Ein Weg zwischen den Extremen
Siddhartha Gautama muss damals, vor etwa 2500 Jahren, als Prinz in einem Königreich im heutigen indisch-nepalischen Grenzgebiet unter all der materiellen Überfülle am Hof seines Vaters gelitten haben. Das Zuviel wurde ihm wohl selber zu viel … Er besaß alles, was man sich nur wünschen konnte, und war trotzdem unzufrieden. „Das kann doch nicht alles im Leben sein“, zweifelte er. Was für uns vermutlich nach einem Sechser im Lotto klingt, war für ihn ein goldener Käfig. Er fragte sich immer wieder, warum es überhaupt Leiden auf der Welt gibt. Warum ist der Mensch ständig unzufrieden und auf der Suche nach einem besseren Leben? Was sind die Ursachen für sein Unglück und worum geht es wirklich im Leben?
Schließlich, so erzählt die Legende, verließ er mit 30 Jahren den Palast, seine Familie und das ganze luxuriöse Gepränge, um sich in Abgeschiedenheit und Askese zu sammeln. „Vielleicht ist das ja die Lösung und die Antwort auf die Frage nach einem glücklichen und erfüllten Leben“, dachte er. Siddhartha wanderte durch das Tal des Ganges, fastete und übte sich in strenger Askese. Doch nach einigen Jahren intensiver Enthaltsamkeit und Isolation stellte er fest, dass auch diese Art zu leben nicht das Richtige war. Ein Leben in Abgeschiedenheit und Einsamkeit macht den Menschen ebenso unglücklich. Wir sind soziale Wesen und wollen aktiv am Leben teilhaben, dabei sein und unser Glück mit anderen teilen, sonst ist jede Freude und Anstrengung irgendwie sinnlos. Sind unsere Grundbedürfnisse gedeckt, sehnen wir uns vor allem nach sozialen Beziehungen und gesellschaftlicher Akzeptanz. Wir streben nach Selbstverwirklichung, Liebe und Glück und wollen Leid um jeden Preis vermeiden. Siddhartha Gautama erkannte, dass weder die eine extreme Lebensweise (Luxus und Reichtum) noch die andere (Abgeschiedenheit, Armut und Askese) wirklich Sinn ergibt und nicht zum dauerhaften Glück beiträgt. Deswegen schlug er den Mittleren Weg ein. Aus diesen Überlegungen entsprangen auch die berühmten Vier Edlen Wahrheiten. Die gewonnenen Erkenntnisse über den Weg zu einem wahrhaft glücklichen Leben machten Siddhartha zum Buddha, zum „Erleuchteten“! Endlich hatte er den Weg zum ewigen Glück gefunden. Wie wir wissen, waren Buddhas Erleuchtungsgedanken zu seiner Zeit revolutionär – und sie haben bis heute nichts von ihrer Aktualität eingebüßt.
Erleuchtung to go
Buddha erkannte also, dass wir ständig mit irgendetwas unzufrieden sind. Wir nörgeln herum, und es gibt immer etwas, das uns stört. Es geht bereits im Sandkasten los: Haben wir ein Spielzeug, wollen wir das des anderen Kindes haben. Sind wir Singles, sehnen wir uns nach einem Partner. Leben wir in einer Beziehung, nervt sie uns, haben wir einen Job, meckern wir über den stressigen Arbeitsalltag usw. Oft wissen wir aber gar nicht, was genau es ist, das uns davon abhält, in den Zustand des ewigen Glücks zu gelangen. Entweder sind wir grundlos launisch, fühlen uns schlecht behandelt oder wir sind einfach nur frustriert. Plötzlich und ganz unerwartet überkommt uns dieser pessimistische Gemütszustand. Ständig schwanken wir zwischen Verlangen, Befriedigung, Glücksempfinden und Enttäuschung. Wir suchen nach Lösungen, Wegen, Abwechslung und Zerstreuung. Nichts scheint das gute Gefühl dauerhaft zu binden. Der Glückszustand ist flüchtig, er rinnt uns ständig wie Sand durch die Finger. Das ist eine Tatsache, so Buddha, und somit die erste Erkenntnis (die erste der Vier Edlen Wahrheiten).
Unsere Unzufriedenheit hat immer eine Ursache, sagt Buddha. Und diese ist immer dieselbe: Sie entspringt den drei sogenannten Geistesgiften: Gier, Aggression und Unwissen (zweite Edle Wahrheit). Die Tatsache, dass schöne Dinge, tolle Ereignisse, gute Gefühle und positive Emotionen nicht von Dauer (also vergänglich) sind, ruft Leid in uns hervor. Wir haften an ihnen, verspüren Wut und Enttäuschung, wenn wir sie nicht mehr haben. Wir sind enttäuscht, desillusioniert und blind, weil sie uns nicht das geben, wonach wir dauerhaft streben.
Erkennen wir also die Ursachen für unser derzeitiges Leiden, das heißt, können wir die Gifte – etwa Eifersucht, Machtstreben, unsere ständigen Vergleiche mit anderen, Misstrauen oder Zweifel – in unserem Leben lokalisieren, ist es uns möglich, diese loszulassen und dadurch die Unzufriedenheit langfristig zu beenden (dritte Edle Wahrheit). Und wie man das am besten anstellt, zeigt einem der Achtfache Pfad, der zusammengefasst die drei Übungen a) Weisheit, b) richtiges Verhalten und c) konzentrierte Meditation beinhaltet (vierte Edle Wahrheit). Dieser Pfad ist der Weg, der aus der ständigen Unzufriedenheit heraus und damit in die Richtung zum dauerhaften Glück führt.
Dabei unterscheidet Buddha zwischen „äußerem“ und „innerem“ Glück. Dem äußeren Glück – dazu zählen etwa besseres Wohnen, bessere Kleidung usw. – misst Buddha weniger großen Wert bei als etwa der geistigen Entwicklung, die er zum inneren Glück zählt. Der größte Luxus kann nichts bringen, wenn uns innerlich etwas fehlt. Das Tolle: Diese geistigen Potenziale stecken in jedem von uns! Sie lassen sich beispielsweise mithilfe von Meditation (wieder)entdecken. Wobei wir Glück allerdings nicht mit Vergnügen oder positivem Erleben verwechseln dürfen, es ist vielmehr ein Zustand frei von jeglicher äußeren Beeinflussung oder positiven Gefühlsregungen. Am besten lässt sich dieser Zustand im Mitgefühl erreichen.
Ich fühle mit dir
Der wichtigste Schlüssel zur geistigen Zufriedenheit ist Empathie oder besser gesagt: Mitgefühl, wie es im Buddhismus heißt. Nicht in Form von Selbstaufgabe, Mitleid oder selbstloser Aufopferung (wir erinnern uns an den von Buddha eingeschlagenen Mittleren Weg), sondern im Sinn der Aufgabe einer übertriebenen Ichbezogenheit. Lassen Sie mich ein Beispiel dazu anführen: Nach Beendigung meines Fulltime-Jobs fiel mir erstmals auf, dass ich – ohne es zu ahnen – die ganze Zeit über ein ziemlich egozentrisches Verhalten an den Tag gelegt hatte. Ich häufte viel Kram bei mir an, vergaß aber immer häufiger, mich bei meinen Freunden zu melden. In dieser Zeit sagte ich Treffen ab, weil ich stattdessen Überstunden machte, und ich besuchte meine Eltern immer seltener, mit der Begründung, ich hätte keine Zeit mehr. Erst durch meine Entrümpelungsaktion wurde mir schlagartig klar, was wirklich zu kurz kam, nämlich meine sozialen Beziehungen.
Buddha lehrt das große Mitgefühl, weil – so seine Erkenntnis – materieller Wohlstand und technischer Fortschritt zwar manches Problem löst, aber neue Probleme schafft. Beziehungen zu anderen jedoch tragen langfristig zur wahren Zufriedenheit bei. Der Gier, Aggression und Verblendung können wir nur entgegenwirken, wenn wir aufhören, nur an uns selbst zu denken und uns so furchtbar wichtig zu nehmen.
INFO: Grundzüge des Buddhismus
Die Vier Edlen Wahrheiten
1. Das Leben ist Leiden.
2. Die Ursachen des Leidens sind Gier, Aggression und Verblendung.
3. Durch Loslassen erlöschen die Ursachen und damit das Leiden.
4. Der Weg zur Aufhebung ist der Achtfache Pfad.
Der Achtfache Pfad
Er besteht aus acht Teilen, die sich wiederum in drei Bereiche gliedern lassen:
1. Weisheit (rechte Sicht, rechte Entschlossenheit)
2. Ethisches Verhalten (rechtes Reden, rechtes Handeln, rechter Lebensunterhalt)
3. Meditation (rechtes Bemühen, rechte Aufmerksamkeit, rechte Konzentration)
„Hilf anderen“, sagt Buddha, „und falls dies nicht möglich ist, füge wenigstens niemandem Schaden zu.“ Im übertragenen Sinn ist damit auch übermäßiger und unüberlegter Konsum gemeint. Wenn ich beginne, mehr Interesse für meine Mitmenschen und meine Umwelt zu entwickeln, werde ich im Alltag automatisch aufmerksamer und darum bemüht sein, nachhaltiger zu leben. Ich werde zum Beispiel nicht mehr grundlos shoppen gehen, wenn ich weiß, dass in einem anderen Teil der Welt Kinderhände mein 5-Euro-T-Shirt nähen. Ich werde auch beim nächsten Einkauf von Lebensmitteln überlegter sein, damit ich nicht zu viel kaufe, um das meiste anschließend in die Mülltonne zu werfen, während woanders Menschen hungern müssen. Mitgefühl geht bei jedem Einzelnen los und schließt am Ende alles und alle mit ein.
Wenn es so einfach ist, warum verdrängen wir diese simple Tatsache und stürzen uns jedes Mal erneut ins Unglück? Sind wir im Inneren doch alle nur Egoisten und am Ende doch nur uns selbst die Nächsten? Weil wir vergesslich sind, meint der Dalai Lama. Wir verschwenden unsere Zeit oft mit unbedeutenden Dingen und lenken uns dabei vom Wesentlichen ab. Wir müssen die Ursachen – die drei Geistesgifte: Anhaften, Zorn und Verblendung – erkennen, diese Bedürfnisse und negativen Gefühle loslassen und dabei stets den Mittleren Weg einschlagen. Deshalb betont der Dalai Lama auch die Konzentration auf geistige Qualitäten. Wir müssen achtsam sein gegenüber uns selbst, unseren Mitmenschen und der Umwelt.
Achtsamkeit und Meditation
Achtsamkeit ist heute fast schon ein Modewort. Nicht ohne Grund. Achtsamkeit hält Einzug in unsere Gesellschaft und wird mittlerweile überall praktiziert: im Sport, in Schulen, in psychologischen Therapien, in Kliniken und bei den Freizeitbeschäftigungen. Wir denken da an die (ursprünglich aus der hinduistischen Tradition stammenden) Yogaübungen, die mittlerweile zum Breitensport avanciert sind, an Tai-Chi, MBSR oder autogenes Training. Achtsamkeit ist jedoch nicht nur eine Methode, sondern auch eine innere Haltung. Mithilfe der...