Die SYMBIOSE UND DEREN SYMBIONTEN
Erfolgsmodell Mensch dank Bauchhirn und Bakterienflora mit Schwarmintelligenz
Angenommen wir würden wir uns auf die Größe eines tausendstel Millimeters verkleinern lassen können und verschluckt in einer Kapsel die Magensäure überstehen, und dann ab dem Duodenum durch den Darm wandern, so würden wir auf unserer Reise eine vollkommen fremdartige Welt betreten, in der wir vom Mund bis zum After tausendmal mehr Bakterien begegnen, als es zurzeit Menschen auf unserem Planeten Erde gibt.
Vor ihrer Entdeckung vor über hundert Jahren befand sich die damalige Zellularpathologie, aus der später die heutige »moderne« Medizin erwachsen sollte, noch auf einem ganz anderen »Dampfer«. Denn man vertrat damals die Meinung, dass bei vielen Erkrankungen Bakterien, wenn sie schon nicht immer in erster Reihe standen, zumindest in der zweiten Linie der Krankheitsauslöser zu suchen waren. Somit meinte man auch endlich den Hauptfeind aller Erkrankungen erkannt zu haben – die Bakterien.
Wie groß muss wohl die Ernüchterung gewesen sein, als Japaner in den Fünfzigerjahren des letzten Jahrhunderts zu der Erkenntnis gelangten, dass eine unübersehbar große Anzahl ebendieser Bakterien in unserem Darm keine für den Menschen krankmachenden Eigenschaften haben, sondern hauptsächlich für unsere Gesundheit mit verantwortlich sind?
Ja, sie kämpfen sogar gegen Vertreter ihrer eigenen Spezies, wenn diese auf der »bösen« Seite stehen (das heißt etwa, wenn körperfremde Bakterien in einem Milieu die Oberhand zu gewinnen drohen), und sie haben einen enorm großen Anteil daran, wenn »wir« mal wieder den Sieg über eine Erkrankung davongetragen haben. Die weitreichende Bedeutung des »Zusammenlebens« mit diesen Bakterien in einer harmonischen und symbiontischen Beziehung mit dem Bauchhirn erkannte man allerdings erst in jüngster Zeit, und man darf gespannt darauf sein, was sie in Zukunft noch für uns bereithalten werden (die Begriffe »Symbiose« und »symbiontisch« stammen von den griechischen Wörtern sýn für »gemeinsam, zusammen« und bíos für »Leben«).
Betrachtet man das Bauchhirn und seine Billionen Helferlein in Form von Bakterien als einen Superorganismus, bietet es sich an, einen Vergleich mit dem Internet zu wagen. Dazu ist es sinnvoll, wenn wir einmal der Auffassung des Kybernetikers Francis Heylighen von der Vrije-Universität in Brüssel folgen, der das Internet und seine Nutzer als einen Superorganismus ansieht.
Vereinfacht ausgedrückt, verbindet das Internet dezentral verstreutes Wissen der Menschheit und ermöglicht es dadurch wie nie zuvor, kollektive Intelligenz auszuwerten und zu nutzen. Wenn man so will, ist dies auch eine der Hauptaufgaben des Bauchhirns: Dezentral verstreutes Wissen wird gespeichert und koordiniert, um es im Bedarfsfall schnellstens zur Verfügung stellen zu können.
Ein klassisches Beispiel liefert auch der Ameisenstaat. Eine einzelne Ameise hat ein sehr begrenztes, aber dennoch sehr funktionelles Verhaltens- und Reaktionsrepertoire. Im selbstorganisierenden Zusammenspiel ergeben sich jedoch Verhaltens- und Reaktionsmuster mit Ergebnissen, die aus unserer Sicht als durchaus »intelligent« bezeichnet werden können.
Bestimmte Aspekte dieser »Intelligenz« bei einer Ameisenkolonie – zum Beispiel diverse Abläufe während der Nahrungssuche – können in mathematische Formeln gefasst und somit auch über Computerprogramme nachempfunden werden.
Die einzelnen Mitglieder Staaten bildender Insekten agieren mit stark eingeschränkter Autonomie wie unsere Darmbakterien auch, wobei alles in der Erfüllung der Aufgaben jedoch ausgesprochen zielgerichtet ist. Die Gesamtheit solcher Gesellschaften, wie bei Bienen, Ameisen oder Termiten, ist überaus leistungsfähig, was auf eine besonders hochgradig entwickelte Form der Selbstorganisation schließen lässt. Zur Kommunikation untereinander nutzen Ameisen beispielsweise Hormone wie Pheromone; das Bauchhirn wiederum benutzt dazu Neurotransmitter wie das Serotonin. Dass beispielsweise ein Bienenvolk in seiner Gesamtheit als ein Organismus aufgefasst wird, spiegelt sich unter anderem in der Bezeichnung »der Bien« wider, die in der Fachsprache synonym für den Superorganismus verwendet wird.
Festzustellen ist damit wieder einmal, dass das Ganze oft mehr als die Summe seiner Teile darstellt.
Das Bauchhirn und seine unzählingen Helferlein, die »Bakterienflora«, bilden ein bis ins Kleinste ausgeklügeltes System interner Art, während das Internet als Superorganismus externer Art verstanden werden kann. Da der Vergleich in gewisser Hinsicht auch mit einem Ameisenstaat oder Bienenvolk funktioniert, könnte man also etwas kühn schlussfolgern, dass die Natur im Laufe der Evolution bei der Entwicklung des Ameisenstaats oder ähnlicher »Modelle« erfolgreich einen Testlauf gestartet hat, den sie dann in Form des Bauchhirns mit seiner Bakterienflora in ihrer Erfolgsklasse »Säugetier« weiter ausprobiert und schließlich dem noch in Arbeit befindlichen Modell »Mensch« serienmäßig eingebaut hat.
Genau genommen, baut der menschliche Superorganismus auf kleinste Individuen von Fremdkeimen mit »Migrationshintergrund« auf, denen es über viele Generationen hinweg gelungen ist, eng mit dem Bauchhirn zu kooperieren. So wird eine symbiontische Einheit gebildet: ein Zusammenleben zu beiderseitigem Nutzen.
Das Netzwerk der Kommunikationskanäle, das diese Individuen miteinander verbindet, stellt in unserem Falle das Nervengeflecht des Bauchhirns dar. Der Schwarm (damit sind die Bakterien gemeint) ersetzt das Netzwerk (Bauchhirn) dabei also nicht, sondern bildet nur »das Volk im Staat«. Übertragen auf das Internet, könnte man also die Bakterien als »User« und das Bauchhirn selbst als die »Informationsinfrastruktur« bezeichnen.
Daher dürften sie einen weit größeren Einfluss auf unser Leben haben als bisher angenommen – auch wenn es ursprünglich fremde Zellen sind, die im Laufe der Evolution zu unserem Wohl durch die Natur in den Verdauungstrakt »eingeschleust« wurden. Diese »Fremdzellen« ermöglichen erst die verschiedensten Stoffwechselvorgänge, ohne die wir in unserer heutigen Form überhaupt nicht existieren würden.
Um unsere Lebensfähigkeit, wie wir sie kennen und lieben, in voller Gesundheit aufrechterhalten zu können, müssen die ältesten Lebewesen dieser Erde, die Milliarden von Jahren alten Bakterien, mit dem jüngsten Lebewesen, dem in dieser Form gerade mal seit rund 100 000 Jahren existierenden Menschen, optimal zusammenarbeiten.
Ohne jede Form einer zentralisierten Oberaufsicht ist das Bauchhirn also ein eigenständiger Superorganismus mit Abermillionen kleinen Helferlein, die jedes für sich allein genaugenommen als null intelligent zu bezeichnen wären. Das einzelne Bakterium ist als Einzellebewesen und als Teil eines größeren Ganzen mit niedriger Reizschwelle zu bezeichnen, das allerdings in der Gesamtheit als Schwarm auftretend zu einer perfekt funktionierenden Superintelligenz wird. Die Quantität entspricht in diesem Fall also gleichzeitig auch der Qualität.
Viel größere Aufgaben können so schnell bewältigt, viel stärkere Feinde besiegt werden. Das kann uns in der symbiotischen Beziehung mit unseren Darmbakterien sehr zum Vorteil gereichen, etwa wenn wir durch Fremdattacken von Giften, Bakterien oder Viren schnellstens Hilfe benötigen. Die Fähigkeit von Bakterien, sich weitgehend auf neue Situationen einstellen zu können, hat aber leider auch gravierende Nachteile für uns. Das kann man an der wachsenden Resistenzfähigkeit von Eindringlingen erkennen, die ehemals hilfreiche Medikamente in ihrer Wirkung zunehmend gerade mal zu Milchzucker degradieren. Wie man am Beispiel Antibiotika sehen kann, werden körperfremde Bakterien durch selbstständig erlernte Gegenmaßnahmen und sogar Kooperationen mit Viren immer überlebensfähiger und dadurch für uns dauerhaft auch zur sehr großen Gefahr. Je mehr wir die bösartigen Bakterien vernichten wollen, umso mehr trainieren wir sie zu wahrhaften Überlebenskünstlern heran. Und dieser Vorgang wird zu unseren Ungunsten auch noch forciert, wenn wir bei jedem kleinen Wehwehchen gleich zu Antibiotika greifen, also mit Kanonen auf Spatzen schießen. Immer weniger dieser Medikamente für schwerere Krankheiten greifen noch dort an, wofür sie gedacht sind. Meistens vernichten sie sogar mehr eigene Hilfskräfte als feindliche – friendly fire (etwa »freundlicher Beschuss«) wird so etwas zynisch im Militärjargon genannt.
Eine australische Studie konnte unlängst nachweisen, dass die Zahl der Milchsäurebakterien in der Darmflora bei erhöhtem Stress stark zurückgeht. Dadurch, so die Studienautoren, kommt es zu einer Schädigung der Darmflora, die dem Bild einer häufigen Antibiotikaeinnahme gleicht. Das wiederum beeinflusst auch entscheidend die körpereigene Abwehr. Hier ist ebenso der Kausalzusammenhang von Stress und Krankheit zu erkennen, über den sich schon längst alle klar waren, bei dem aber niemand so recht wusste, warum er bestand. Immerhin sind ja drei...