten Reisepass keinen einzigen Hinweis auf weitere Reisen, weil es damals noch keine Sichtvermerke gab. Der nächste mit Nr. 2 bezeichnete Pass wurde am 12. Juni 1912 dem inzwischen selbstständig gewordenen Gemischtwarenhändler Anton Exner „nach allen Staaten der Erde“ ausgestellt.
Im 28. Lebensjahr, am 8. September 1908, folgte er also dem Beispiel seines inzwischen in die Vereinigten Staaten ausgewanderten älteren Bruders und verließ, zusammen mit einem Schulfreund, die Heimat, um herauszufinden, welche Möglichkeiten sich ihm in Kanada oder in den Staaten bieten würden. Er begann als Geschirrwäscher, war Kesselputzer und erhielt letztlich eine gut bezahlte Stelle als Geometer in Seattle. Sein Freund blieb, ihn aber zog es zurück in die Heimat, weil dort eine Frau war, derentwegen es zwischen ihm und seinem älteren Bruder einen erbitterten Kampf gegeben hatte und weshalb es zwischen den beiden keine Beziehung mehr geben sollte.
Vor seinem Aufenthalt in Amerika hatte mein Vater, der in Wien schon englisch gelernt hatte, seinen Unterhalt als kaufmännischer Vertreter verdient.
Den vorliegenden Pässen zu entnehmen, reiste mein Vater 15 mal nach Ostasien, was dreißig Reisen ergibt. Einschließlich der ersten Weltreise 1908 bis 1910, in den Jahren 1910, 1911, 1913, 1914, 1922, 1924, 1925, 1926, 1927, 1928, 1929, 1930, 1935 und 1937. Er benützte von drei oder vier Anreisen über die U.S.A. stets die damals schnellste Verbindung, die Transsibirische Eisenbahn. An- und Rückreisen zusammen ergeben 30 Reisen, auf die in Berichten öfters hingewiesen wurde.
Meine Mutter, geborene Mathilde Adele Ludwig, war die Tochter eines Webers in Asch. Sie war von Kind auf kurzsichtig und später eine der ersten Frauen, die in der Öffentlichkeit eine Brille trugen. Als tüchtige Bürokraft wurde sie von ihrer Firma nach Wien versetzt, gewiss eine Auszeichnung und ein Vertrauensbeweis. Soweit feststellbar, stammten ihre Vorfahren aus Asch oder dessen nächster Umgebung, einige waren aus Chemnitz und Erfurt hierher gezogen. Unter meinen 66 bekannten Vorfahren finden sich keine Bauern, alle waren sie Handwerker oder bescheidene Häusler. Wenn es früher hieß, zur Kennzeichnung eines echten Wieners gehört eine böhmische Großmutter, erfülle ich diese Bedingung spielend, denn beide Großmütter sowie ein Großvater waren Böhmer und kein einziger Tscheche.
Meine Mutter wurde von ihrer Firma in Asch in die Buchhaltung der Zweigstelle Wien versetzt und lernte meinen Vater kennen, weil es in Wien eine „Hung (jung) Ascher Gmoi“ (Gemeinde) gab, in der sich die in Wien lebenden Ascher regelmäßig trafen.
Mitgebrachte kunstgewerbliche Gegenstände, insbesondere japanische Seidenblusen, die er Händlern zum Kauf anbot, wurden ihm förmlich aus der Hand gerissen. So entschloss er sich, noch im November des gleichen Jahres, wieder nach Ostasien zu reisen, um die begehrten Waren zu beschaffen. Allerdings verfügte mein Vater damals allein nicht über die notwendigen Mittel, um die benötigte Ware zu kaufen und bezahlen zu können. Deshalb stellte meine Mutter ihm ihre ganze Ersparnisse zur Verfügung. Aber meine Mutter konnte auch eine beträchtliche Summe von 10.000 Kronen beschaffen, die ihr ein befreundeter Fabrikant – der meiner Mutter vertraute – zur Verfügung stellte.
1911 Hochzeit und Geburt Walters
Bereits im Januar 1911 traf er wieder in Wien ein – die Sibirische Eisenbahn ermöglichte verhältnismäßig kurze Reisezeiten von gut 2 Wochen – und eröffnete sein bald bekanntes Geschäft für ostasiatische Kunst und ostasiatisches Kunstgewerbe in der neugemieteten Wohnung in der Lerchenfelderstrasse 66 mit großem Magazin im Keller. Damit gleichzeitig fand auch am 26. Februar die Hochzeit statt.
Ziemlich pünktlich neun Monate nach der Hochzeit meiner Eltern wurde ich am 13. November geboren, knapp zwei Jahre später folgte meine Schwester Edith. Obwohl meine Mutter, anderthalb Jahre älter als mein Vater, immer eine einfache Frau geblieben war und in manchen Dingen nicht die Belange meines Vater teilte, war die Ehe glücklich.
Der großartige Erfolg seiner Geschäftsreise veranlasste nun meine Eltern, in einem der sogenannten bürgerlichen Bezirke, in der Lerchenfelderstrasse 66, eine gutbürgerliche Dreizimmerwohnung, Straßenseite, zu mieten. Dazu mehrere Lagerräume mit eigenem Hofraum, der mittels eines Haustelefons mit der Wohnung verbunden war.
Selbstverständlich wurde auch ein Telefon angeschafft, das gerne von unseren Gangnachbarn benutzt wurde, weil es das einzige im Stockwerk war. Stelle 4 von 4660.
Zwei Räume unserer Wohnung wurden als Verkaufsräume für Antiquitäten eingerichtet und die Magazinräume richtete mein Vater als eigener Handwerker selbst her, denn er war stolz darauf, alles allein machen zu können.
Mein Vater war sehr zielstrebig, im Beruf und auch im Sport. Er war hart gegen sich selbst, war ausdauernd und einer der besten Ruderer Wiens. Er war Mitglied des Rudervereins
„Austria“, des einzigen damals in Wien, der auch Juden aufnahm, so dass er auch jüdische Freunde hatte und gute Verbindungen zu jüdischen Geschäftsleuten. Sein Fleiß und sein anspruchsloser Arbeitswille ließen ihn oft bis Mitternacht arbeiten.
1912
Ab 1912, nach der Geschäftsgründung, reiste mein Vater mehrmals, in der Regel jährlich einmal, wieder nach Ostasien, um einzukaufen. Auch am 14. Juli 1914 trat er eine Reise dorthin an, wobei ihn auf der Rückfahrt mit der Sibirischen Eisenbahn der Ausbruch des Ersten Weltkrieges am Baikalsee überraschte. Glücklicherweise hatte der Zug wegen Achsenbruchs eine dreitägige Verspätung und befand sich noch nicht mitten in Sibirien als die Kriegserklärung Österreichs an Russland...