ZUM GELEIT
Werke, die man schreibt und die man tut,
kann man erst lange nach ihrer Vollendung korrigieren.
Jean Paul: Bemerkungen über uns närrische Menschen, 1797
Die Böhsen Onkelz sind zurück. Obwohl sie sich selbst schon mit Songs und in diversen Interviews von ihren Fans verabschiedet hatten, die Auflösung der Band 2005 durchaus konfliktträchtig und nicht einvernehmlich stattfand, alle vier längst mehr oder weniger erfolgreiche Solo-Projekte am Start hatten, verkündeten sie im Februar 2014 mysteriös zunächst auf ihrer Homepage und via YouTube „Nichts ist für die Ewigkeit“ und, als die Gerüchte hoch genug gekocht waren: „Wir gehen zurück auf Los! Abschied wird Aufbruch! Wir hauchen den Onkelz 2014 wieder Leben ein!“ In einer strategisch perfekten Kampagne wurde zunächst ein einziges Comeback-Konzert für den 20. Juni angekündigt, als das binnen einer Stunde ausverkauft war, ein zweites für den Tag darauf, als auch das ebenso schnell ausverkauft war und die Tickets bereits (illegal) für bis zu 1.000 Euro gehandelt wurden, weitere Auftritte in naher Zukunft. Wenn nun auch noch erwartungsgemäß neue Tonträger folgen (eine Aufrüstung des Merchandise-Angebots ist bereits erfolgt), dürfte klar sein: Die Böhsen Onkelz werden 2014 und vermutlich auch 2015 die erfolgreichste deutsche Band sein, weit vor ihren „Erzrivalen“ Tote Hosen und die Ärzte und allen anderen. Und die Echo-Preisjury wird dann wählen dürfen, ob sie den ersten Preis an Frei.Wild oder die Böhsen Onkelz vergibt … Die Zeiten, in denen man als Onkelz-Fan „nur wenige Freunde“ hatte und die Band sich nichts sehnlicher wünschte, als wenigstens in ihrem Heimatsender HR3 gespielt zu werden, sind definitiv vorbei.
Zum ersten Mal bewusst wahrgenommen habe ich die Böhsen Onkelz Ende der 80er Jahre. Ich recherchierte gerade mit gemeinsam Eberhard Seidel für unsere Buchreportage „Krieg in den Städten. Jugendgangs in Deutschland“ (Rotbuch 1991, neu aufgelegt im Archiv der Jugendkulturen Verlag 2012). Dabei fiel – vor allem bei den vielen Gesprächen und Interviews mit Skinheads – immer wieder ihr Name: Die Böhsen Onkelz schienen eine sehr wichtige Rolle für die Skins jener Jahre zu spielen, überraschenderweise nicht nur für die der rechten Fraktion, sondern auch für viele explizit antifaschistisch eingestellte und engagierte Kurzhaarige. Bis dahin wusste ich zugegebenermaßen nicht viel über diese Band; in den Medien spielte sie noch keine große Rolle und sie hatte einen üblen Ruf als Schläger- und Nazi-Band. Man hörte sie einfach nicht – zumindest nicht als subkultureller Linker, wenn man wie ich mit der Antifa- und Anti-AKW-Bewegung sozialisiert worden war und unter anderem wegen der lebendigen Punk- und Hausbesetzer-Szene 1980 aus dem Ruhrgebiet nach Berlin „ausgewandert“ war.
Ohne Skinheads gebe es keinen Rassismus und keine Gewalt in Deutschland.
Dann fiel die Berliner Mauer – und alles wurde anders. Der Dicke versprach den gelernten DDR-„Mitbürgern“ ein Paradies auf Erden, wenn sie nur bereit wären, heim ins Reich zu kommen. Doch statt blühender Landschaften kamen Massenarbeitslosigkeit, Chaos, Korruption und aus dem Westen mit „Buschzulage“ weggelobte Wessis, die nun im Osten den Chef markieren durften. „Man hat Euch wieder mal belogen / Doch was könnt Ihr schon verlangen / Es waren Worte der Freiheit / Auf den Zungen von Schlangen.“ Die Rebellion der Ostdeutschen richtete sich nun allerdings nicht mehr gegen die (neuen) Mächtigen, die sie sich schließlich mehrheitlich selbst herbeigesehnt und -gewählt hatten, sondern gegen noch Schwächere. „Ihr sagt, es geht Euch schlecht / Und die andren sind dran schuld.“ (Böhse Onkelz: Worte der Freiheit, 1993) Hoyerswerda, Rostock-Lichtenhagen, Eberswalde und viele andere Orte wurden zum weltweiten Symbol des hässlichen Deutschen, des Ausbruchs des gewalttätigen (ost)deutschen Spießertums gegen alles, was ihm „fremd“ war: Linke, Alternative, vor allem „Ausländer“. Ganz vorne an der rassistischen Front, als Einheizer und Richtungsweiser für die diffuse Wut, marschierten die etablierte Politik und die großen Medien fleißig mit: „Asylantenflut“, „Ausländerkriminalität“ … Doch als die ersten Familienhäuser entflammten, Kinder verbrannten, Tote internationale Proteste hervorriefen, da wollte es niemand gewesen sein. Neue Sündenböcke mussten her. Nicht Familienväter, Lehrer, Polizisten hatten die Pogrome beklatscht, begangen, ignoriert, nicht Innenminister und Chefredakteure die Opfergruppen dem Mob als Zielscheiben offeriert, sondern „die Skinheads“ waren es. Ohne Skinheads gebe es keinen Rassismus und keine Gewalt in Deutschland, verkündeten Politiker plötzlich, die noch wenige Wochen und Monate zuvor von „Ausländerschwemmen“ und „an den Kragen packen und weg damit …“ schwadronierten. Und wer heizte „die Skinheads“ dermaßen auf? Richtig: nicht etwa die tagtäglichen Schlag-Zeilen der auflagenstärksten Medien und verantwortlichen Politiker, sondern „der Rechtsrock“. Und da vor allem eine einzige Band (die einzige, die man zu der Zeit wohl kannte): Böhse Onkelz. Zehn Jahre nach ihrer Gründung erlebte die bis dahin allenfalls unter ein paar zehntausend Punks, Skinheads, Hooligans und Hardrockern bekannte Band plötzlich ihr Coming-Out in der Mitte der Gesellschaft.
Und wurde damit zum Politikum. Ob sie es wollte oder nicht. Die Mehrheitsgesellschaft brauchte dringend jemanden, auf den sie ihren Teil der Verantwortung an den Missständen abschieben konnte. Da kamen jugendliche Subkulturen und Bands gerade recht. Die können sich in der Regel sowieso nicht wehren.
Es ärgert mich wahnsinnig, wenn nicht nur BILD-Zeitungsleser und andere Volltrottel auf diese primitiven Strategien hereinfallen und Sündenböcke für ihr eigenes Unvermögen oder die Fehler der Mehrheitsgesellschaft suchen, sondern auch ansonsten kritische, gebildete, linksorientierte Menschen erst reden, dann denken (oder auch nicht). Und wenn mein Ärger größer wird und lange anhält, schlage ich bisweilen mit meinen bescheidenen journalistischen Mitteln zurück und schreibe ein Buch. Das hilft nicht nur mir, meinen Ärger gewaltfrei abzubauen, sondern vielleicht erreicht es ja sogar einige dieser Menschen, die noch guten Willens sind, selbst zu denken und Haltungen in Frage zu stellen, wenn sie einen kleinen Anschub dazu bekommen, und Vorurteile werden abgebaut. Denn letztlich bin ich ein sehr optimistischer Mensch und glaube an die positive Kraft von Bildung und dass Medien Menschen auch positiv verändern können. Das gilt neben der Musik vor allem für Bücher, dieses intimste, nachhaltigste Medium. Jeder leidenschaftliche Leser erinnert sich mit Sicherheit an Bücher, die ihn tief beeindruckt und geprägt haben. Nicht nur Karl-May-Fans wie ich. Jedenfalls erschien so 1993 nach etwa zweijähriger Recherche das Buch „Skinheads“ (C. H. Beck). Gar nicht in erster Linie, um die Subkultur der Skinheads zu rehabilitieren (obwohl es unter diesen, wie ich aus meinem eigenen Freundes- und Bekanntenkreis und als regelmäßiger Punk- und Ska-Konzertgänger wusste, viele gab, die alles andere als rechts und rassistisch waren), sondern weil ich finde, man darf es keiner Gesellschaft, die den Titel „Demokratie“ für sich in Anspruch nimmt, durchgehen lassen, ihr rassistisches, Gewalt verherrlichendes und autoritäres Potential zu ignorieren, wegzudefinieren, einfach auf Minderheiten abzuschieben – weil es sonst bald keine Gesellschaft mehr gibt, die diesen Titel verdient.
1993 erlebte ich auch die Böhsen Onkelz zum ersten Mal live. Gemeinsam mit den Dimple Minds und mehreren anderen Bands in der Bremer Stadthalle beim Festival „Mensch?! Rock gegen Rechts“. Von da aus ging es gleich weiter: nach Österreich. Der bekannte linke österreichische Autor, Musiker und Songpoet Ostbahn-Kurti hatte die Onkelz eingeladen, als Headliner bei einer Tour unter dem Motto „Rock gegen Gewalt“ aufzutreten. Und ich sollte bei den geplanten Festivals als deutscher Autor gleich etwas zur aktuellen Situation im Land der Piefkes erzählen … Eine interessante Erfahrung. Ich konnte so nicht nur die Onkelz ein wenig „hinter den Kulissen“ erleben (zu einer Zeit, in der sie – höflich formuliert – nicht gut drauf waren), sondern auch Bombendrohungen, Medienkampagnen und Tausende von Fans. Ich erwärmte mich für die Idee, über diese ein Buch zu schreiben.
Nach Deutschland zurückgekehrt, bot ich das Thema gleich mehreren Verlagen an. Die meisten winkten sofort ab: zu heikel. Zu uninteressant. Nur, wenn das Hauptthema des Buches „Der Neonazi-Untergrund“ sein würde. Auf diesen fahrenden Zug zu springen, der bereits mit Dutzenden plötzlich geborener...