Wo die Angst ist, geht es lang
Wie jeden Donnerstag saßen wir zur blauen Stunde in der Towerbar und schlürften unsere Cocktails. Gisela hatte ihre Pina Colada fast ausgetrunken. Susannes Strohhalm steckte in einer Bloody Mary. Ich saß vor einem Caipirinha. Gisela, die in zwei Monaten 50 wurde, seufzte: »Je älter ich werde, um so schneller rennt mir die Zeit davon. Wahnsinn. Ich wollte noch so viel machen.«
Ich überlegte: »Stimmt, ich auch.« Ich war gerade 48 geworden.
Wir kannten uns seit Schultagen und wohnten keine 30 Kilometer voneinander entfernt. Irgendwann hatten wir uns vorgenommen, unsere Verbindung bewußt zu pflegen, und als erstes unser wöchentliches Treffen in der Towerbar ins Leben gerufen. Aber wir wollten auch irgend etwas Aktives machen. Der in unserem Alter unweigerlich drohenden Arteriosklerose, Osteoporose, eventuell auch Altersdemenz, Krampfadern und nicht zuletzt einer fülligeren Figur davonlaufen.
Susanne, mit zarten 47 unser Nesthäkchen, war Single und kinderlos geblieben und betrieb sehr erfolgreich ein Grafik-Design-Studio. Sie schlug gerade vor: »Wir könnten ja einmal die Woche zusammen joggen gehen.« Susanne sah aus wie zur Schulzeit, nur etwas älter. Ihr langes blondes Haar hing wie früher offen auf ihre Schultern, und ihre Statur war noch zierlich wie eh und je.
»Joggen! Wie langweilig!« rief Gisela aus. »Das ist doch keine Herausforderung.« Sie war schon ziemlich in die Breite gegangen und hatte ein unbändiges Nachholbedürfnis. Gisela war 24 Jahre hinterm Kochtopf versauert. Sie hatte ihren Mann, den Hubert, vor zwei Jahren kurz vor der Silberhochzeit verlassen, nachdem ihre beiden Söhne aus dem Haus waren. Hubert hatte nämlich ein Verhältnis mit einer Studentin angefangen. Er hatte nicht damit gerechnet, daß Gisela ernst machen würde. Seit sie weg war, war er ein Häufchen Elend. Drei Monate war Gisela durch die Hölle gegangen. Dann hatte sie sich berappelt, eine Therapie angefangen und gesagt: »Das richtige Alter, die Ärmel aufzukrempeln und noch mal neu durchzustarten.« Heute führte sie einen kleinen Laden, in dem sie Lederwaren verkaufte. Hauptsächlich sehr ausgefallene, witzige Handtaschen. Sie hatte sich die Haare abschneiden und rot färben lassen, sah zehn Jahre jünger aus und strotzte nur so vor Energie. »Was Besseres hätte mir nicht passieren können«, sagte sie heute.
»Meine schlimmste Lebenskrise war meine größte Chance.«
»Wir könnten uns auch im Fitneßstudio anmelden«, schlug ich vor.
»Blöd«, maulte Gisela.
»Was haltet ihr denn von Trommeln?« fragte ich hoffnungsvoll. »Oder Bauchtanz? Wir könnten auch Flamenco lernen oder Lambada.«
»Käse!« rief Gisela. »Dann können wir ja gleich in die Toskana töpfern fahren. Das machen nur alte Frauen. Dafür ist es mit 70 auch noch früh genug.«
»Vielleicht könnten wir Yoga machen?« versuchte Susanne einen Vorschlag einzubringen. »Mit Yoga und Meditation zu unserer Mitte finden und dadurch mehr Ausstrahlung gewinnen. Darauf kommt es doch in unserem Alter an. Außerdem ist Yoga extrem sportlich.«
»Ätzend! Wenn ihr jetzt schon so schlaff seid, werdet ihr früh vergreisen«, posaunte Gisela.
»Und wenn ihr mal mit zum Malen kommt?« fragte ich.
Ich hatte mit 45 angefangen zu malen. Hätte ich nicht so konservative Eltern gehabt, wäre ich nämlich Künstlerin geworden. Aber früher bekam ich ständig zu hören: »Lern was Ordentliches.« So studierte ich Pädagogik und ging in die Erwachsenenbildung an die örtliche Volkshochschule, wo ich Verwaltungsarbeit machte und Kurse für Frauen gab.
Ich war die einzige von uns, die noch in einer Beziehung lebte. Mit dem Vater meiner zehnjährigen Tochter. Doch in immer kürzeren Abständen dachte ich ernsthaft darüber nach, ob ich mich nicht trennen sollte. Ein Mann im Haus war einfach eine Zumutung, die man sich als gestandene Frau nicht antun mußte. Genaugenommen nahm ich nur noch Rücksicht auf meine Tochter.
Vor drei Jahren hatte ich begonnen, Ölbilder zu malen und sogar schon mal ein Bild verkauft. Darauf war ich mächtig stolz.
»Das ist ja nichts Sportliches«, nölte Gisela.
Jetzt hatte ich langsam die Nase voll. »Dann schlag gefälligst selbst was vor«, sagte ich beleidigt und beschloß, ab sofort zu schweigen. Gisela konnte man wohl gar nichts recht machen.
Nun bekam Susanne verträumte Augen. »Soll ich euch mal sagen, was ich in diesem Leben so gerne noch tun möchte?«
Da waren wir aber gespannt.
»Und? Was ist es denn?«
Susanne sagte mit einem sehnsuchtsvollen Seufzer: »Ich habe schon als Kind davon geträumt, reiten zu lernen. Aber mein Vater fand das zu gefährlich. Außerdem war nie genug Geld dafür da. Dann habe ich es vor mir hergeschoben, und jetzt ist es wohl zu spät.«
»Pferde sind ziemlich groß und haben ihre Tücken«, gab ich zu bedenken.
»Soll ich euch auch mal etwas sagen?« fragte Gisela plötzlich wie ausgewechselt. »Kindheitsträume nimmt man nicht mit ins Grab. Ich finde, wir sollten tatsächlich noch reiten lernen. Mir geht es nämlich genauso wie Susanne. Reiten ist eine unerfüllte Sehnsucht, die ich mit mir herumschleppe. Und wir sind genau im richtigen Alter. Reif, besonnen und biologisch 20 Jahre jünger als unsere Mütter in diesem Alter. Außerdem haben wir alle Angst vorm Reiten.« Sie war richtig euphorisch geworden.
»Allerdings!« bestätigten wir leicht irritiert.
»Wo die Angst ist, geht es lang«, erklärte Gisela und sah triumphierend in die Runde.
»Hm.« Mehr fiel mir zu dieser Logik nicht ein.
»Überlegt doch mal. Wollen wir am Ende unseres Lebens Bilanz ziehen und sagen, es gab tausend Sachen, die wir gerne gemacht hätten? Haben wir aber nicht! Was meint ihr, wie unglaublich unzufrieden das macht. Nichts ist häßlicher als ein frustriertes altes Gesicht. Wollt ihr das?«
»Natürlich nicht.«
Susanne sagte jetzt begeistert: »Ich habe neulich im Heimatboten gelesen, daß die Reitanlage Hufeisen ›Hausfrauenreiten mit Moni‹ für Frauen in jedem Alter anbietet.«
»Es gibt doch keine Zufälle«, rief Gisela aus. »Hausfrauenreiten mit Moni! Wenn der Schüler bereit ist, kommt der Lehrer! Da kannst du mal sehen.«
Mir ging das ein bißchen zu schnell. Aber ehe ich mich’s versah, war ich überstimmt. Und widersprechen wollte ich jetzt auch nicht.
»Ich jedenfalls habe in meiner Therapie gelernt, auf meine innere Stimme zu hören. Meine Intuition sagt mir, wo es langgeht«, schloß Gisela das Thema ab.
»Wir gucken uns das Hausfrauenreiten einmal an«, sagte Susanne. »Und dann sehen wir weiter.«
Irgendwie fühlte ich mich überrumpelt. Ich konnte mir nicht im allerentferntesten vorstellen, was es mir bringen könnte, mich mit viel zu großen und unberechenbaren Tieren zu konfrontieren. Da könnte ich ja gleich in den Serengeti-Nationalpark fahren und mich einem Rudel Löwen vor die Zähne schmeißen. Oder einen Nashornbullen reizen. Blöde Logik! Mußte man in der Menopause ausgerechnet reiten lernen? Gisela und Susanne ignorierten die Tatsache, daß es Dinge gab, für die man mit Ende 40 einfach schon zu alt war.
»Jeder Altersabschnitt hat seine eigenen Entwicklungsaufgaben. Ich weiß nicht, ob Klimakterium und Reiten …«, versuchte ich die zwei noch mal umzustimmen, aber sie fielen mir ins Wort:
»Du bist doch ’ne Powerfrau. Wer Lambada lernen kann, kann auch auf ein Pferd steigen. Powerfrauen kneifen nicht!«
Was sollte ich tun? Für Gisela und Susanne war das Hausfrauenreiten wohl längst beschlossene Sache.
»Was ziehen wir denn an?« überlegten sie.
»Erst mal Jeans und Gummistiefel würde ich sagen.«
Gisela breitete begeistert die Arme aus, als wir aus dem Auto stiegen.
»Ihr seid klasse! Super, daß ihr da seid«, rief sie. »Wenn das der Hubert sähe, der würde sich in die Hose machen.«
Ich hatte meinen gelben Friesennerz an und die Gummistiefel, die ich immer zum Wattwandern anzog. Susanne kam in Bergsteigerstiefeln und weitgeschnittenen Jeans. Nur die perfektionistische Gisela hatte ihren üppigen Po in eine schwarze Reithose gezwängt und schwarze Gummireitstiefel übergezogen.
»Bist ja schon professionell eingekleidet«, sagte ich und dachte: Typisch!
»Klar doch«, strahlte Gisela.
»So enge Stiefel sind nicht gut für die Beindurchblutung«, meinte Susanne pragmatisch.
»Denk an deine Krampfadern.«
»Ich habe Stützstrümpfe drunter«, wischte Gisela Susannes Bedenken vom Tisch.
Wir gingen in einen Raum, über dem »Reitercasino« stand. Dort saß eine junge Frau, die ich auf etwa 30 schätzte. Die war im richtigen Alter.
»Machen Sie auch beim Hausfrauenreiten mit?« fragte sie, und ich hatte das Gefühl, ich würde von Kopf bis Fuß skeptisch gemustert.
»Mal sehen«, erwiderte ich kurz angebunden. Mir schlotterten schon die Knie, und ich spürte einen Kloß im Hals.
»Auf jeden Fall«, antwortete Gisela für uns. Da wurde die Tür aufgerissen, und eine schlanke, drahtige Frau in Reitklamotten kam ins Casino.
»Einen wunderschönen guten Morgen«, sagte sie. »Ich bin die Moni!«
Gott, war die forsch. Mir war schon ganz schlecht.
»Sie wollen alle beim Hausfrauenreiten mitmachen? Wundervoll!« nahm sie unsere Antwort vorweg.
Ich brachte geistesgegenwärtig mit gepreßter Stimme hervor: »Wir können aber nicht reiten. Und sportlich sind wir auch nicht. Also, ich hab noch nie in meinem Leben auf einem Pferd...