Kreisbehörden und Landesministerien sehen sich durch örtliche politische Parteien und durch betroffene Kommunen Vorwürfen der Verschleppung und Untätigkeit ausgesetzt. Lange sei nichts unternommen worden, obwohl der zuständigen Kreisbehörde spätestens seit 2008 bekannt war, dass von einem Komposthersteller unzulässig belastete Papierfaserabfälle abgegeben worden waren. Landwirte bewirtschafteten unwissentlich ihre Parzellen, die mit kontaminierten Kompost verunreinigt waren oder beregneten unbelastete Ackerflächen mit dem Wasser aus ihren PFC-kontaminierten Privatbrunnen. Die ersten systematischen Untersuchungen zur Feststellung von schädlichen Bodenveränderungen, der Grundwasser- und Trinkwasserbelastung infolge PFC, liefen im Jahre 2013 an, obwohl das sprichwörtliche Kind zu diesem Zeitpunkt schon Jahre vorher in die Brunnen gefallen war. Bis zu diesem Zeitpunkt waren die PFC über das Grundwasser längst in den Wasserwerken und privaten Brunnen der Region angekommen. Nun erst kam es zur Stilllegung von Wasserwerken, zum Einbau zusätzlicher Reinigungs- und Filteranlagen bei den Wasserversorgern, zur Außerbetriebnahme einzelner Brunnen, zur Erschließung neuer Brunnen, zum Grundwasser-Monitoring, zu einer Überprüfung von landwirtschaftlichen Erzeugnissen (Vorernte-Monitoring) und zu Vorschlägen, Verbundlösungen für die Wasserversorgung aufzubauen. Nun erst wurden Forschungsvorhaben in Auftrag gegeben und viele weitere Maßnahmen ergriffen. Der Vorschlag eines örtlichen Bürgermeisters, Brunnengalerien zu bauen, die PFC-belastetes Grundwasser auffangen sollen, ließ sich nicht mehr umsetzen, weil sich die Chemikalien zu diesem Zeitpunkt über Grundwasserfahnen bereits zu weit verbreitet hatten. Hat es zu lange gedauert, bis die Behörden angemessen auf vorliegende Erkenntnisse und die nahe liegende PFC-Umweltbelastung in der Region reagiert haben?
Ein rechtzeitiges Erkennen der Problemlage war durch den Organisationsaufbau der Behörden selbst erschwert. Die Behörden sind in ihrer Aufbau- und Ablauforganisation darauf ausgerichtet, auftretende Schadensereignisse zu antizipieren und zu bewältigen. Im vorliegenden Falle jedoch ist die Komplexität und das großflächige Ausmaß des mittelbadischen PFC-Schadensereignisses auf eine Vielzahl von unterschiedlichen kommunalen Gebietskörperschaften, staatlichen Ressorts und Zuständigkeiten, Ministerien und Behörden verteilt, wie letztlich auch auf verschiedenste Forschungsgebiete und Forschungseinrichtungen. Neben Fragen die Bodenschutz, Wasser und Landwirtschaft tangieren, sind eine Vielzahl von anderen betroffenen Themenbereichen betroffen, wie zum Beispiel Gesundheit, Natur- und Artenschutz, Deponiefragen, Abfall- und Baurecht. Es liegt auf der Hand, dass die Besonderheit einer in dieser Form nie dagewesenen Schadenslage das Erkennen der Problemlage und erforderliche Aktivitäten nicht unbedingt förderte.
Bei kritischen Fragen berufen sich Landesministerien und Behörden immer wieder auf nicht existierende gesetzliche Grenzwerte. So beispielsweise Umweltminister Franz UNTERSTELLER am 16.09.2016 gegenüber „goodnews4 Baden-Baden“. Gleichlautend auch die örtlichen Kreisbehörden: Keine Grenzwerte für PFC in der Trinkwasserverordnung, keine Schwellenwerte in der Grundwasserverordnung und keine Sickerwasserprüfwerte in der Bundesbodenschutzverordnung.[1] Die Beurteilung des Trinkwassers erfolgt nach dem Konzept für gesundheitliche Orientierungswerte (GOW-Konzept) der Trinkwasserkommission PFC. Eine Beurteilung von Grundwasserverunreinigungen erfolgt nach vorläufigen Geringfügigkeitsschwellenwerten (GFS-Werte), abgeleitet in Anlehnung an das GOW-Konzept der Landesanstalt Umwelt, Messungen und Naturschutz Baden-Württemberg (LUBW) und eingeführt per Erlass des Umweltministeriums Baden-Württemberg vom 17. Juni 2016.
Es mag dem Wortlaut nach zutreffen, dass bundesweit keine Grenzwerte für PFC vorliegen, dass bei der Belastung des Wassers mit PFC noch vieles unerforscht und mit gesetzlichen Grenzwerten erst im Jahr 2017 zu rechnen ist.[2] Dies könnte vordergründig zu der Annahme führen, dass für das Land Baden-Württemberg ohne gesetzliche Grundlage keine Handlungsmöglichkeiten gegeben waren. Diesen Aussagen steht gegenüber, dass das Umweltbundesamt Fluorchemikalien (PFOS und PFOA) schon lange als „besonders besorgniserregend“ bewertet. Bereits mit der Düngemittelverordnung vom 16. Dezember 2008 wurde erstmals eine Kennzeichnungsschwelle und ein Grenzwert für perfluorierte Tenside (PFT) eingeführt.[3] Die wissenschaftlichen Erkenntnisse zu PFC führten zu einer entsprechenden Berücksichtigung bei Novellierung der Bioabfallverordnung (BioAbfV) 2013.[4]
Für die Einschätzung einer PFC-Belastung im Trinkwasser, wenn auch außerhalb einer gesetzlichen Grundlage, konnte seit dem Jahre 2008 auf die von der Europäischen Behörde für Lebensmittelrecht (EFSA) und die Grundlagenwerte zurückgegriffen werden, die im gleichen Jahr durch das Umweltbundsamt u.a. mit der so definierten „tolerierbaren täglichen Aufnahmemenge“ („Tolerable Daily Intake“ – TDI) anerkannt waren.[5]
Dass es Handlungsmöglichkeiten gab, zeigte sich, als das Ministerium für Ländlichen Raum und Verbraucherschutz Baden-Württemberg (MLR) im Jahre 2015, nach eigenen Angaben: „in eigener Regie“, Orientierungswerte (u.a. PFC-Vorsorgewerte) festgelegte, und als Folgemaßnahme ein Vorernte-Monitoring einführte.[6] Der Landwirtschaftsminister erklärte bis dahin die Vorgehensweise: „Um belastbare Aussagen zu erhalten, müssen eine Vielzahl von unterschiedlichen Daten geprüft und vom Wasserversorger wie auch von den Fachdienststellen der Behörden bewertet werden. Man könne nur mit Abschätzungen arbeiten, da PFC wasserlöslich ist und großflächig festgestellt wurde“. So war dann auch der Tenor der örtlichen Kreis und Mittelbehörden. Wie nicht anders zu erwarten, orientierten sich die vom baden-württembergischen MLR im Jahr 2015 „in eigener Regie“ festgelegten Grundlagenwerte für PFC an den schon längst bekannten und anerkannten Grundlagenwerten der Europäischen Behörde für Lebensmittelrecht (EFSA), der Trinkwasserkommission des Umweltbundesamtes und des Bundesamtes für Risikobewertung. Die Ministerien in Baden-Württemberg hatten, bezogen auf die Ermittlung von PFC-Grundlagen- oder Grenzwerten, keine nennenswerten Erkenntnislücken zu überwinden.
Aber selbst, wenn gesetzlichen Grenzwerten tatsächlich vorlägen, wäre fraglich, ob es für persistent-bioakkumulierend-schädliche Chemikalien wie PFC überhaupt „sichere“ Grenzwerte geben kann. Die Festlegung von Grenzwerten könnte bei unsicherem Forschungsstand Sicherheit nur vorgaukeln. In der Folge könnte eine Akzeptanz von Grenzwerten dazu führen, dass wir uns an die Belastung mit langlebigen, sich immer weiter anreichernden Substanzen gewöhnen und eine solche Belastung letztendlich dulden.
Auf massiven Druck der Bürgerinititative „Sauberes Trinkwasser für Kuppenheim“ (BST Kuppenheim) ist es im Frühjahr 2017 endlich gelungen, die zuständigen Ministerien davon zu überzeugen, eine wissenschaftliche Studie zur Feststellung der PFC-Belastung der Bevölkerung in den betroffenen Gebieten („Human-Monitoring“) zu veranlassen. Auch hier liegen durchaus nachvollziehbare Gründe vor, weshalb dies nach Bekanntwerden der PFC-Problematik unterblieb. Das jetzt im Frühjahr 2017 in Auftrag gegebene Human-Monitoring zeigt, dass auch andere gewichtige Gründe zu einer entgegengesetzten Entscheidung führten. Es dauerte auch sehr lange, bis die Verwendung von Beregnungswasser für landwirtschaftlich genutzte Flächen aus belasteten privaten Brunnen für Haupt- und Nebenerwerbslandwirte untersagt und bis der Verkauf von belasteteten landwirtschaftlichen Produkten von den Behörden nicht mehr „empfohlen“ worden war.
Während die Stuttgarter Zeitung befürchtet, dass Einwohner an verschiedenen Orten in der betroffenen Region über Jahre unbemerkt mit belasteten Trinkwasser ausgesetzt waren, bis es im Jahre 2013 zu Gegenmaßnahmen der Wasserversorger kam, tritt das Gesundheitsamt im Landratsamt Rastatt solchen Befürchtungen oder Annahmen aus der Bevölkerung entgegen.[7] Erst nach 2013 wird mit Maßnahmen der Wasserversorger und weiteren Maßnahmen versucht zu verhindern, dass belastete Lebensmittel auf den Tisch der Verbraucher gelangen. Beim Grund- und Trinkwasser gab es fortan regelmäßige Untersuchungen. Wie lange Grund- und Trinkwasser belastet waren und zu welchen gesundheitlichen Auswirkungen dies führt, lässt sich heute nur erahnen. Das Landratsamt Rastatt 2015 teilte auf Anfrage mit, dass im Versorgungsgebiet des Wasserversorgungsverbandes Vorderes Murgtal (WVVM) „zu keinem Zeitpunkt“ hochbelastetes Trinkwasser abgegeben wurde.[8] Die Frage bleibt dennoch unbeantwortet, denn bis 2012/2013 waren per- oder polyfluorierte Chemikalien in anlassunabhängigen Untersuchungen des Trinkwassers nicht einbezogen. Die Feststellung von PFC im Jahr 2012 erfolgte als „Zufallsfund“. Im Zweckverband WVVM sind die Städte Gernsbach, Kuppenheim, Gaggenau und Rastatt zusammengeschlossen. Betroffen ist nicht nur das Versorgungsgebiet des WVVM, sondern auch die Trinkwasserversorgung des Stadtkreises Baden-Baden.
In der Region Mittelbaden werden das Grundwasser und potentielle Freiflächen erst seit Oktober 2013 systematisch auf PFC beprobt. Seitdem werden immer wieder alarmierende PFC-Werte festgestellt.
- Landratsamt Rastatt –Gesundheitsamt–, Bürgerinformation 25.11.2014 ↵
- Stellungnahmen von Landwirtschaftsminister Peter Hauk, in: Badische Bauern Zeitung (BBZ), PFC: Aussichten auf Grenzwerte für...