EIN WUNDERKIND
Hineingeboren in eine schreckliche Welt – die ersten Jahre eines ungleichen Brüderpaars
Ein Kindheitsparadies sieht anders aus. Der kleine Mensch, der einmal mein Vater werden sollte, war am Tage seiner Geburt in einem wahren Chaos angekommen. Am 6. Februar 1918 war das letzte Jahr des Ersten Weltkriegs angebrochen, längst herrschte Not und Mangel in Deutschland. Aber das allein war es nicht. Der kleine Lothar-Günther hatte eine schwere Hypothek, schwerer als viele andere Kinder, und das waren seine Eltern.
Meine Großmutter Charlotte Buchheim muss schon damals eine schwierige und exzentrische Persönlichkeit gewesen sein. Geboren 1891, war die Tochter von Oskar Buchheim, dem im thüringischen Gera das Hotel »Preußischer Hof« gehörte, in einem Mädchenpensionat im schweizerischen Neuchâtel aufgewachsen. In der Schule lagen ihr Fremdsprachen sehr, sie spielte Klavier und Laute, und ihre künstlerische Begabung war schon damals unbestritten. Als sie die Schule abgeschlossen hatte, zog die Familie 1910 in das vornehme Kaßbergviertel von Chemnitz. Charlotte wollte Künstlerin werden. Der Besuch einer Kunstakademie war damals, 1910, Frauen noch verwehrt. So nahm sie privaten Malunterricht bei dem Dresdener Kunstprofessor Ferdinand Dorsch und machte viele Studien in der freien Natur. Später folgten weitere Kurse bei Dorschs Kollegen Johannes Ufer, der sie in die Technik des Aquarellierens einführte. Beide Künstler waren wiederum Schüler von Gotthardt Kuehl, der in den Siebziger- und Achtzigerjahren des 19. Jahrhunderts in Paris mit den französischen Impressionisten in Berührung gekommen war und fortan einen Malstil pflegte, der sich wohl am ehesten als »impressionistischer Realismus« beschreiben lässt. Auch Charlotte Buchheims Stil kommt diesem Begriff sehr nahe. Sie malte zahlreiche Landschaftsbilder – Brücken, Schlösser, Sandgruben werden ihre Themen, aber vor allem Porträts lagen ihr sehr.
Ein Bild aus ihren Jugendjahren zeigt sie als properes, wohlgeratenes Mädchen mit rundem Gesicht und offenen, neugierigen Augen; ihr wacher Blick ist selbstbewusst, die Lippen umspielt ein leicht belustigtes Lächeln, und man kann sich vorstellen, dass sie begierig war auf das Leben. Von ihrer später ausbrechenden psychischen Erkrankung und der geistigen Umnachtung, die ihre letzten Lebensjahre bestimmen würde, ist noch nichts zu ahnen. An die Konventionen ihrer Zeit scheint sie sich weniger gehalten zu haben; mag sein, dass die Kriegsjahre mit dazu beitrugen.
Im Frühling 1917 wird sie schwanger. Der Vater, ein Staatsbeamter namens Kurt Böhme, steht nicht zu dem Kind. Hochschwanger fährt Charlotte im Februar 1918 mit dem Zug und allein zur Entbindung nach Weimar, wo sie meinen Vater zur Welt bringt.
Aufwachsen wird Lothar-Günther, den zu Hause alle nur Günther nennen, die ersten Jahre jedoch in Chemnitz, im Haus von Charlottes Eltern. Zwei Jahre später bekommt sie erneut ein Kind. Der Gärtner der Familie sei es gewesen, heißt es später, ein gewisser Herr Willecke aus Berlin-Pankow. Der liebte wohl die einfacheren Vergnügungen. Denn in Pankow kommt auch der zweite Junge Charlottes zur Welt. Die Wehen setzen ein, als Charlotte zusammen mit ihrem Freund dort einem Boxkampf beiwohnt. Der war offenbar so spannend und aufregend, dass prompt der Geburtsvorgang einsetzte. Charlotte wurde umgehend ins Spital gebracht, dort kam das Kind auf die Welt. Der Junge erhält den Namen Klaus, ursprünglich vornehm als »Claus« geschrieben. Der ältere Bruder Lothar-Günther wird für ihn eine Art Ersatzvater, denn beide leiblichen Väter bekennen sich nicht zu ihren Söhnen und zahlen keinerlei Alimente. Charlotte musste alleine sehen, wie sie über die Runden kam. Das wurde zunehmend schwieriger, denn die Buchheims verarmten nach dem Tod des Patriarchen zusehends.
Als Lothar-Günther sechs Jahre alt ist, entsteht ein hübsches Porträt von dem Jungen. Auch Klaus wird von der Mutter gezeichnet, aber der eigentliche Prinz ihres Herzens ist der Ältere. Charlotte nimmt Günther mit zu Malausflügen ins Chemnitzer Umland, bringt ihm schon früh Malen und Zeichnen bei. Er ist ihr Lieblingssohn, Klaus der unerwünschte Bastard. Das geht so weit, dass beim Essen immer Günther die besseren Stücke bekommt und der Kleinere den Rest. Wenn es die berühmten »gefüllten Knödel« gab, so wurden die für Klaus mit den Überbleibseln der eigentlichen Füllung oval geformt, damit man sie sofort wiedererkannte.
1924 lernt Charlotte Buchheim dann Paul Heinrichs kennen, den Besitzer einer Eisengießerei in Rochlitz. Die beiden heiraten, und die neue Familie zieht nach Rochlitz um. Im Zuge der Weltwirtschaftskrise geht es jedoch mit der Gießerei bergab, Heinrichs muss Konkurs anmelden, und der geschäftliche Niedergang zerstört die Familie. 1929 verlässt Paul Frau und Kinder. Im Jahr darauf kehrt Charlotte nach Chemnitz zurück. Sie lebt fortan im elterlichen Haus, zusammen mit ihrer Mutter Hedwig, die dort eine ganze Reihe von Zimmern vermieten muss, um sich finanziell über Wasser zu halten. Günther und Klaus kommen vorübergehend gar ins Waisenhaus, wo man ihnen zum Entsetzen von Günther gleich nach der Ankunft eine Glatze schneidet – eine Schmach, die er nie so recht verwindet. Später spricht er von dieser Anstalt nur als dem »Schülerzuchthaus«.
Zu Hause erlebten die beiden, zehn und zwölf Jahre alt, eine kleine Hölle. Ständig gab es Streitereien zwischen Mutter und Großmutter, und häufig kam es zwischen beiden zu tätlichen Auseinandersetzungen. Oft endeten diese erst, als die Polizei kam.
Beide Frauen waren mit sich und ihrer Umwelt völlig überfordert, beide hatten stark depressive Neigungen, waren psychisch sehr angeschlagen. Beinahe wöchentlich stand der Gerichtsvollzieher vor der Tür, um etwas zu pfänden, immer wieder drohte der Rauswurf aus den Wohnungen – vielleicht mit ein Grund, warum mein Vater zeitlebens so erpicht darauf war, Reichtümer anzuhäufen und dennoch lebte wie ein Geizhals, der sich nur das Nötigste gönnte.
Zu den wenigen schönen Momenten in diesem gescheiterten Familienleben zählen für meinen Vater gewiss das gemeinsame Malen und Zeichnen mit seiner Mutter. Sie malen Landschaften in freier Natur, wobei Lothar-Günther sich immer mehr dem expressiven Stil zuzuneigen beginnt. Von seiner Mutter, erzählt er später, habe er das »Gegenwartsprinzip« gelernt: »Das Gute erkennen, während es entsteht.«
Er malt und zeichnet das Arbeitsleben in der Gießerei seines Stiefvaters. Und es gibt Bilder von der Mutter wie vom Sohn, die den Abbruch der Hartmann’schen Maschinenfabrik 1936 in Chemnitz zum Thema haben. Was bei der Mutter ein beinahe zartes Aquarell ergibt, wird beim Sohn zur monumentalen Klage über den Niedergang einer Industriestadt.
Über diese Jahre schreibt er später im Vorwort eines kleinen Katalogs zu einer Ausstellung der Werke seiner Mutter im Jahr 2004: »In meiner Jugend gab es keine Einengungen und Abgrenzungen: Wir, die Mutter, die Großmutter, Bruder Klaus und ich, lebten zwar auf dem noblen Chemnitzer Kaßberg und gehörten sogar dem Besitzbürgertum an, aber meine stärksten Eindrücke sind die Straßenschlachten in der Stadt … Auch Mutter war eine rechte Renegatin. Sie malte nicht nur Stillleben, sondern sah sich nach Modellen schon mal unter den Arbeitslosen und irgendwelchen heruntergekommenen Outcasts um und brachte sie in unser Haus … So konfus Mama sich auch manchmal anstellen konnte – wenn sie auf ihrem kleinen Dreibein vor dem Motiv hockte, Palette in der linken, das Pinselbündel in der rechten Hand, war sie immer ganz Konzentration und Disziplin – ein anderer Mensch.«
Schließlich erhalten Günther und Klaus ein Stipendium für das Staatsinternat Schneeberg – einerseits ein Glücksfall, weil die Verhältnisse zu Hause nicht mehr tragbar waren. Andererseits fand mein Vater selbst die Internatszeit furchtbar und entsetzlich: »Dort musste ich immer nach vorne, wenn eine Rede gehalten werden sollte. Eine schlimme Zeit: Buchheim war immer dran.« Und im »Boot« schildert er die schrecklichen Panikattacken seiner späten Kinderjahre mit seiner überbordenden Fantasie: »Aber das war alles nichts gegen die Angst, die mich in den endlos nachhallenden Internatsfluren befiel, sonntags, wenn die meisten nach Hause gefahren waren – kaum noch ein Mensch in dem Riesenbau. Da waren sie hinter mir her mit Messern in der Hand, da krümmten sich Finger zum Griff von hinten an die Gurgel!« Man kann sich vorstellen, wie der sensible Junge unter dieser »qualvollen Internatszeit« gelitten hat, wenn man solche Passagen im späteren Roman liest: »Mitten in der Nacht fuhr ich aus dem Schlaf hoch. Zwischen den Schenkeln war’s klebrig. Ich dachte, ich müsste verbluten. Kein Licht. Da lag ich – entsetzensstarr, gelähmt von Angst, dass ich verloren wäre, wenn ich mich nur rührte.«
Doch Günther erweist sich auch als tatkräftig, das muss man ihm lassen: Er zeichnet Bilder und bastelt Ketten, beides verkauft er für ein paar Pfennige, um etwas zum Familienunterhalt beizutragen. Er legt auch Geld für Linolschnittmesser beiseite, mit denen er dann Linolschnitte erstellt, die er ebenfalls verkauft. Und er beginnt zu schreiben: Etwa Bastelanleitungen und kleine Geschichten für die Kinderbeilage der Leipziger Familienzeitschrift Beyers für Alle. Die Bekanntschaft mit den dortigen Redakteurinnen und Zeichnern soll ihm später noch einmal sehr nützlich...