CHRISTIAN WEHRSCHÜTZ: Liebe Frau Kirsch, meine erste Frage betrifft einige persönliche Daten. Erzählen Sie am Beginn ein bisschen über Ihren Lebensweg. Wo sind Sie geboren, wo aufgewachsen, wo haben Sie Russisch gelernt?
INA KIRSCH: Geboren wurde ich im fernen Osten Russlands. Ich bin die Tochter einer russischen Journalistin und eines deutschen Vaters, seines Zeichens Schriftsteller. Ich bin dann gleich nach meiner Geburt in die ehemalige DDR gezogen, dort aufgewachsen und habe dementsprechend auch Russisch gelernt.
Und wie kam es zur Geburt im fernen Osten Russlands? Wo war das genau?
In Chabarowsk. Meine Mutter war als Journalistin damals zuständig für eine entsprechende Regionalzeitung. Und mein Vater hat als Schriftsteller in der DDR eine Reise mit anderen Schriftstellerkollegen in die Region gemacht. Da haben sie sich kennengelernt.
Und wo haben Sie dann in der DDR gelebt?
In Halle, das ist in der Gegend von Leipzig, das Gebiet mit der größten Chemieindustrie in der ehemaligen DDR. Also wirklich Zentrum der Industrie im – wie wir damals gesagt haben – Arbeiter- und Bauernstaat.
Aber Halle an der Saale ist auch wegen seiner Komponisten bekannt.
Das ist wohl wahr. Herr Händel hat da gearbeitet und gelebt. Aber, also sagen wir in diese Zeit zurückblickend, in der DDR-Zeit gab es auch eine ganz große Gruppe von jungen Schriftstellern, die eben aus dieser Region kamen. Und um das Industriegebiet Leuna lebte auch ein großer Zirkel junger, nachher auch in Westdeutschland bekannter Journalisten, und sie haben in einem Schriftstellerzirkel gearbeitet.
Was war eigentlich Ihr Berufsweg? Welche Berufslaufbahn haben Sie eingeschlagen und wie begann dann überhaupt die Beschäftigung mit der Ukraine? Diese dürfte ja erst nach dem Fall der Mauer bzw. auch nach dem Zerfall der Sowjetunion 19911 so richtig begonnen haben.
Ich bin 1987, also zwei Jahre vor dem Mauerfall, von einer Besuchsreise nach England in die DDR nicht zurückgekehrt. Ich habe dann in Berlin Osteuropastudien studiert und mit dem Fall der Mauer habe ich mich schon in Westberlin bei den Sozialdemokraten politisch engagiert. Dann bin ich wieder nach Ostberlin zurückgegangen, um beim Aufbau der dortigen Sozialdemokratie zu helfen. Das habe ich auch gemacht und bin 1991 für die Friedrich-Ebert-Stiftung und sozialdemokratische Bundestagsabgeordnete nach Moskau gegangen, um dort die politischen Entwicklungen zu begleiten und zu berichten, um einen wahren Blick auf die Entwicklung der Parteienstrukturen zu bekommen. Und in dem Moment habe ich dann angefangen, mich vornehmlich mit der Parteienentwicklung in Russland, der Ukraine und Weißrussland zu beschäftigen.
Sie haben aber auch in Brüssel gearbeitet, glaube ich.
Ich bin dann, als ich zurückgekommen bin aus Moskau, 1994 nach Brüssel gezogen und habe angefangen, dort für Europaabgeordnete zu arbeiten, vornehmlich aber zunächst im Bereich Innenpolitik und Haushaltspolitik. Und ich bin später wieder zurückgekehrt zu den Ursprüngen in der Außenpolitik.
1994 ist ein gutes Stichwort, denn im Juni 1994 unterzeichneten die EU und die Ukraine auch dieses Partnerschafts- und Kooperationsabkommen. Es gab dann ein Interimsabkommen, um es in Kraft zu setzen. Endgültig in Kraft trat dieses Abkommen 1998. Man hat insgesamt den Eindruck, dass die Europäische Union bei der Frage „Was tun mit der Ukraine?“ lange keine wirkliche Strategie entwickelt hat. Das war nie ganz klar. Natürlich gab es auch andere Probleme, andere Prioritäten. Einerseits die Erweiterungsrunde 1995. Denn mit dem Fall der Berliner Mauer standen natürlich in weiterer Folge auch die Staaten Ost-Mitteleuropas im Vordergrund. Dann haben wir noch die Zerfallskriege im ehemaligen Jugoslawien, die parallel 1991 so richtig begonnen haben. Wann kam eigentlich der Impuls, dass man sagte, man entwickelt mit der Ukraine diese Idee, dass nicht nur Partnerschaftsabkommen, sondern auch weitergehende Abkommen, auch für Georgien, Moldawien, gelten sollen – was also die Annäherung, die Assoziierung der Ukraine und der anderen Staaten an die EU betrifft?
Zurückzuführen ist das Ganze eigentlich auf die Orangene Revolution. Als Timoschenko2 und Juschtschenko3 2004 bzw. 2005 die Macht übernommen haben, wollten sie gleich dem Weg der anderen osteuropäischen Länder, also vor allem Polens, folgen und Mitglied der Europäischen Union werden. Damals hat man eben sehr klar gesagt: Hier geht es vorläufig nicht weiter. Und man hat sich darauf geeinigt, dass man einen Schritt geht, der möglichst nah an eine EU-Mitgliedschaft heranführt, aber nicht die EU-Mitgliedschaft bedeutet, weil die damals nicht umsetzbar war. Sie wissen, wie schwierig es schon damals war, überhaupt die Osterweiterung der Europäischen Union innerhalb der alten Mitgliedstaaten der EU durchzusetzen. Also da ging kein Weg daran vorbei. Man konnte nicht Nein sagen und damals hat dann Timoschenko schon versprochen: Wir gehen so weit wie möglich. So weit wie möglich hieß: Wir streben an, die Ukraine so weit wie möglich in den europäischen Binnenmarkt zu integrieren und auch die politischen Strukturen zu schaffen, ohne dabei eine Mitgliedschaft in Aussicht zu stellen. Vorläufig. Das entspricht übrigens auch genau dem Weg, den die Balkanländer, aber auch die anderen osteuropäischen Länder gegangen sind. Man hat zunächst ein Partnerschafts- und Kooperationsabkommen gemacht. Und als sich das mehr oder weniger gut angelassen hat, hat man später Beitrittsverhandlungen geführt.
Und 2004 wurde beschlossen, dass man so weit wie möglich geht, und hat angefangen, zu verhandeln. Aber die Verhandlungen wurden dann relativ schnell noch einmal ausgesetzt mit der Mitteilung: Wir schauen uns zunächst an, was die Verhandlungen mit der WTO ergeben, und setzen dann darauf unsere weiteren Verhandlungen auf. Es gab nämlich auch schon bei den WTO-Verhandlungen der Ukraine sehr große Probleme. Es gab den politischen Willen, um jeden Preis zu unterschreiben, auch wenn es bereits zu diesem Zeitpunkt für die Ukraine zum Teil ökonomisch nachteilig war. Die Ukraine hat, vor allem was den Agrarsektor angeht, für unsere Rohstoffe auch sehr viele Zugeständnisse an die WTO gemacht.
Wodurch?
Dadurch, dass man Tarife genommen hat, die es interessanter gemacht haben, zu importieren, als selbst im Land zu produzieren. Und in einem Land, das so rückschrittlich ist wie die Ukraine, wäre es erforderlich gewesen, zunächst auch die heimische Wirtschaft wirklich zu stärken – und nicht nur den Handel zu fördern. Und die Investitionen, die man sich von der Marktöffnung erhofft hat, sind zum Großteil einfach ausgeblieben. Man hat genau das Gleiche wie in Russland gemacht. Man hat zwar in den Stahlgebieten und Industrien weiter produziert, aber man hat nicht ausreichend modernisiert. Es gab keinen Zufluss von dringend erforderlichem Kapital. Und gleichzeitig hat die Ukraine, was wir ganz oft vergessen, auch Rohstoffe, die weltweit sehr interessant sind. Titan zum Beispiel. Man hätte eigentlich eine sehr viel stärkere Verhandlungsposition haben können, wenn man sich die wirtschaftliche, mögliche wirtschaftliche Stärke der Ukraine perspektivisch angesehen hätte. Aber man wollte damals aus politischen Gründen unbedingt sofort das WTO-Abkommen unterzeichnen. Das hat man gemacht, und man hat dadurch, wie gesagt, im Agrarsektor viele Zugeständnisse gemacht. Man ist bis heute Lieferant wenig qualitativer Rohstoffe, veredelt aber kaum eigene Produkte. Und im Fall der Ukraine hätte dieser Agrarsektor nach wie vor sehr viel Potenzial zur Entwicklung einer eigenen Industrie.
Sie leiten eine NGO4, eine Nichtregierungsorganisation, die sozusagen das Verhältnis Ukraine – EU, die EU-Annäherung der Ukraine, fördern soll. Wann wurde diese NGO gegründet? Wer stand dahinter und mit welchem Ziel?
Gegründet wurde das Ganze 2011, und zwar mit folgendem Hintergrund: Wir waren damals schon fast zehn Jahre am Verhandeln des Assoziierungsabkommens, aber es hatte sich totgelaufen. Und die Europäische Union war im Herbst 2010 eigentlich an dem Punkt, zu sagen, es habe keinen Sinn, weiter zu verhandeln. Timoschenko und Juschtschenko waren überhaupt nicht in der Lage, wirkliche Verhandlungen über die wirtschaftlichen Folgen eines solchen Assoziierungsabkommens zu führen, wollten es auch nicht, das waren ja alles Diskussionen über Quoten und Ähnliches, die den eigenen Wohlstand bedroht hätten. Es waren mehr als 11 000 Positionen, die verhandelt wurden. Man kam nicht weiter. 2010, nach dem Machtwechsel, also hin zu Janukowitsch5, hat dann die Europäische Union gesagt: Entweder ihr macht das jetzt richtig oder wir lassen es sein. Daraufhin wurde dann der Beschluss gefasst: Nein, wir, also die Ukraine, wollen die Assoziierung haben und wir werden das intensiv betreiben. Zum damaligen Zeitpunkt, nach der Orangenen Revolution, eigentlich auch nach der ganzen Instabilität zwischen Timoschenko und Juschtschenko, wurde Janukowitsch als jemand gesehen, der die Stabilität ins Land zurückbringen könnte. Das hatten sich die Bürger erhofft und selbst der Westen stand Janukowitsch zwar skeptisch, aber doch relativ offen gegenüber. Und in dieser Zeit wurde dann gesagt: Okay, wir machen dieses Assoziierungsabkommen weiter, und man hat den damals Ersten Stellvertretenden Premierminister Andrij Kljujew6 beauftragt, die Verhandlung zu führen...