Das Herz öffnen
Unser Herz ist nicht nur ein lebenswichtiges Körperorgan. Im übertragenen Sinne bezeichnet das Wort »Herz« einen Seelenraum, den Ort, an dem das Wesen eines Menschen aufgehoben und zu Hause ist. Im Buddhismus sprechen wir von »Herzensqualitäten«, die oft ganz oder teilweise verschüttet sind, die wir aber durch die Herzmeditation befreien können.
IM HERZEN EIN ZUHAUSE FINDEN
»Was schmerzt die Seele am meisten?«, hat der persische Mystiker Rumi gefragt. Auf diese Frage könnten wir viele verschiedene Antworten finden! Bei all dem Leiden und der Verzweiflung, die uns in diesen von Flucht und Terror geprägten Zeiten begegnen, fallen uns unzählige Schmerzen ein. Denken wir über all das Unrecht nach, fühlen wir uns schnell hilflos und überwältigt.
Doch Rumi hat seine Frage ganz einfach und allumfassend zugleich beantwortet: »Am meisten schmerzt es, leben zu müssen, ohne das Wasser der eigenen Essenz zu kosten.« Rumis Frage ist groß, seine Weisheit zeitlos. Denn ebenso wie vor tausend Jahren sehnen sich die Menschen auch heute danach, zu ihren innersten Quellen vorzudringen und ein Leben im Einklang mit sich selbst zu führen, um auf diese Weise »das Wasser der eigenen Essenz zu kosten«.
Die Antwort des alten Meisters lässt sich auch noch konkreter fassen. Wenn Sie dem Nachklang dieser Antwort in Ihrem eigenen Herzen lauschen, fragen Sie sich vielleicht: »Was ist meine Aufgabe in diesem Leben? Wie kann ich die Wunden meiner Vergangenheit heilen und Frieden finden? Wie kann ich meine Angst verlieren vor Trennung, Krankheit und Tod?« Der Impuls, ein Buch über Meditation zu lesen, entspringt vielleicht auch bei Ihnen einem Herzenswunsch. Möchten Sie mehr Zeiten der Stille in Ihr Leben bringen und Ihre inneren Empfindungen genauer erfassen? Möchten Sie wichtigen Lebenszielen eine bessere Chance zur Verwirklichung einräumen? Wie oft sagen Menschen, die nur noch kurze Zeit zu leben haben: »Hätte ich doch …!« Und sie zählen auf, was sie vermissen: intensiver in der Gegenwart leben, öfter auf das Herz hören, sich mehr Zeit lassen für Familie und Freunde.
»Ich komme einfach nicht zur Ruhe«, sagt eine junge Frau, »ich habe alles, was ich brauche, und doch spüre ich ein Streben weg von hier – mein ganzes Leben lang habe ich das Gefühl, in ständiger Alarmbereitschaft, ja, auf der Flucht zu sein.« Ankommen an einem geschützten Ort – zu Hause sein in sich selbst: Alle Menschen wünschen sich diesen Ruhepol, dieses Verankert-Sein im eigenen Seelenkern, im Herzen. Sie wünschen sich Momente des Einklangs mit sich selbst, in denen Terminkalender und Alltagssorgen bedeutungslos sind. Sie möchten einfach nur da sein können, spüren, was ist, und damit vollauf zufrieden sein. Das gelingt, wenn wir von Herzen »Ja« sagen können zu unserem Leben – dann schmecken wir unsere eigene Essenz.
DAS HERZ – EIN SEELENORGAN
Die mittelalterliche Mystikerin Hildegard von Bingen nannte das Herz das Haus der Seele. Auch der Philosoph Blaise Pascal war überzeugt: Es ist das Herz, das Gott erfährt, nicht der Verstand. Ein lebendiger Kontakt zum Herzen hat persönlich und gesellschaftlich herausragende Bedeutung. Alle Urvölker auf unserem Planeten haben auf ihre Weise eine heilsame Verbindung zum eigenen Herzen gesucht und gepflegt. Denn sie haben das Herz intuitiv als ein wahrnehmendes Seelenorgan verstanden. In allen Weltreligionen ist das Herz das Organ der Anteilnahme, des Mitgefühls: Jesus trauert über die Verhärtung der Herzen, und Buddha lehrte sinngemäß: Vom Herzen gehen die Dinge aus, sind herzgeboren, herzgefügt.
Leider ist uns in der heutigen Zeit die Verbindung mit unserem Herzen weitgehend verloren gegangen. Wir wissen zwar, was es heißt, sein Herz zu verschenken, ein Herz und eine Seele zu sein, etwas auf Herz und Nieren zu prüfen, sein Herz zu erleichtern oder es auf der Zunge zu tragen. Wir kennen ein kaltes Herz, ein schweres Herz, ein Herz, das vor Aufregung laut klopft oder uns bei Angst in die Hose sackt. Manchmal fassen wir uns ein Herz oder fühlen uns im Herzen getroffen. Doch im Alltag hören wir kaum auf unser Herz, etwa wenn es uns zuruft: »Streng dich nicht so an, gönn dir mehr Ruhe.« Leider finden unsere Herzensbedürfnisse oft erst Gehör, wenn das Herz krank ist und uns Kummer bereitet. Dann erst entsteht ein Verständnis dafür, dass wir Einfluss nehmen können auf unseren Bluthochdruck, auf Herzrhythmusstörungen oder das Herzinfarktrisiko.
DEM HERZEN MEHR AUFMERKSAMKEIT SCHENKEN
Besser ist es, ein solches Verständnis von vornherein aufzubauen und dem Herzen mehr Aufmerksamkeit zu schenken. Die Herzmeditation hilft Ihnen dabei, denn Ihre Prinzipien – achtsame Selbstfürsorge und ein ausgeprägtes Wohlwollen für alles Leben – wirken wie Balsam für das gestresste Herz. Das gilt für das im medizinischen Sinne kranke Herz ebenso wie für das anteilnehmende, mitfühlende Seelenorgan. Das belegen heute auch die Forschungen der Neurowissenschaften: Körperlicher Schmerz und psychischer Schmerz bilden sich in den gleichen neuronalen Netzwerken und fühlen sich auch ganz ähnlich an. Demnach können sie auch auf gleiche Weise beeinflusst werden.
ZWIESPRACHE MIT DEM HERZEN BEGINNEN
Sie haben sicher auch schon beobachtet, dass Menschen, die von einem Ereignis tief berührt sind, sich die Hand auf das Herz legen. Wenn Sie diese Geste nachahmen, lenken Sie damit Ihre Aufmerksamkeit zu Ihren Herzensbedürfnissen. So können Sie üben, die Sprache Ihres Herzens zu verstehen und im Dialog mit Ihrem Herzen neue Wege zu gehen. Die Herzmeditation wird Ihnen in den kommenden Kapiteln viele konkrete Anleitungen dafür geben, denn im wörtlichen Sinne führen Sie einen Dialog mit dem eigenen Herzen (siehe >). Sie müssen aber nicht erst das ganze Buch lesen, um in diese Zwiesprache mit Ihrem Herzen eintreten zu können. Mit der folgenden Übung gelingt Ihnen bereits ein erster Einstieg: Halten Sie inne und spüren Sie zu Ihrem Herzen hin.
ÜBUNG
Hand aufs Herz
Legen Sie dieses Buch für einige Minuten zur Seite und setzen Sie sich bequem auf einen Stuhl oder ein Sofa. Sie können die Übung auch im Liegen durchführen. Legen Sie dann sachte eine Hand auf Ihr Herz. Sie können dabei auch gerne die Augen schließen.
Versuchen Sie, die Berührung, die Wärme Ihrer Hand und Ihren Atemrhythmus im Herzraum bewusst zu spüren.
Wie fühlt es sich an, auf diese Weise zum Herzen hin zu lauschen? Vielleicht nehmen Sie ein inneres Aufatmen wahr, eine Entspannung im Bauchraum?
Probieren Sie, zu Ihrem Herzen zu sagen: »Mein liebes Herz, wie geht es dir? Ich möchte dir Aufmerksamkeit schenken und spüren, was dich bewegt.«
Wiederholen Sie diese Übung, sooft Sie möchten. Sie können sie auch durchführen, während Sie am Schreibtisch vor dem Computer sitzen oder auf dem Weg zum Einkaufen sind. »Hand aufs Herz« bedeutet, einen Moment innezuhalten und einen bewussten Kontakt mit Ihrem Herzen aufzunehmen.
HINWENDUNG ZU SICH SELBST
Vielleicht ist es Ihnen nicht ganz leicht gefallen, sich auf die Übung einzulassen. Das liegt daran, dass wir uns oft erst die Erlaubnis geben müssen, zum eigenen Herzen hinzuhören und Herzensbedürfnissen mehr Raum zu geben. Ganz anders als ein Kind, das seine Gefühle und Bedürfnisse noch spontan zum Ausdruck bringen kann: Es weint, wenn es nicht genügend Aufmerksamkeit bekommt oder sich verletzt hat. Es schreit vor Wut, wenn ihm etwas nicht passt. Schritt um Schritt lernt es dann, seine Gefühle zu kontrollieren und sich anzupassen an den Umgangston in der Familie und die Gepflogenheiten seines weiteren Umfelds. Und so wie unsere Eltern mit uns als Kinder umgegangen sind, so gehen wir nun als erwachsene Menschen mit uns selbst um: Wer von seinen Eltern bestraft wurde, wenn er seiner Wut freien Lauf ließ, der wird auch als Erwachsener seine Wut verstecken und verdrängen. Wenn Eltern ein Kind und seine Bedürfnisse ernst nehmen, dann gelingt es ihm später als erwachsene Person, gut für sich zu sorgen. Da Eltern in der Regel nicht perfekt sind, mangelt es uns oft an Selbstmitgefühl und Akzeptanz. Teilnehmerinnen und Teilnehmer aus unseren Meditationskursen antworten auf die Frage: »Wenn ich mehr auf mein Herz hören würde, dann …
würde ich mehr tanzen,
öfter innehalten,
eindeutiger »Nein« und eindeutiger »Ja« sagen,
mehr genießen, was ich habe,
nachsichtiger mit mir selbst sein,
mehr Freiheit erfahren,
authentischer leben.
Mit der Herzmeditation nähern wir uns liebevoll und behutsam den lang verborgenen Gefühlen in uns und entdecken all die Wärme und Zärtlichkeit, die bereits in uns wohnt. Wir stoßen aber auch auf unsere Enttäuschungen und Ängste, die wir im Herzen eingeschlossen haben und die verhindern, dass die Herzensenergie frei fließen kann. Wir heilen unser Herz, indem wir den Geschichten, die zu unseren Verletzungen gehören, mitfühlend lauschen. Wir kommen zur Ruhe, indem wir unsere Erfahrungen akzeptieren, so wie wir sie als Kind und Heranwachsende empfunden haben. Das ist der Beginn einer wunderbaren Freundschaft mit uns selbst.
Bevor wir uns den Wirkungen der Herzmeditation intensiver widmen, wollen wir uns zunächst gemeinsam ansehen, was genau die Herzmeditation eigentlich ist und woher sie kommt.
WAS IST DIE HERZMEDITATION?
Durch Meditation lernen wir eine bewusste Wahrnehmung zu entwickeln für das, was im jetzigen Moment gerade geschieht. Dazu müssen wir...