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DIE REISE BEGINNT
Wenn es irgendeine Religion gibt,
die sich mit den Erfordernissen der
modernen Wissenschaft vereinbaren
lässt, dann ist es der Buddhismus.
Albert Einstein
Wer als Buddhist ausgebildet und geschult worden ist, sieht den Buddhismus nicht als eine Religion an. Sie oder er betrachtet ihn als eine Art Wissenschaft, eine Methode zur Erforschung unserer Erfahrungen mithilfe von Techniken, die eine bewertungsfreie und unvoreingenommene Untersuchung und Überprüfung unserer Handlungen und Reaktionen ermöglichen. Es ergibt sich dabei folgender Erkenntnisprozess: »Ah, so funktioniert mein Geist. Das muss ich tun, um Glück zu erfahren. Und dies sollte ich unterlassen, um Leid zu vermeiden.«
Der Buddhismus ist in seinem Wesen sehr praktischer Natur. Es geht darum, Dinge zu tun, die der heiteren Gelassenheit, dem Glück, dem Vertrauen und der Zuversicht förderlich sind, und Dinge zu unterlassen, die Sorge, Angst und Hoffnungslosigkeit heraufbeschwören. In der Essenz besteht die buddhistische Praxis nicht so sehr im Bemühen, unser Denken oder Verhalten zu ändern, um ein besserer Mensch zu werden; vielmehr geht es um die Erkenntnis, dass – ganz gleich, was wir über die Umstände denken mögen, die unser Leben bestimmen – wir schon gut, heil, ganz und vollkommen sind. Es geht um die Einsicht in das uns innewohnende Potenzial unseres Geistes. Mit anderen Worten, der Buddhismus befasst sich nicht so sehr damit, dass wir zu Gesundheit und Wohlbefinden gelangen, als vielmehr damit, dass wir zur Erkenntnis kommen, im Hier und Jetzt schon so heil und ganz, so gut, so im Kern gesund und wohlbefindlich zu sein, wie zu sein wir je hoffen können.
Das glauben Sie nicht, oder?
Nun ja, ich habe es lange auch nicht geglaubt.
Ich würde Ihnen zu Anfang gerne ein Geständnis machen, ein Geständnis, das sich aus dem Munde eines Menschen, der als wiedergeborener Lama gilt und in früheren Leben alle möglichen wunderbaren Dinge vollbracht haben soll, reichlich seltsam anhören mag: Schon in frühester Kindheit wurde ich von sehr starken Ängsten und Beklemmungszuständen heimgesucht. Sobald ich mich in der Nähe von mir unbekannten Menschen aufhielt, bekam ich Herzrasen und oft auch Schweißausbrüche. Es gab keinen Grund für dieses extreme Unbehagen. Ich lebte in einem wunderschönen Tal und war umgeben von einer liebevollen Familie und Dutzenden von Mönchen, Nonnen und anderen Menschen, die alle zutiefst damit befasst waren zu lernen, wie man inneren Frieden und Glück erweckt. Und doch begleiteten mich Angst und Beklemmung wie ein Schatten.
Als ich wohl so an die sechs Jahre alt war, erlebte ich hierbei zum ersten Mal eine gewisse Linderung. Hauptsächlich von kindlicher Neugier getrieben, machte ich mich damals daran, die das Tal umstehenden Hügel zu erklettern und die Höhlen zu erforschen, in denen Generationen von Dharma-Praktizierenden ihr Leben in Meditation verbracht hatten. Manchmal setzte ich mich in eine hinein und tat so, als ob ich meditierte. Natürlich hatte ich überhaupt keine Ahnung, wie man das macht. Ich saß bloß da und wiederholte ständig im Geiste Om Mani Peme Hung. Das ist ein Mantra (eine bestimmte Kombination von uralten Silben, die häufig wiederholt werden), das fast jeder Tibeter kennt, gleich ob er Buddhist ist oder nicht. Zuweilen rezitierte ich dieses Mantra stundenlang, ohne zu verstehen, was ich da machte. Dennoch stellte sich dann allmählich ein Gefühl von innerer Ruhe ein.
Obwohl ich drei Jahre lang in Höhlen gesessen und versucht hatte herauszufinden, wie man meditiert, nahmen meine Ängste und Panikattacken aber schließlich derart zu, dass man im Westen bei mir wohl eine ausgewachsene Angstneurose diagnostiziert hätte. Eine Weile erhielt ich einige informelle Anleitungen von meinem Großvater, einem großen Meditationsmeister, der es vorzog, über seine Verwirklichungen zu schweigen; doch dann nahm ich allen Mut zusammen und bat meine Mutter, sich an meinen Vater Tulku Urgyen Rinpoche zu wenden und ihm meine Bitte vorzutragen, ganz offiziell bei ihm lernen zu dürfen. Mein Vater willigte ein und unterwies mich in den folgenden drei Jahren in verschiedenen Meditationsmethoden.
Zunächst begriff ich nicht sehr viel. Ich versuchte, meinen Geist so zur Ruhe zu bringen, wie er es lehrte, aber mein Geist wollte nicht zur Ruhe kommen. Tatsache ist, dass ich in diesen ersten Jahren formaler Schulung feststellen musste, dass ich noch zerstreuter und abgelenkter war als zuvor. Mich ärgerte alles Mögliche: körperliches Unbehagen, Geräusche im Hintergrund, Konflikte mit anderen Leuten. Erst Jahre später wurde mir klar, dass ich mich gar nicht verschlechtert hatte; ich wurde nur einfach des ständigen inneren Gedankenstroms und der Empfindungen gewahr, die mir zuvor gar nicht speziell zu Bewusstsein gekommen waren. Nachdem ich gesehen habe, wie andere Menschen den gleichen Prozess durchmachten, weiß ich jetzt, dass dies eine allgemein übliche Erfahrung bei Leuten ist, die gerade erst lernen, wie man den eigenen Geist mithilfe der Meditation erforscht.
Obwohl ich kurze Momente der inneren Ruhe und Stille zu erfahren begann, suchten mich nach wie vor Furcht und Angst gleichsam wie Hungergeister heim – vor allem da ich alle paar Monate nach Indien ins Kloster Sherab Ling geschickt wurde, um dort inmitten von mir unvertrauten Mitschülern unter neuen Lehrern zu studieren. (Sherab Ling ist die Hauptresidenz des Zwölften Tai Situ Rinpoche, eines der größten heute lebenden Meister des tibetischen Buddhismus und einer meiner einflussreichsten Lehrer. Seine große Weisheit und Güte bei der Führung und Anleitung meiner eigenen Entwicklung bedeuten für mich eine Dankesschuld, die ich nie begleichen kann.) Anschließend wurde ich wieder nach Nepal geschickt, um meine Ausbildung unter der Anleitung meines Vaters fortzusetzen. So vergingen fast drei Jahre, in denen ich zwischen Indien und Nepal hin und her pendelte und formale Unterweisungen von meinem Vater und meinen Lehrern in Sherab Ling erhielt.
Einer der schrecklichsten Momente begab sich kurz vor meinem zwölften Geburtstag, als ich zu einem ganz speziellen Zweck nach Sherab Ling geschickt wurde. Es war ein Anlass, vor dem ich mich schon seit langer Zeit gefürchtet hatte – ich sollte als die Inkarnation des ersten Yongey Mingyur Rinpoche zeremoniell inthronisiert werden. Hunderte von Menschen wohnten dieser Zeremonie bei, und ich nahm stundenlang ihre Geschenke entgegen und erteilte ihnen Segen, so als wäre ich jemand wirklich Wichtiges und nicht nur ein schrecklich verängstigter zwölfjähriger Junge. Mit der Zeit wurde ich so bleich, dass mein neben mir stehender älterer Bruder Tsoknyi Rinpoche dachte, ich würde ohnmächtig werden.
Wenn ich auf diese Zeit und all die Güte zurückblicke, die mir von Lehrern erwiesen wurde, dann frage ich mich, wie ich denn dermaßen von Angst erfüllt gewesen sein konnte, wie es damals der Fall war. Im Nachhinein kann ich sehen, dass die Basis für meine Angst in der Tatsache zu finden war, dass ich die wahre Natur meines Geistes noch nicht wirklich erkannt hatte. Ich verfügte über ein grundlegendes intellektuelles Verständnis, aber nicht über die Art von direkter Erfahrung, die mich hätte erkennen lassen können, dass alle Angst, aller Schrecken oder alles Unbehagen, das ich empfand, ein Produkt meines eigenen Geistes war und dass mir die unerschütterliche Basis von heiterer Gelassenheit, Vertrauen, Zuversicht und Glück näher war als meine Augen.
Zeitgleich mit dem Beginn meiner formalen buddhistischen Ausbildung und Schulung ereignete sich noch etwas Wunderbares. Damals war es mir noch nicht klar, doch diese Wendung der Ereignisse sollte einen dauerhaften Einfluss auf mein Leben nehmen und meine persönliche Entwicklung beschleunigen. Ich wurde nach und nach in die Gedankenwelt und in die Entdeckungen der modernen Wissenschaft eingeführt – vor allem in den Bereich, der sich dem Studium der Natur und Funktion des Gehirns widmet.
EINE BEGEGNUNG AUF
GEISTIGER EBENE
Wir müssen uns erst hinsetzen, den
Geist erforschen und unsere Erfah-
rungen untersuchen, um zu sehen, was
hier wirklich vor sich geht.
Kalu Rinpoche: Den Pfad des Buddha gehen
Ich war noch ein Kind, als ich dem Biologen Francisco Varela begegnete, einem gebürtigen Chilenen, der später einer der berühmtesten Neurowissenschaftler des 20. Jahrhunderts werden sollte. Francisco war nach Nepal gekommen, um unter Anleitung meines Vaters – dessen Ruf eine ziemlich große Schar westlicher Schüler angezogen hatte – die buddhistischen Methoden zur Untersuchung und Schulung des Geistes zu studieren. Wenn wir nicht studierten oder praktizierten, sprach Francisco mit mir oft über die moderne Wissenschaft, vor allem über sein persönliches Spezialgebiet, die Struktur und Funktion des Gehirns. Natürlich achtete er darauf, seine Lektionen so zu halten, dass sie für einen neunjährigen Jungen verständlich waren. Als andere westliche Schüler meines Vaters mein wissenschaftliches Interesse bemerkten, begannen auch sie mir das beizubringen, was sie über die modernen Theorien in den Bereichen von Biologie, Psychologie, Chemie und Physik wussten. Es war ein bisschen so, als würde ich zwei Sprachen zugleich lernen: einerseits den Buddhismus, andererseits die moderne Wissenschaft.
Ich weiß noch, dass ich schon damals dachte, dass zwischen beiden anscheinend kein großer Unterschied besteht. Die Worte und Begriffe waren verschieden,...