Ein Bulle sieht rot
Hatte Costa-Gavras die Schauplätze seiner Filme gegen Faschismus, Stalinismus und US-Imperialismus in Griechenland, der Tschechoslowakei und Uruguay angesiedelt, so ist Yves Boisset der erste, der das System des Polit-Thrillers auf die nationale Situation Frankreichs anwendet. Nicht zufällig thematisiert er 1970 die Gesetzlosigkeit einer Polizei, die den Machtmißbrauch der als korrupt angesehenen Führungsschicht brutal durchsetzt und ihrerseits durch die Politiker in ihrem Vorgehen gedeckt wird.
Direkt nach den Ereignissen des Mai 1968 konzipiert, in einer Zeit, in der zudem über ungeklärte Todesfälle in Untersuchungsgefängnissen und Foltermethoden bei Polizeiverhören berichtet wird (vgl. »Der Spiegel« Nr. 129/1971), bricht UN CONDE (»Ein Bulle sieht rot«, Frankreich/Italien 1970) mit einem von der Zensur bislang wohlgehüteten Tabu.
Die Handlung des Films folgt dem gleichnamigen Roman von Pierre Vial Lesou. Die Gangster Dan und Viletti wollen den Tod ihres Freundes Roger d’Assas rächen, der für den »Mandarin« Tavernier in seiner Bar kein Rauschgift mehr verkaufen wollte und deshalb von dessen Männern ermordet wurde. Es gelingt ihnen, Tavernier und seinen Buchhalter zu erschießen. Zufällig sind Favenin, der ›Condé‹ (Polizeibeamter im Argot) und Kommissar Barnéro am Tatort. Sie sehen die Täter für die Liquidierung Taverniers eher als »Wohltäter der Menschheit« an und nehmen nur zum Schein eine Verfolgung auf. Viletti erschießt dabei Barnéro, was Dan zu verhindern sucht. Favenin erhält die uneingeschränkte Leitung der Ermittlungen, die zum Rachefeldzug gegen den Mörder des Freundes werden. Im Alleingang tötet er einen Freund Dans und fingiert Beweise für diesen Mord gegen einen Dritten, den er damit erpreßt. Zeugen prügelt er brutal, um sie zu Aussagen zu zwingen. Er verhaftet Dan, obwohl er mittlerweile weiß, daß es Viletti war, der geschossen hat. Schließlich tötet er diesen und lastet die Tat den Leuten Taverniers an. Dan wird für den Polizistenmord, den er nicht begangen hat, zu einer Gefängnisstrafe verurteilt. Später bricht er aus dem Gefängnis aus, um sich an Favenin zu rächen, wird dabei allerdings von der Polizei, die darauf vorbereitet war, erschossen. Der Condé hat mittlerweile beim Staatsanwalt gegen sich selbst Anzeige erstattet und die Vorgänge wahrheitsgemäß zu Protokoll gegeben. Ein Ermittlungsverfahren wird gegen ihn eingeleitet.
Nach der Ära der Vater- und Heldenfiguren – die Entlarvung des sadistischen Bürokraten. Michel Bouquet als Favenin
Boisset knüpft an Jean-Pierre Melvilles bis zur historischen Figur des François Vidocq (1775–1857) zurückreichenden Mythos der Parallelität zwischen Polizisten und Gangstern an, der er jedoch eine völlig neue Qualität verleiht.
Lesou hatte Favenin in seinem Roman noch die Züge des positiven, am amerikanischen Vorbild orientierten Helden verliehen: 36 Jahre alt, groß, mit atlethischer Figur, vital, blondes Haar. In Boissets Film hingegen gibt ihm Michel Bouquet Aussehen und Charakter eines verkniffenen Buchhalters mit machiavellistischem Machtverständnis und zynischer Gewalttätigkeit.
Tavernier betreibt ein Import-Export-Geschäft mit China und Spielclubs, hinter deren Fassade er den Rauschgifthandel organisiert. Aus der Algerienzeit hat er Freunde, die hohe politische Posten bekleiden, ihn schützen und von seinem Geld profitieren. Er selbst rechnet damit, in absehbarer Zeit Abgeordneter zu werden. In dieser Nebenrolle ist mit knappen Strichen jener Typus eines Geschäftsmannes und Politikers vorgeprägt, der in den 70er Jahren im französischen Kriminalfilm als Täterfigur oder graue Eminenz in den Mittelpunkt rückt.
Dan und Viletti verkörpern die klassischen Gangster in der Tradition Beckers und Melvilles, die bei allem ungesetzlichen Tun die Moral ihrer Freundschaft und Kameradschaft geradlinig aufrechterhalten. Ihre Rache üben sie logisch nachvollziehbar, ungeschützt und auf eigene Gefahr aus. Konsequenzen und Bestrafung kalkulieren sie bewußt ein. Den Kodex dieser Moral kann Favenin nicht in Anspruch nehmen. Ihm geht es keinen Moment lang darum, den Täter der demokratisch begründeten Instanz der Justiz zuzuführen, was seine verfassungsmäßig definierte Aufgabe wäre. Wie Dan und Viletti will er Rache, ohne jedoch die juristisch logischen Folgen einzubeziehen. Seine persönlichen Machenschaften umhüllt er mit der Amtsautorität, gedeckt durch die Hierarchie, die ihrerseits wiederum durch Politiker exculpiert wird, die ihre ureigenen Interessen kultivieren.
Voraussetzung für ein Funktionieren dieses Korruptionssystems ist die Unangreifbarkeit der Polizei gegenüber der Öffentlichkeit. Favenin repräsentiert den Typ des faschistischen Polizisten, der für die Ordnungsmacht unumschränkte Gewalt einfordert, hinter deren staatstragender Fassade jedoch jede Willkür geduldet wird. Daß er aus disziplinarischen Gründen bereits einmal strafversetzt wurde und sich am Ende einem Ermittlungsverfahren zu stellen hat, liegt keineswegs in seinen Handlungen begründet, sondern allein in der Tatsache, daß diese nicht mehr zu vertuschen waren.
Welch radikalen Neuansatz Boisset und sein Hauptdarsteller Bouquet in den französischen Kriminalfilm einbringen, zeigt deutlich der Vergleich mit Georges Lautners LE PACHA (»Der Bulle«, Frankreich/Italien 1967). Mit den gleichen Mitteln wie der ›Condé‹ rächt hier Kommissar Joss seinen ebenfalls von Gangstern getöteten Freund. Das Prinzip beider Geschichten ist das gleiche, ihre Ideologie jedoch ist diametral entgegengesetzt. Lautners Joss spielt Jean Gabin, dessen legendäres Image allein genügt, seine Rolle zu der des positiven Helden, der Identifikationsfigur zu stilisieren. Rechtsbeugungen und Gesetzesübertretungen erscheinen hier als Zorn eines Gerechten, der illegale Mittel anwendet, die der Zweck allemal heiligt.
Boisset respektiert die grundlegenden Gesetze des Kriminalfilms, wie sie Lautner als Epigone anwendet, kehrt jedoch ihre Aussage um. Die Zensur nimmt Anstoß an einzelnen Repliken des Dialoges und an der brutalen Verhörszene, der Innenminister verbietet die Aufführung. Was letztendlich bei der Kritik Skandal erregt, ist in Verbindung mit dem Bruch eines Tabus die populäre Form des Films, wie sie Boisset interpretiert: »… Bei uns existiert eine solch intellektuelle, außerordentlich schwerfällige Tradition, erdrückend, daß viele sich schämen, für das große Publikum zu arbeiten. Das ist sogar sehr seltsam im Fall der linken oder linksintellektuellen Cinéasten: sie wollen eben für die Arbeiterklasse Filme machen, die jedoch absolut undurchdringlich sind. Sie sind Sklaven einer literarischen Tradition. Ich meine, daß man in dieser aktuellen Stunde nur Filme machen sollte, die im ersten Angang verständlich sind, unmittelbar zu dechiffrieren, verankert in für das Publikum leicht zugänglichen Genres, und daß die Aussage oder die Frage, die man dem Publikum vorlegt, über ein leicht zu konsumierendes Schauspiel vermittelt werden muß.«[52]
Boisset hat mit UN CONDÉ einer Umwertung der gesellschaftlichen Rolle der Polizei im Kriminalfilm den Weg geebnet. In Jean-Pierre Mockys L’ALBATROS (»Der Albatros«, Frankreich 1971) tötet der Held in Notwehr einen Polizisten, als er in einem Polizeirevier mißhandelt wird. Auch hier sind die Ordnungshüter als Werkzeuge korrupter Politiker dargestellt. NADA (»Nada«, Claude Chabrol, Frankreich/Italien 1973) stellt den Staatsterrorismus, dessen ausführendes Organ die Polizei ist, auf eine Ebene mit den Aktionen einer Gruppe von Terroristen.
Die zwei Inspektoren in PLUS ÇA VA, MOINS ÇA VA (»Kommissar hoch zwei«, Regie: Michel Vianey, Frankreich 1977) tragen ihre faschistischen und rassistischen Ideologien offen zur Schau.
LA GUERRE DES POLICES (»Der Polizeikrieg«, Regie: Robin Davis, Frankreich 1979) stellt den mörderischen Konkurrenzkampf zwischen zwei unterschiedlichen Dienststellen der Pariser Polizei, der ›brigade territoriale‹ und der ›brigade anti-gang‹, in den Mittelpunkt, hinter dem die Verbrechensbekämpfung völlig ihre Bedeutung verliert.
In UNE ROBE NOIRE POUR UN TUEUR (»Eine schwarze Robe für den Mörder«, Regie: José Giovanni, Frankreich 1980) gelingt es der Anwältin Florence Nat, Beweise für die Unschuld eines zum Tode Verurteilten, Simon, beizubringen. Da diese jedoch die Polizei selbst und hochrangige Persönlichkeiten des öffentlichen Lebens belasten würden, sorgt eine Sonderkommission dafür, daß Florence und Simon keine Gelegenheit erhalten, die Wahrheit zu verbreiten.
Ein knappes Jahrzehnt nach dem CONDÉ modifiziert Boisset selbst sein Bild der Polizistenfigur, das inzwischen auch in Nebenrollen oft zum Klischee verkommen ist. »Es stimmt also, daß ich mich entwickelt habe, daß ich von ›alle Bullen sind Dreckskerle‹ über ›vielleicht ist es doch nicht so einfach‹ schließlich zu dem Gedanken gekommen bin, daß es nicht die Individuen sind, die sich als pervers erweisen, sondern der Gebrauch, den man von ihnen macht.«[53]
In LA FEMME FLIC (»Die Polizistin«, Frankreich 1979) zeigt er, »… wie eine ehrenwerte und sensible Frau im Inneren der Institution ihren Beruf als Polizistin nicht ehrenwert ausüben kann. Das Problem liegt also nicht mehr auf der Ebene des...