Der Spätberufene: Lange Lehrjahre zwischen den Kontinenten
Berlin 1930: Geburt einer Legende
Eine Sensation erwartete niemand an diesem Winterabend im Hamburger Studio des Norddeutschen Rundfunks, aber ein interessantes Konzert, getragen von der Inspiration dreier hochmotivierter junger Talente. Ganz unbekannt waren die Solisten nicht mehr: Irene Güdel hatte als Cellistin und Lehrerin bereits einen Namen und auch der 21-jährige Oboist Heinz Holliger hatte bereits Beweise seines Ausnahmetalents bei internationalen Auftritten geliefert. Die Reihe Podium der Jungen des Norddeutschen Rundfunks bot drei Künstlern, wie vielen anderen in den 21 Konzerten zuvor, die Chance, mit einem namhaften Orchester zu arbeiten, Erfahrungen zu sammeln, über den Rundfunk eine große Zahl von Hörern zu erreichen und ein bisschen Geld zu verdienen.
Bliebe noch der dritte im Bunde, der Gastdirigent: ein großer, hagerer, junger, ja jugendlich wirkender Mann. Vielleicht hätte man ihn mit seiner Ausstrahlung, den feinen Gesichtszügen, seinem offenen, sinnlichen Blick auf Anfang zwanzig geschätzt, sicher nicht auf dreißig, blendend aussehend dazu. Um diesen Dirigenten, der außerhalb des Podiums noch eine Brille und einen ordentlichen Scheitel trug, bemühte sich eine ältere Dame – seine Mutter, in der Branche eine Frau mit Einfluss. Als diese am 7. Dezember 1960 fotografierte, wie ihr Sohn zum Dirigentenpult schritt, war dieser noch ein unbeschriebenes Blatt. Dass die Musiker trotzdem gespannter waren als sonst, hatte einen Grund, der dem jungen Dirigenten manch schlaflose Nacht bereitete. Sein Name war nämlich Kleiber, Carlos Kleiber, der Sohn des großen, des genialen Erich, an den man sich auch in Hamburg lebhaft erinnerte. Noch wurde Carlos vor allem als der Sohn seines Vaters gehandelt, für viele der bedeutendste Vertreter seiner Zunft in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Paradoxerweise hemmten die Emigration, seine lebenslang konsequente, korruptionsferne und aufrechte Art, dann seine Ost-Berliner Episode und der frühe Tod Erich Kleibers angemessenen Nachruhm. Es ist leicht vorstellbar, was dies alles für seinen Sohn Carlos, seine Persönlichkeit, sein Selbstbewusstsein und seinen Ehrgeiz bedeutete. Doch Carlos schickte sich an, mit eisernem Willen und extrem hohen Ansprüchen an sich selbst aus dem Schatten des Übervaters zu treten. 1960 war der vier Jahre zuvor verstorbene Vater das Maß für ihn und für andere. Carlos, der gerade ernsthaft seine Laufbahn als Dirigent in Angriff nahm, musste hinnehmen, dass wer auch über ihn schrieb, dies nicht tat, ohne in Ehrfurcht des Vaters zu gedenken und den Sohn mit dem Vater zu vergleichen.
In der Spielzeit 1959/60 hatte Carlos Kleiber mit Gastspielen und seinem ersten Dirigat an der Deutschen Oper am Rhein einen wichtigen Schritt auf dem Weg zum Kapellmeister geschafft. In Hamburg leitete er sein erstes bekanntes Konzert mit für ihn zeitlebens untypischem Repertoire. Nie wieder sollte er später Manuel de Falla oder Bohuslav Martin?, geschweige denn Komponisten wie Georg Philipp Telemann oder Carl Philipp Emmanuel Bach dirigieren. Dieses Konzert geriet kurioserweise im Nachhinein zur Sensation, letztendlich auch wegen des Interviews in der Pause, das Carlos Kleiber gab. Später bemühten sich Journalisten weltweit vergeblich, ihm nur ein paar Worte abzuringen. Dem NDR erschien einst weder das Konzert noch das zumindest privat erhaltene Interview archivwürdig. Wenngleich nur für wenige Minuten, so hört man ihn doch einmal über sich, seine Arbeit und seinen Vater sprechen. Solche Originaltöne gibt es ansonsten nur von autorisierten und heimlichen Probenmitschnitten.
Kindheit und Jugend Carlos Kleibers verbergen sich, von einigen gut inszenierten Ausnahmen abgesehen, hinter den schützenden Mauern, die Erich Kleiber wie viele Prominente sich und seiner Familie verordnete. Carlos selbst brachte kaum Licht ins Dunkel. Indem er sich gegenüber Presse und Öffentlichkeit verweigerte, ließ er wenig über sein Leben und seine Privatsphäre nach außen dringen. Wer ihn kannte, hütete sich meist, indiskret zu werden. Denn der eigenwillige Maestro war ebenso genial wie unberechenbar. In der Presse waren fast immer falsche Informationen zu finden. Er sei in Argentinien geboren, erzählte Carlos beispielsweise manchmal im Scherz. Viele glaubten ihm. Allerdings antwortete er 1960 auf die Frage bei dem Interview des Norddeutschen Rundfunks: »Wo sind Sie geboren?« – »In Berlin.« Und auf die Frage »30 Jahre alt, ja?« entgegnete Kleiber spontan und kurz »Jawohl!«
Carlos Kleiber, zwei Jahre jünger als seine am 28. März 1928 geborene Schwester Veronika, war das zweite Kind von Erich Kleiber, seit 1923 Generalmusikdirektor der Staatsoper Unter den Linden, und der Kalifornierin Ruth Goodrich. Er wurde in Berlin-Dahlem am 3. Juli 1930 geboren. Musiker sucht man unter den Ahnen vergeblich. Die Vorfahren väterlicherseits entstammten dem slawischen Volk der Wenden, das zwischen Elbe und Oder siedelte, seine eigene Sprache hatte und seit dem 16. Jahrhundert seine ununterbrochene und ganz eigene literarische und volksmusikalische Tradition besaß. Carlos Kleibers Urgroßvater aus der väterlichen Linie verdiente seinen Lebensunterhalt als Schulmeister, und sein Sohn, Franz Otto Kleiber, folgte seinen Spuren. Er war mit vierzehn Jahren aus Sachsen ins Wendisch-Katholische Priesterseminar nach Prag gekommen, beschloss jedoch nach dem Tod seiner Eltern, nicht den geistlichen, sondern den Beruf seines Vaters zu ergreifen, unterrichtete Griechisch, Latein, Deutsch und brachte es zum Doktor der Philosophie. Seine Studien machten ihn zu einer »bekannten Figur in der Bibliothèque Nationale in Paris und an der Wiener Hofbibliothek«, wie Erich-Kleiber-Biograf John Russell vermerkt. 1888 heiratete Franz Otto Kleiber Veronika Schöppl, Tochter des in Prag beliebten kaiserlichen Hof-Wagenmachers Johannes Schöppl, mit der er nach Wien übersiedelte. Wenngleich sich Franz Otto gemäß des ererbten Talents der Pädagogik und Philosophie verschrieben hatte, spielte er wie einst sein Vater ausgezeichnet Klavier und Orgel. Er liebte es, »daheim zu singen«. So kam die mit etwas Verspätung aufblühende musikalische Begabung des Erich Franz Otto, der am 5. August 1890 in der Wiener Kettenbrückengasse, gegenüber dem Sterbehaus Schuberts das Licht der Welt erblickte, nicht von ungefähr. Dessen Sohn Carlos sollte wie der Großvater viel Zeit in Bibliotheken mit intensivsten wissenschaftlichen Studien zubringen. Intellektualität, extremer Fleiß und Hartnäckigkeit gehörten zu den Tugenden, die er von seinen Vorfahren erbte und mit dem Willen zur tiefsten Wahrhaftigkeit und Perfektion in die Musik einfließen ließ. Wien bescherte den Kleibers allerdings kein Glück. Erichs Eltern starben bald, und er kehrte für eine Interimszeit mit seiner ein Jahr älteren Schwester Elisabeth nach Prag zurück. Prag bedeutete viel für das musikalische Empfinden des Jungen. Dort lernte er die Folklore in ihren ursprünglichen Ausprägungen und zugleich in ihrer von Komponisten wie Dvo?ák und Smetana verarbeiteten Form kennen und lieben. Dass Erich Kleiber die Musik zu seinem Beruf machen würde, kristallisierte sich zwar erst im fortgeschrittenen jugendlichen Alter heraus, mit 22 Jahren aber hatte er schon den Posten eines Kapellmeisters in Darmstadt inne.
Carlos musste sich später weitaus länger als sein Vater gedulden, obwohl seine Herkunft und sein Talent ideal schienen für eine zeitige und fruchtbare musikalische Entwicklung. Zwangsläufig war diese nicht und sein Weg nie vorgezeichnet, wie man im Rückblick einem umjubelten Weltstar gerne nachsagt. Weder nahm sich Erich Kleiber vor, seinen Sohn zum Wunderkind zu erziehen, noch ignorierte er die beachtlichen Risiken. Es war nicht allein die Sorge, ob diesen ein unsicheres Künstlerdasein ernähren würde. Er war scharfsinnig und einfühlsam genug, um von Carlos Entschlusskraft und den Beweis für besonderes Talent zu fordern. Eines, das ihn dazu befähigte, seinem Vater ebenbürtig zu werden. Dass er es besaß, erkannte nicht nur sein Vater. Erich Kleiber, der anfangs die musikalischen Ambitionen seines Sohnes misstrauisch beäugte, bekannte schließlich gegenüber seinem Freund, dem Musikpublizisten Karl Heinz Ruppel: »Du wirst lachen, der Bub hat Talent.« Carlos war wohl bewusst, dass sein Vater stolz auf ihn war. Über sein eigenes Talent war er sich bei allen Selbstzweifeln immer im Klaren. Das ließ ihn auch die Genialität des Vaters erkennen, die sein Maßstab wurde.
Seine kalifornische Frau Ruth lernte Erich Kleiber 1926 in Buenos Aires während seines ersten Südamerika-Aufenthalts kennen. Der Dirigent hatte das Publikum mit dem Orchester des Teatro Colón nach einigen umjubelten Konzerten im Sturm erobert. Am 12. September besuchte Mrs. Ruth Goodrich mit dem deutschen Botschafter Günter Henle eine Probe vor dem Konzert am Abend. Kleiber lud die junge amerikanische Botschaftsangestellte über Henle spontan zum Essen ein. Am nächsten Tag kritzelte er ihr auf die Rückseite einer Speisekarte den Grundriss seiner Berliner Wohnung und schaffte es, ihr mit seinem defizitären Englisch einen Heiratsantrag zu machen. Der erste Kuss folgte am 18. September während einer Flussfahrt auf dem Tigre. Mrs. Ruth Goodrich, durchaus beeindruckt von dem außergewöhnlichen Mann, sagte erst einmal höflich und im Geiste unverbindlich »Ja«. Für Kleiber aber war damit die Sache perfekt. Er organisierte Überfahrt und Umzug, überschüttete sie fürsorglich mit allen Annehmlichkeiten, baute für sie ein »unzerstörbares Traumland« auf, an dessen Beständigkeit sie zusehends zu glauben begann. »›Erdbeeren mit Sahne zu jeder Mahlzeit‹, dachte sie bei...