Prolog
An Árpád, meinen Urgroßvater
Das Blatt Papier vor mir ist noch völlig leer – mir ist durchaus bewusst, auf welches Wagnis ich mich einlasse. Der Versuch, selbst etwas zu tun, worin Deine Urgroßmutter Bettina alle anderen überragte, nämlich einem imaginären Leser einen Brief zu schreiben, ist eine ätzende Angelegenheit.
»Ätzend«, kennst Du diesen Ausdruck, Árpád, oder klingt er in Deinen Ohren zu sehr nach einundzwanzigstem Jahrhundert? Wahrscheinlich hättest Du stattdessen »delikat« gesagt.
Und jetzt duze ich Dich auch noch, obwohl es wahrscheinlich angemessener wäre, Dich zu siezen. Genau betrachtet bin ich allerdings der Meinung, dass ich angesichts der Zeit, in der ich lebe, meinen Urgroßvater durchaus duzen darf. Ich halte Dich für einen Mann, der so etwas zu schätzen gewusst hätte, für jemanden, der mit anderen gern auf Augenhöhe verkehrte. Die Entscheidungen, die Du in Deinem Leben getroffen hast, bestätigen diesen Eindruck.
Dein Porträt steht hier vor mir. Es ist etwa 1914 entstanden, als Du zweiunddreißig Jahre alt warst. Während ich dies schreibe, ruht Dein Blick auf mir. Über meinen Laptop hinweg sehe ich immer mal wieder zu Dir hinüber. Du warst ein gut aussehender junger Mann. Die gewellten dunklen Haare fallen am Scheitel exakt zur Seite. Hast Du Dir den Flachsbart vielleicht stehen lassen, um den Mangel an Behaarung auf Wangen und Kinn zu kompensieren? Oder hältst Du diese Frage für unverschämt? Wenn ja, entschuldige bitte, aber Du hast fast das Gesicht einer Frau, so fein. Deshalb habe ich mich das gefragt. Auch Deine schlanke Statur ist eher die eines Jungen. Wollte der Fotograf, dass Du Dich so hinstellst, die Hände vor dem Bauch übereinandergelegt? Eine schöne Pose, ganz lässig. Dein Blick ist würdevoll. Trotzdem verraten Deine Hände eine gewisse Unsicherheit. Sie halten sich eine Spur zu verkrampft aneinander fest. Es muss Dich Überwindung gekostet haben, Dich so hinzustellen, einen solchen Blick aufzusetzen. Du brauchst mir nichts vorzumachen, ich kenne diesen Blick.
Ein Foto für Deine Nachfahren. Es ist eines der wenigen, die ich von Dir habe, und das einzige, auf dem Du mit einem gewissen Stolz in die Kamera blickst. Den linken Arm hast Du auf eine Stuhllehne gestützt, als hättest Du Dich gerade langsam und aufrecht zu mir umgedreht. In einer gesichtslosen Menschenmenge bin ich Dir schweigend und zielgerichtet entgegengegangen. Inmitten all der Menschen habe ich Dich erkannt. Obwohl Du mir den Rücken zugewandt hattest, wusstest Du, dass ich näher kam. Du hast Dich umgedreht. Und mich angesehen.
Eines Tages fand ich eine Scherbe Deines Lebens. Ganz unerwartet. Und ich wusste sofort, dass ich sie hegen und pflegen musste, da sie Teil von etwas viel Größerem war. Von etwas, zu dem ich selbst auch gehöre. Von etwas, das in ganz Europa verstreut war und das sich vielleicht gerade noch finden ließe, wenn ich nur den ersten Schritt tun würde, um ihm auf die Spur zu kommen.
Dieses »Etwas« war eine Geschichte. Deine Geschichte. Deine Geschichte, die zu meiner wurde.
Möchtest Du, dass ich erzähle, warum mich die Scherbe so berührt hat? Ich betrachtete sie, als wäre sie ein Teil eines Spiegels, und sah nicht nur ein Stückchen von mir selbst darin, sondern auch und vor allem das Unrecht, das Dein Leben geprägt hat. Oder hast Du es etwa nicht für Unrecht gehalten, dass Dir alles abgenommen wurde? War es für Dich eher die Hand Gottes, an den Du unerschütterlich geglaubt hast und von dessen Nähe Du selbst in Zeiten höchster Not immer überzeugt warst?
Eine Weile hat es gedauert, bis ich das Muster erkannte, das innerhalb unseres Familienzweigs über mehrere Generationen hinweg unbeabsichtigt weitergegeben wurde und das ich mit dem Schreiben dieses Buchs gebannt zu haben glaube – eine vererbte existentielle Einsamkeit. Ich glaube, dass Du jetzt schlucken musst. Oder gehe ich auch in diesem Punkt zu weit und schreibe Dir zu Unrecht meine eigenen Gefühle zu, um … tja, warum eigentlich? Um dieser Geschichte eine größere Daseinsberechtigung zu verleihen? Um mir eine größere Daseinsberechtigung zu verleihen? Oder um einen Schlussstrich zu ziehen?
Wahrscheinlich ist es eine Kombination aus alldem. Weißt Du, Árpád, während Dir immer sehr bewusst war, von wem Du abstammst – nämlich von Deinen berühmten Urgroßeltern Achim und Bettina von Arnim, Deiner fast ebenso berühmten Großmutter Maxe und ihrem Mann Eduard Oriola, Deinen Eltern Armgard und Béla Eperjesy –, wusste ich vierzig Jahre lang nicht das Geringste von dieser Vergangenheit. Auch von Dir wusste ich nichts. Obwohl wir uns nie begegnet sind, haben sich unsere Leben wie in einer Sanduhr gekreuzt. Wir waren zwei Sandkörner, die sich inmitten des Stroms der Masse fortbewegten und unser Bestes gaben, nicht unterzugehen. Auf der Wegkreuzung haben wir einander vielleicht einen Sekundenbruchteil lang berührt, um gleich darauf von der Schwere, die uns umgab, verschüttet zu werden.
Wir befanden uns in derselben Stadt, ein Teil unserer DNA ist identisch – und dennoch waren wir füreinander Fremde. Wie ist das möglich, Árpád? Warum hast Du Deine eigene Urenkelin nie gesehen? Hatte es jemand verboten? Wenn ja, wer? Oder hast Du es nicht gewollt? Hast Du gar nicht gewusst, dass es mich gibt? Ich war dreieinhalb Jahre alt, als Du starbst. Wieso habe ich nie bei Dir auf dem Schoß gesessen, um vertrauensvoll zu Dir aufzuschauen und andächtig zu lauschen, wie Du mir zufrieden Deine Kompositionen vorsummst?
Vieles von dem, was Dir, Deinen Vorfahren und Deinen Nachfahren zugestoßen ist, weiß ich nicht und werde es wohl auch nie erfahren. Es ist zu lange her. Andererseits ist mir manches durchaus bekannt, da sich die eine oder andere Spur erhalten hat, die von unserem Zweig der Familie zeugt: Schnipsel, Bruchstücke, Scherben. Schon sonderbar, dass das alles ausgerechnet bei mir gelandet ist. Ich bin die Letzte, die diese Geschichte erzählen kann. Ich möchte Dir Deinen Namen zurückgeben. Ich schreibe Dir, weil ich mich mit Dir verbunden fühle und weil mir Deine Zustimmung wichtig wäre. Schließlich greife ich ja auch auf die Dramen in Deinem Leben zurück, um unsere Familiengeschichte aufzuzeichnen.
Von Anfang an ist es mein Bestreben gewesen, die Wahrheit zu Papier zu bringen, die Geschichte Deiner – und damit auch meiner – Familie möglichst wahrheitsgetreu aufzuzeichnen. Letzten Endes ist meine Geschichte daraus geworden; ich habe sie in der Form rekonstruiert, die mir am geeignetsten erscheint. Roman oder Tatsachenbericht – eine heikle Frage. Deine Urgroßmutter Bettina hätte mir besser als jeder andere mit gutem Rat helfen können. Alles, was ich erzähle, ist wirklich geschehen, auch wenn ich es von meiner Warte im einundzwanzigsten Jahrhundert aus berichte.
Es gab praktisch niemanden mehr, den ich zu Dir hätte befragen können, außer meiner Mutter, Deiner Enkelin Maxe. Doch zu ihr habe ich praktisch keinen Kontakt. Sie wiederum hatte keinen Kontakt zu Elfi, ihrer Mutter. Und Elfi hatte genau genommen zu ihrer Mutter ebenso wenig Kontakt. Letzteres wird Dich wohl nicht wundern, aber ich vermute, dass es Dir wahrscheinlich leidtut. Dir wäre es, wie ich nun weiß, anders viel lieber gewesen. Du hast die engen Familienbande noch gekannt, die Deiner Mutter, Großmutter und Urgroßmutter so wichtig waren. Zu Deinen Lebzeiten hat sich dann alles verändert.
Die Generationen nach Dir müssen sich mindestens genauso entthront gefühlt haben wie Du, der von verschiedenen Menschen zu mehreren Zeitpunkten im Leben mir nichts, dir nichts von einem vollwertigen Bürger zu einem Mann ohne Besitz, ohne Namen und ohne Stolz herabgestuft wurde. Zu jemandem, den man mit Füßen treten konnte.
Zum Glück war da Elfi, Dein drittes Kind, meine Großmutter. Sie ist es gewesen, die mit dem Zusammenleimen einen Anfang machte, mit dem Heilen. Das hat sie für mich getan. Wie Du ist auch sie sehr einsam gewesen. Dennoch fand sie die Kraft, die Verbindung wieder aufzunehmen. Eine Generation überspringend holte sie mich ein, nahm mich an die Hand und überließ mir ein paar Bruchstücke. »Füge sie zusammen oder wirf sie weg«, sagte sie. Die Wahl fiel mir nicht schwer. Elfi hatte den ersten Schritt gemacht, ich erledigte den Rest.
Daraus entwickelte sich die Suche nach Deiner Lebensgeschichte. Ich wusste kaum, wo ich anfangen sollte, und hatte keine Ahnung, auf was ich stoßen würde. Nun kann ich Dir sagen, dass ich viele Scherben wiedergefunden habe. Ich habe sie gesammelt und zusammengeklebt, die Lücken ergänzt. Die Geschichte ist zu Ende geschrieben. Und es ist meine Geschichte, meine Deutung des Geschehenen. Ich sehe mich in einem geborstenen Spiegel, der mir so gefällt, wie er ist – jetzt ist er komplett genug.
Man ist erst dann jemand, wenn man irgendwo dazugehört, zu einer Familie. Das hat mir Elfi jedenfalls immer vorgehalten, diesen Spruch kennst Du bestimmt: »Das Einzige, was für mich zählte, war eine richtige Familie, die Wärme einer Familie.« Genau das war es, was Deiner Tochter fehlte und was auch Dir nicht gegeben war.
Árpád, ich möchte Dir erzählen, dass mir meine Suche nach Dir zu dem verholfen hat, wonach ich suchte, und eigentlich zu noch viel mehr. Aufgrund unserer besonderen Familiengeschichte weiß ich nun, auf welche Weise ich ein Teil davon bin. Ich habe sie um Dich herum rekonstruiert und so meinen Platz in unserem Stammbaum...