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E-Book

Bruce Springsteen - Like a Killer in the Sun. Songtexte

AutorBruce Springsteen, Leonardo Colombati
VerlagReclam Verlag
Erscheinungsjahr2019
Seitenanzahl960 Seiten
ISBN9783159615233
FormatePUB
KopierschutzWasserzeichen
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis17,99 EUR
Erste autorisierte und einzige deutsche Ausgabe von Springsteens Lyrics Bruce Springsteens Lyrics erscheinen zusammengenommen als Kapitel eines großen amerikanischen Romans, den er in den 1970ern begonnen hat und der in diesem Buch nachvollzogen wird. Kritiker halten den 'Chronisten des amerikanischen Alltags' (Der Spiegel) und seine Lyrics inzwischen für ebenso wichtig für die amerikanische Literatur wie die Werke von Fitzgerald, Carver oder Whitman. Anders als Bob Dylan versteckt sich Springsteen nicht hinter immer neuen Masken, er erzählt unverstellt von dem American Dream und seinen Schattenseiten - von der Provinz, von der Flucht aus ihr und dem Sog der Freiheit, von den Chancen der Selbstsuche wie auch von Armut, Rassismus oder Polizeigewalt. Leonardo Colombati entschlüsselt überraschende Hintergründe und Einflüsse. Die Wucht von Springsteens Bildern wie auch die leisen Erschütterungen in seiner Sprache macht Heinz Rudolf Kunze in seinen kongenialen Übersetzungen erfahrbar. Das Buch bietet: • Einleitung, Biographie und Kommentare von Leonardo Colombati • 100 Songs im Original und in deutscher Übersetzung von Heinz Rudolf Kunze • umfangreiches Bonusmaterial, Diskographie u. ä.

Der italienische Schriftsteller LEONARDO COLOMBATI, geb. 1970, ist Autor mehrerer Romane und Herausgeber von 'Nuovi Argomenti', der wichtigsten italienischen Literaturzeitschrift. Seine Arbeit an diesem Band wurde von Springsteen persönlich unterstützt. HEINZ RUDOLF KUNZE, geb. 1956, ist seit Jahrzehnten als wortmächtiger Rockpoet erfolgreich und zugleich erfahrener wie versierter musikalischer Übersetzer (von The Kinks bis zu Shakespeare-Musicals).

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Leseprobe

Erster Teil


Lieder oder Gedichte?


Ich bin zwar sicher, dass die Geschichte der Poesie nie vom Sturm und Drang über die Klassik schließlich beim Hip-Hop landen wird (»Car and pussy at the highest level, nigga«). Doch meine Generation war immerhin die letzte, in der wir Teenager dem Erscheinen einer LP mit derselben Aufregung entgegenfieberten, mit der vor anderthalb Jahrhunderten die Einwohner Londons Master Humphrey’s Clock kauften, um herauszufinden, ob die arme Nell Trent im letzten Teil von Dickens’ Raritätenladen nun tatsächlich stirbt oder nicht. Lange bevor das Herunterladen von MP3-Dateien unsere Hörgewohnheiten für immer verändern und dem Album als Format den Todesstoß versetzen sollte, zog es uns noch in den Plattenladen. Anschließend gingen wir nach Hause, schlossen uns in unsere Zimmer ein – und alles, was außerhalb unserer vier Wände lag, hörte für zumindest eine Stunde auf zu existieren: Was wir in jener Zeit taten, war das Wichtigste auf der ganzen Welt, und wir widmeten ihm mindestens dieselbe Konzentration wie der Lektüre eines Buchs, wenn nicht sogar mehr. Die besten Künstler der 1960er, 1970er, 1980er und 1990er Jahre vertrauten darauf, diese Aufmerksamkeit immer und immer wieder zu bekommen. Sie konnten es sich erlauben zu experimentieren, konnten ihre künstlerische Freiheit bis zum Äußersten ausreizen. Es ist erstaunlich, dass dasselbe auch im sogenannten Mainstream geschah. Die Beatles waren die berühmteste Band der Welt, und mit jedem neuen Album zerrten sie diese Welt hinter ihren genialen Eingebungen her. 1964 sangen alle Mädchen A Hard Day’s Night, 1966 endete »Revolver« mit den (unerhörten!) Klängen von Tomorrow Never Knows. In nur zwei Jahren hatte sich eine Art kopernikanische Wende vollzogen, und alle waren quasi live dabei: Die Beatles standen immer an der Spitze der Hitparaden.

Wer ein aufmerksames Publikum hat, der kann es sich auch erlauben, Geschichten zu erfinden: Der Rock war vierzig Jahre lang die entscheidende Musikrichtung, weil die Songwriter Storytelling betrieben; Songs waren meistens abgeschlossene Erzählungen. Leute wie Lou Reed oder Tom Waits erzählten – häufig in der dritten Person – aus dem Leben von Figuren mit Vor- und Nachnamen, von Typen wie Waldo Jeffers oder Susan Michelson. Heute macht es die Geschwindigkeit, mit der Musik konsumiert wird, unmöglich, einen Text tiefergestaffelt zu organisieren und eine strukturierte Geschichte zu erzählen, die sich von Vierzeiler zu Vierzeiler immer weiter entfaltet. Jede Strophe oder sogar jede Verszeile muss für sich selbst stehen können, die erste Person regiert unangefochten, und meistens wird der Mond angeheult, wenn man nicht im abgegriffensten Softcore versinkt.

Deshalb läuft jede Text-Anthologie eines Singer-Songwriters heute Gefahr, von vornherein anachronistisch zu wirken, wie ein nostalgisches Manöver, das allerhöchstens bei denen Erinnerungen wachruft, die sich regelmäßig anhören, wie Paul Simon Robert Frost zitiert, wie Bono sich von Paul Celan inspirieren lässt oder wie Michael Stipe in einem Lied (99) die Verszeile unterbringt: »Steady repetition is a compulsion mutually reinforced« [›Ständige Wiederholung ist eine wechselseitig verstärkte Zwangshandlung‹]. Ich habe vielleicht nicht »von einer drei Minuten langen Platte« mehr gelernt »als in der ganzen Schulzeit«, wie Springsteen in No Surrender singt [vgl. hier S. 470 f.], doch ich würde eine fürstliche Summe für ein Zimmer im Turm der Lieder bezahlen, um die Geheimnisse von Leonard Cohen und Hank Williams ausspionieren zu können.

Mehr als sechzig Jahre sind vergangen, seit Chuck Berry am 16. April 1956 zum ersten Mal ins Mikrofon sang: »Roll over Beethoven, and tell Tchaikovsky the news«. Obwohl auch die Trennung zwischen anspruchsvoller Musik und Musik für die Massen oder auch E- und U-Musik nie so ganz aus der Mode gekommen ist – man spricht eher ungern in denselben Tönen von Ray Charles wie von Sibelius –, hat diese Unterscheidung heutzutage nicht mehr viel Sinn. Wir Kinder des Rock ’n’ Roll wissen, dass im vergangenen Jahrhundert Elvis Presley und The Velvet Underground eine wichtigere Rolle gespielt haben als Alban Berg und Karlheinz Stockhausen. Wir wissen auch, dass die Texte einiger Lieder mit Recht in das Pantheon der Literatur aufgenommen werden müssten, auch wenn die Welt noch immer voller Menschen ist, die sich aufgeregt haben, als die Schwedische Akademie den Literaturnobelpreis an Bob Dylan verliehen hat.

Ist also Dylans Like a Rolling Stone ein Gedicht? Auf diese Frage gab Bob Dylan einmal die folgende Antwort: »Dichter […] sterben pleite. Oder ertrinken in Seen.« Es stimmt jedoch auch, dass Robert Allen Zimmerman sich als junger Mann den Namen eines Dichters geliehen hat, nämlich den von Dylan Thomas. Wo genau liegt denn jetzt aber die Wahrheit? Versuchen wir, für etwas Klarheit zu sorgen, und einigen uns darauf, dass Like a Rolling Stone ein Lied ist. Die Tatsache, dass seinem Autor der Literaturnobelpreis verliehen wurde, unterstreicht eigentlich nur das, was so oder so auf der Hand liegt: Der Text eines Lieds ist kein Gedicht, sondern eine eigene literarische Gattung. Gehört Hamlet in die Literaturgeschichte? Und Warten auf Godot? Eindeutig ja, auch wenn es sich bei den Texten um Dramen handelt, die eigentlich nicht still gelesen, sondern im Theater gesehen und gehört werden sollten. Die schöpferische Entwicklung und Der zweite Weltkrieg sind brillante Beiträge von Henri Bergson bzw. Winston Churchill zur Philosophie und Geschichtsschreibung. Doch niemand hat sich damals aufgeregt, als Bergson und Churchill der Literaturnobelpreis verliehen wurde, eben weil Philosophie und Geschichtsschreibung als literarische Gattungen anerkannt sind.

Von 121 Literaturnobelpreisen wurden drei an Historiker verliehen, elf an Dramatiker, vier an Philosophen und wie gesagt einer an einen Singer-Songwriter. Das macht recht solide sechzehn Prozent. In diese Gruppe fallen Namen wie Shaw und Sartre, Mommsen und Beckett, Pirandello und Bertrand Russell. Und eben Bob Dylan.

Soweit ich weiß, hat kein einziger halbwegs anständiger Singer-Songwriter jemals den Text eines seiner Lieder einem Gedicht gleichgestellt. Und das ist auch richtig so. Lieder sind KEINE Gedichte. Zumindest vielleicht.

Ich bewege mich auf dünnem Eis, ich weiß. Und auch Springsteen weiß das nur zu gut, wenn er sagt: »Über Musik zu reden ist wie über Sex zu reden. Kann man es beschreiben? Soll man es überhaupt?« Und dennoch: Was genau ist ein Gedicht eigentlich? Etymologisch betrachtet kommt »Poesie« vom lateinischen poesis. Das ist wiederum vom griechischen poiesis abgeleitet, dem Substantiv zum Verb poiein, das seinerseits ›hervorbringen‹, ›(er)schaffen‹ bedeutet. Wer sich in entsprechenden Lexika umschaut, findet also schnell heraus, dass ein Gedicht, rein formal betrachtet, nichts anderes ist als eine sprachliche Komposition in Versen (und damit im Grunde dasselbe wie der Text eines Lieds). Der italienische Gelehrte Benedetto Croce definierte es als »kosmische Intuition«, als Ausdruck eines individuellen Empfindens, das universelle Werte widerspiegelt und in dem jeder Mensch sich wiedererkennen kann. In diesem Sinn ist ein Gedicht ein ebenso seltenes wie plötzliches Ereignis, und es ist die Aufgabe des Literaturwissenschaftlers und Kritikers, diese Augenblicke ausfindig zu machen, auch innerhalb eines einzelnen Werkes.

Wir wissen, dass auch Homer hier und da ein wenig gepennt hat. Selbst in Dantes Göttlicher Komödie gibt es Verse, die, aus ihrem Kontext herausgelöst, mit Benedetto Croce als unpoetisch bezeichnet werden könnten. Im XVI. Gesang der Hölle, um ein Beispiel zu nennen, machen sich Dante und Vergil daran, den achten Höllenkreis zu betreten:

Io avea una corda intorno cinta,

e con essa pensai alcuna volta

prender la lonza a la pelle dipinta.

 

Poscia ch’io ebbi tutta da me sciolta,

sì come ’l duca m’avea comandato,

porsila a lui aggrappata e ravvolta.

[Ich hatte noch eine Kordel umgeschnürt, mit der ich früher die Pantherkatze mit dem gesprenkelten Fell zu fangen dachte. / Mein Führer erbat sie sich von mir. Ich machte sie ganz los, legte sie zu einem Strang zusammen und reichte sie ihm hin.]

Allein für sich genommen zeichnen sich diese beiden Terzinen, die nur dazu dienen, einen Szenenwechsel vorzubereiten, nicht gerade durch ihren poetischen Glanz aus. Falls unser Bedürfnis, den Anstand zu wahren, es uns gestattet, könnten wir spaßeshalber den beiden Dreizeilern Dantes zwei Vierzeiler aus einem Lied Bob Dylans gegenüberstellen, in dem eine Schlinge, mehr noch als ein einfaches Seil, eine zentrale Rolle spielt (auch wenn in Wahrheit im Text die konkrete Schlinge nur in ihrer Funktion erwähnt wird):

Well, there was this movie I seen one time

About a man riding ’cross the desert and it starred Gregory Peck

He was shot down by a hungry kid trying to make a name for himself

The townspeople wanted to crush that kid down and string him up by the neck

 

Well,...

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