I
Die Geburt des »Islamischen Staats«
Gerade eben erst scheint der »Islamische Staat« aus dem Dunkel der Geschichte aufgetaucht zu sein. Und schon hat er sich ins Zentrum der Weltpolitik gespielt. Doch es gibt ihn schon länger. Er ist ein Kind des Irakkriegs 2003.
Im August 2007 traf ich erstmals einen seiner Kämpfer im umkämpften Ramadi, im Irak. Rami, ein 27-jähriger, fast schüchterner Student der Geschichte, hatte sich den Terroristen angeschlossen, weil amerikanische GIs seine Mutter bei einer Hausdurchsuchung erschossen hatten. Vor seinen Augen. »Was hätten Sie getan?«, fragte er mich bitter, als er sah, dass ich die Entscheidung trotz seines Leids überhaupt nicht verstand. Es sei leicht, edle Standpunkte über Widerstand und Terrorismus einzunehmen, wenn man selbst in Wohlstand und Frieden lebe. Ob ich schon einmal darüber nachgedacht habe, was in einem Menschen vorgegangen sein müsse, bevor er sich als Selbstmordattentäter in die Luft sprenge. Als ich schweige, fügt er hinzu: »Hört auf, uns zu überfallen und zu demütigen. Haut ab aus unseren Ländern. Dann wird Al Qaida von alleine verschwinden.«
Der Aufstieg von Al Qaida zu einem Faktor im chaotischen irakischen Machtspiel hatte schon vier Jahre zuvor begonnen. 2003. Personifiziert durch den 37-jährigen sunnitischen Jordanier Abu Musab Al Zarkawi. Ursprünglich hatte dieser noch vorgehabt, mit seiner »Partei des Monotheismus und Jihad« das jordanische Königshaus zu stürzen. Doch die US-Invasion im Irak bot plötzlich ganz andere Möglichkeiten. Endlich gegen die Amerikaner zu kämpfen und einen Jihad gegen die Schiiten führen zu können, die er als Verräter des Islam, als »Abtrünnige« ansah. Sie hatten nach dem Sturz Saddam Husseins die uneingeschränkte Macht im Irak übernommen und die früher so einflussreichen Sunniten mit brutalen Methoden aus dem politischen Leben des Irak ausgeschlossen.
Schon kurz nach der US-Invasion begann Zarkawi eine irakische Kampftruppe aufzubauen. Hinzu kam eine kleinere Zahl arabischer Kämpfer, die er zusammen mit Al Qaida über Syrien in den Irak schleuste. Insgesamt verfügte Zarkawi über rund 2000 äußerst effektive Kämpfer. Davon 1000 in der Provinz Anbar. Der Rest kämpfte vor allem in Diyala und in einigen sunnitischen Vierteln Bagdads. Zarkawi profitierte vom Unmut der sunnitischen Bevölkerung. Seine bevorzugten Opfer waren irakische Soldaten, Polizisten und besonders Schiiten. Im August 2003 jagten seine Leute nach US-Angaben die Imam Ali-Moschee in Najaf in die Luft. Eine blutige Anschlagswelle folgte der anderen.
Fast jeder Anschlag im Irak wurde von den US-Besatzern großzügig Zarkawi zugeschrieben. Dessen öffentliche Rolle überstieg zunehmend seine tatsächliche Bedeutung. Dass es neben Al Qaida auch noch einen viel mächtigeren »bürgerlichen Widerstand« gegen die US-Besatzung gab, mit erheblich mehr Kämpfern, wurde systematisch verschwiegen. An der amerikanischen Heimatfront wäre das schwer zu verkaufen gewesen. Die US-Führung brauchte nach dem Sturz Saddam Husseins ein einprägsames diabolisches Feindbild, um die nicht endenden Kämpfe im Irak vor ihren Wählern zu rechtfertigen. Zarkawi schien diese Rolle des omnipräsenten Terroristen nicht zu missfallen.
Weltbekannt wurde er durch die zynische filmische Inszenierung der Enthauptung westlicher Geiseln. 2004 erschien ein Video mit dem Titel »Abu Musab Al Zarkawi schlachtet einen Amerikaner«. Darin wird dem Amerikaner Nicholas Berg der Kopf abgeschnitten. Angeblich als Rache für die »Schandtaten« der USA in Abu Ghraib. Berg und spätere Opfer trugen wie die Abu-Ghraib-Häftlinge orangefarbene Overalls. Anders als bei den aktuellen Enthauptungen unter Al Baghdadi wurde der blutige Hinrichtungsakt ungekürzt gezeigt. Ansonsten erinnert Al Baghdadis öffentlich in Szene gesetzte Brutalität in vielem an Zarkawi.
Im Herbst 2004 trat Zarkawi offiziell Al Qaida bei. Auch das dürfte den Amerikanern gefallen haben. Seine Terrorgruppe erhielt in der Öffentlichkeit den Namen »Al Qaida im Irak« (AQI). Baghdadi saß in dieser Zeit übrigens gerade in amerikanischer Haft. Unterdessen mordete Zarkawi hemmungslos weiter. So brutal, dass sich schließlich Bin Ladens Stellvertreter Ayman Al Zawahiri schriftlich beschwerte, dass bei Zarkawis Selbstmordanschlägen zu viele Zivilisten umkamen. Und mehr Schiiten als Amerikaner. Bin Laden und Zawahiri strebten – anders als Zarkawi – eine Aussöhnung der Sunniten mit den Schiiten an.
Doch Zarkawi ließ sich nicht aufhalten. In keinem Punkt. Überall, wo er auftrat, war er wegen seiner Brutalität und der Strenge seiner AQI-Shariah umstritten. Auch wenn er diese Shariah nur in wenigen Orten durchsetzen konnte. Dann allerdings galten rigide, puritanische Regeln. Rauchen, Trinken und Musik waren verboten.
Zarkawis gnadenlose Methoden glichen in vielem denen der frühen Wahhabiten vor über 200 Jahren auf der Arabischen Halbinsel. Diese wiederum erinnerten an die Charidschiten, die Mörder Alis, des Schwiegersohns des Propheten Mohammed vor über 1300 Jahren. Jeder, der nur einen Millimeter von ihren engen Glaubensvorstellungen abwich, wurde erbarmungslos und blutig verfolgt. Ob Frauen, Kinder oder Greise. Extremisten des 20. Jahrhunderts werden noch heute als moderne Charidschiten bezeichnet.
Im Juni 2006 gelang es den US-Streitkräften, Zarkawi bei Baqubah durch einen gezielten Luftschlag auszuschalten. Mit zwei 500-Pfund-Bomben. Die USA brauchten im Irak dringend einen Erfolg.
Der Kampf von Al Qaida ging jedoch weiter. Nach der Integration mehrerer kleiner Widerstandsgruppen rief »Al Qaida im Irak« im Oktober 2006 den »Islamischen Staat im Irak« (ISI) aus. Neuer Führer wurde der Ägypter Abu Ayyub Al Masri. Erster geistlicher Emir wurde der Iraker Abu Abdullah Al Rashid Al Baghdadi – nicht zu verwechseln mit dem augenblicklichen »Kalifen« Abu Bakr Al Baghdadi. Die tatsächliche Existenz und Bedeutung dieses geistlichen Emirs sind bis heute umstritten. Noch immer lag die Zahl der ISI-Kämpfer bei etwa 2000. Aus politischen Gründen galten jedoch weiterhin fast alle Anschläge auch anderer Widerstandsgruppen als Aktionen des ISI/Al Qaida.
Die US-Führung war inzwischen durch den wachsenden Widerstand im Irak militärisch und politisch erheblich angeschlagen. Und kriegsmüde. Weit und breit waren nirgendwo Massenvernichtungswaffen zu finden, derentwegen man angeblich in den Krieg gezogen war. Stattdessen stieg die Zahl gefallener GIs unablässig. Die USA änderten daher ihre Strategie. Auch im Irak kommt man mit einem Sack voll Geld weiter als mit Panzerarmeen. Mit abenteuerlich hohen Millionenzahlungen an die ausgezehrten sunnitischen Stämme erreichten die USA schließlich ein militärisches Stillhalteabkommen. Man gründete »Awakening Councils« und schuf schlagkräftige sunnitische Milizen, die, in Abgrenzung zu den ausländischen Kämpfern des ISI, »Söhne des Irak« genannt wurden.
Motiviert durch die Zusage, später an der Macht und am Wohlstand des Irak beteiligt zu werden, vertrieben die sunnitischen Stämme den zunehmend unbeliebten ISI aus seinen Hochburgen. Zwar blieben kleinere ISI-Zellen erhalten, vor allem in Bagdad, Diyala und in den großen Städten Anbars, Falludscha und Ramadi. Doch der ISI befand sich in einer existenziellen Krise. Auch den »bürgerlichen Widerstand« zwangen die sunnitischen Stämme zu militärischer Zurückhaltung. Dessen Mitglieder hatten, anders als die ISI-Kämpfer, bürgerliche Berufe, in die sie sich zurückbegeben konnten.
Als Gegenleistung zogen sich die US-Streitkräfte in ihre Stützpunkte zurück. Dort gruben sie sich wie Maulwürfe ein. Nur noch selten sah man GIs auf irakischen Straßen. Die amerikanische Darstellung, man habe die Iraker durch Bushs Truppenverstärkungen, den sogenannten »Surge«, in die Knie gezwungen, ist eine PR-Legende. Ich war in jener Zeit bei den gemäßigten Widerstandskämpfern der Provinz Anbar. Und wenig später in Bagdad. Die USA haben den Irakkrieg schlicht und ergreifend verloren. Aber mithilfe ihrer Dollargeschenke konnten sie wenigstens ihr Gesicht wahren und bei ihrem Abzug Ende 2011 so tun, als hätten sie den Krieg mit Ach und Krach doch noch gewonnen.
Allerdings hielten weder die amerikanische noch die irakische Regierung ihre großen Versprechen gegenüber den Sunniten. Sunniten und vor allem Mitglieder der früher regierenden Baath-Partei wurden faktisch weiter vom politischen Leben des Irak ausgeschlossen. Nach der Entmachtung des ISI erhielten sie auch kein Geld mehr. Viele junge Sunniten wurden wieder arbeitslos. Statt belohnt zu werden, wurden die Sunniten unterdrückt und durch Todesmilizen gejagt. Iraks schiitischer Ministerpräsident Nuri Al Maliki errichtete ein antisunnitisches Terrorregime. Aus Rache für die harten Jahre unter Saddam. Der Westen wusste das alles. Aber es interessierte ihn nicht.
Nachdem die ISI-Chefs Al Masri und der erste Al Baghdadi im April 2010 durch US-Luftschläge getötet worden waren, übernahm der 38-jährige promovierte Abu Bakr Al Baghdadi im Mai 2010 die Führung der ausgedünnten ISI-Zellen. Sie unterstanden noch immer Al Qaida.
2011, während des sogenannten Arabischen Frühlings, schlossen sich verarmte, ehemalige Saddam-Kommandeure dem ISI an. Auch sie waren 2003 aus den irakischen...